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Da ohne
Tradition und mit schwacher Identität, hat Berlin wie keine andere
Stadt die Kräfte des 20. Jahrhunderts absorbiert: erst Monarchie,
Weltkrieg und Revolte, dann Faschismus, Stalinismus und Kalter Krieg,
schließlich die Auflösung der Ost-West-Konfrontation. Die unbeabsichtigten
Nebenwirkungen von politischem, ökonomischem und militärischem
Handeln prägten die Stadt. Was Berlin Gestalt gab, waren keine Idealpläne
und kein organisches Wachstum. Denn im sich wiederholenden Prozess des
Erfindens, Zerstörens und Aufbauens gingen die ursprünglichen
Intentionen aller großen Pläne bald verloren. Was Berlin geformt
hat, war vielmehr ein automatischer Urbanismus. Wie bei einer mehrfach
belichteten Fotografie treten aus der Überlagerung verschiedener
Motive neue Figuren hervor. Die einander entgegengesetzten Kräfte
erzeugen bis heute ungeplante Strukturen und Aktivitäten, urbane
Phänomene jenseits der Kategorien von Städtebau und Architektur.
Genau dies ist die Eigenart von Berlin.
Berlin
ist eine Stadt der Extreme, eine Stadt ohne Mittelgrund. Ihre unstete
Entwicklung wechselt zwischen rasendem Tempo und lähmendem Stillstand.
Als verspätete Metropole vollzieht sie in kürzester Zeit, was
anderswo Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauert, um anschließend wieder
zu erstarren. Episoden von Euphorie folgen Depressionen: vom Jubel beim
Ausbruch des Ersten Weltkriegs zur Niederlage, vom Rausch der zwanziger
Jahre zur Weltwirtschaftskrise, von der Machtergreifung der Nationalsozialisten
zur Kapitulation, von der Freude über den Mauerfall zur Ernüchterung
der neunziger Jahre.
In seiner
Wurzellosigkeit schwankt Berlin zwischen nüchternem Pragmatismus
und radikaler Ideologie. Ob Industrialisierung oder Historismus, Modernität
oder Totalitarismus, Nationalismus oder Kosmopolitismus, Kalter Krieg
oder Modernisierung, Massenkultur oder Rebellion: In der Hauptstadt der
Ideologien greifen diese ungehemmter um sich als anderswo. Durch die Gleichzeitigkeit
des Gegensätzlichen entwickelt sich die Stadt zu einem Vektorraum,
in dem jedes Regime die Koordinaten, Richtungen und Zentren aufs Neue
verschiebt, wie es die Geschichte der Berliner Monumente und Magistralen
zeigt.[ 1 ] Gerade weil Berlin stets neuen Ordnungen unterworfen
wurde, ist die Stadt ein Manifest von Paradoxien, Transformationen und
Instabilitäten.
Der extremen
Ideologisierung entgegengesetzt ist der radikale Pragmatismus. Aufgrund
fehlender kultureller Kontinuität hat die Stadt gerade bei den abrupten
Wachstumsschüben des 19. und 20. Jahrhunderts nur geringe Gestaltungskraft
und formenden Widerstand aufgebracht. Diese Haltung erwies sich als Schwäche
und Stärke; als Schwäche, weil das neu Entstehende nicht in
einen Kontext eingebunden wurde; als Stärke, weil die Stadt eine
enorme Vitalität und Offenheit für das Kommende entfaltete.
Nach 1900 sah man Berlin als ein 'Amerika im Kleinformat', als ein 'Chicago
an der Spree'.[ 2 ] 'Berlin konnte und mußte sich amerikanisieren, weil es
an der Entfaltung des wirtschaftlichen Materialismus durch tief wurzelnde
Traditionen nicht verhindert wurde, weil es auf dem östlichen Boden
seit Jahrhunderten eine Pionierstadt war, ähnlich den Städten
der neuen Welt'[ 3 ], schrieb
Karl Scheffler 1910 in seinem großen Essay 'Berlin - ein Stadtschicksal'.
Mit der
Rede von der Pionierstadt spricht Scheffler die periphere Lage Berlins
an. Es lag über Jahrhunderte am Rande der deutschen Kulturzone, in
einer unwirtlichen, dünn besiedelten Landschaft an der Grenze zum
erst spät kolonisierten Osten.[
4 ] Noch heute ist die Stadt eine inselhafte Agglomeration in der
kaum bevölkerten Mark Brandenburg. Sie ähnelt damit eher einer
Stadt in der Prärie oder Wüste wie Calgary oder Las Vegas als
einem Knoten in einer urbanisierten Stadtregion wie Paris, London oder
Frankfurt am Main. Berlin liegt abseits des europäischen Wirtschaftskorridors,
der sich zwischen London und Mailand erstreckt, am Rande zu Mittel- und
Osteuropa.
Berlin
ist eine Einwandererstadt, die nicht aus sich selbst heraus gewachsen
ist, sondern durch den Zustrom von Menschen aus entfernten Gegenden. Am
Ende des 17. Jahrhunderts erstarkte es aufgrund der aktiven Anwerbungspolitik
Friedrich Wilhelms I., der die Hugenotten aus Frankreich, aber auch Dänen,
Holländer, Schotten, Böhmen und Juden willkommen hieß.
Im 19. Jahrhundert war es vor allem der Zuzug von Schlesiern, Polen und
Russen, darunter vielen Juden, die Berlin zu einer Millionenstadt werden
ließen. Der englische Schriftsteller Stephen Spender nannte Berlin
'eine Stadt, in der Tradition ein Witz war.' Und in Bezug auf die zwanziger
Jahre des letzten Jahrhunderts schrieb er: 'In dieser Stadt ohne allen
Stil und Tradition war man sich klar darüber, daß jeder von
einem Tag auf den anderen wieder beim Punkt Null anfängt. Die Stärke
der Berliner bestand darin, daß sie ein vollkommen neues Leben anfangen
konnten - denn es konnte sowieso niemand groß auf etwas davor zurückgreifen.'[
5 ]
Aufgrund
politischer Ereignisse hat sich diese Wurzellosigkeit der Bevölkerung
bis heute fortgesetzt. Die Nationalsozialisten ermordeten und vertrieben
Hunderttausende aus der Stadt und mit ihnen auch den Großteil der
kulturellen Eliten. Mit Ende des Zweiten Weltkriegs erreichte die Flüchtlingswelle
aus dem Osten die Stadt. Bis zum Mauerbau setzte sich die Fluktuation
von Osten nach Westen fort. Während der Teilung verließen zwei
Drittel der Westberliner die Stadt, während fast ebenso viele Neubürger
aus dem Westen zuwanderten. Seit der Umwälzung von 1989 ziehen jährlich
über 100000 Menschen aus dem 'Neuen Berlin' fort, während andere
von der neuen alten Hauptstadt angezogen werden.
Wie schon
früher verstehen sie sich oft als Pioniere. 'Berlin schmeckte nach
Zukunft und dafür nahm man den Dreck und die Kälte gerne in
Kauf', schrieb Carl Zuckmayer über das Berlin vor 1933.[ 6 ] Trotz seines geschichtlichen
Ballasts zieht es auch heute die Menschen wieder an, da es hier noch keine
etablierten Strukturen gibt. So kam der legendäre Partyveranstalter
Cookie 1992 nach Berlin, weil 'alles offen war; es war hier nicht so niedlich
und sauber.'[ 7 ] Und für
den Modemacher Jürgen Frisch ist Berlin der 'einzige Ort, der in
Frage kam, da er in Hinsicht auf Mode eine Wüste ist.'[
8 ]
Dank seiner
exzentrischen Lage ist es bereit für das Exzentrische. Die städtische
Formlosigkeit birgt 'Spielraum für unbegrenzte Möglichkeiten'.[
9 ] Berlin ist ein Experiment ohne Hypothese. Multiple Identitäten
ermöglichen es, das 'Andere' zu absorbieren. Diese Offenheit geht
allerdings mit Hässlichkeit einher. Die Stadt ist direkt, bar jeder
Gefälligkeit. Sie ruft immer wieder Ablehnung hervor. Ihr fehlt ein
Selbstbewusstsein, ein gelassener Umgang mit sich selbst. Sie erscheint
wie der Körper eines Masochisten, der sich stets aufs Neue dem Missbrauch,
der Zerstörung, Demütigung und Gewalt aussetzt.
So gut
wie unbekannt ist in Berlin der Mittelgrund kultivierter Artikulation.
Was sich hier äußert, ist entweder extrem kontrolliert oder
von vulgärer Unmittelbarkeit. Auf diesem mentalen Terrain entstanden
die Formen und Verhaltensweisen der Kälte: die Nüchternheit
der Neuen Sachlichkeit, der starre Neoklassizismus der Nationalsozialisten,
die ordinäre Härte des Punk, die maschinelle Rigidität
des Techno. Spätestens der Erste Weltkrieg machte die Kälte
zum Thema von Berlin, ein Gefühl des Unbehaustseins angesichts von
Verlust und Leerheit. [ 10 ] Auch die meisten Bauten der neunziger Jahre charakterisiert
der erwähnte Mangel kultivierter Artikulation; sie sind entweder
extrem kontrolliert oder extrem ordinär.
Berlin
ist hässlich, aber intensiv. Seine Qualitäten waren niemals
intendiert. Es gibt keine einzige Idee, kein einziges Konzept, keine einzige
Geometrie, welche diese Stadt als ganze charakterisieren könnten.
Berlin ist der Prototyp einer Stadt, wo das Gegensätzliche koexistiert.
Der Filmemacher Wim Wenders sieht Berlin als eine Stadt, die 'dadurch
wach hält, dass man nicht wie in anderen Städten in ein geschlossenes
System hereinkommt, sondern ständig gerüttelt wird.' [
11 ]
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Fussnoten :
[ 1 ] Siehe Alexander Moers: Ein Denkmalasyl in Berlin, Diplomarbeit
am Fachbereich Architektur der Technischen Universität Berlin, Unveröffentlichtes
Typoskript, Berlin 2000
[ 2 ] Beispielhaft die Aussprüche des Kunsthändlers Herwarth
Halden, des Politikers Walther Rathenau oder des Schriftstellers Kurt
Tucholsky
[ 3 ] Karl Scheffler: Berlin - ein Stadtschicksal, Berlin 1910, Reprint
1989, S. 118 f.
[ 4 ] Erwin Anton Gutkind: Urban Development, International History
of City Development, Bd. 1, Central Europe, London 1964, S. 418 ff.
[ 5 ] Stephen Spender: European Witness, London 1946, zitiert nach
Ian Buruma. Lettre International, Winter 1998, S. 37
[ 6 ] Zuckmayer, Carl: Als wär's ein Stück von mir. Horen
der Freundschaft, Wien 1996, S. 313 f.
[ 7 ] Cookie, in: Children of Berlin. Voices, Katalog der Ausstellung
des P.S.1 New York, Berlin 1999, S. 16
[ 8 ] Ebenda, S. 20
[ 9 ] Karl Scheffler, wie Anm. 3, S. 19
[ 10 ] Helmut Lethen hat das Phänomen der Kälte in Anlehnung
an den Anthropologen Helmuth Plessner beschrieben. Siehe Helmut Lethen:
Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen,
Frankfurt am Main 1994, S. 75 ff.
[ 11 ] Wim Wenders: The Act of Seeing. Essays, Reden und Gespräche,
Frankfurt am Main 1992, S. 147 |