|
Im Prozess
der Zivilisation ist der Mensch immer wieder mit dem Entstehen von Neuem
konfrontiert, das seinen Werten widerspricht. Der französische Soziologe
Georges Bataille prägte in einem Artikel für das von ihm konzipierte
'Kritische Lexikon' den Begriff des Formlosen, nicht als die Bezeichnung
einer Eigenschaft oder eines Konzeptes, sondern als eine Operation der
Deklassierung im doppelten Sinne von Herabsetzung und Auflösung einer
Klassifizierung, das heißt einer taxonomischen Ordnung.[ 1 ] Das Formlose ist das Ausgegrenzte. Es bezeichnet das, was sich
unserem üblichen Denkrahmen entzieht, was wir nicht einordnen können
und gemeinhin als minderwertig erachten. Das Formlose entsteht ohne Absicht
als Resultat von Prozessen. Die Formen sind nur vorübergehende Kristallisationen
in einem sich stets wandelnden Feld. Als solche können die beschriebenen
Phänomene von Konglomerat, Zerstörung, Leere, Temporärem,
Kollision, Doppelung, Simulation, Masse und Stoffwechsel gesehen werden.
Dabei artikuliert sich in Berlin nur radikaler, was die Entwicklung der
zeitgenössischen Stadt im Allgemeinen kennzeichnet. Bereits vor dreißig
Jahren schrieb der Gestalter Otl Aicher: 'Ist der Gestaltbegriff noch
brauchbar, wenn man Strukturen, Kraftfelder, Prozesse, Verhalten, Bezugslinien,
Tendenzen, Wachstum, Impulse, Antriebe, Beziehungen und Kräfte bestimmen
will? Man könnte vielleicht mit einer dynamischen Gestalt im Gegensatz
zu einer überlieferten statischen Gestalt weiterkommen. Aber die
gibt es nicht. Dynamische Gestalt ist in jedem Moment neu und löst
sich in jedem Augenblick auf. Genauso aber ist die heutige Stadt. Sie
läßt sich nicht mehr planen im Sinne einer endgültigen
Gestalt, sie läßt sich nur noch steuern. Sie hat nicht einmal
ein Ziel. Niemand weiß, wo der Wachstumsprozeß unserer urbanen
Zivilisation aufhören und wo er enden wird.'[
2 ]
Die Stadt
ist ein ständiges Werden. Sie führt ein Eigenleben. Wir müssen
ihre Dynamik anerkennen und neue Möglichkeiten innerhalb dieses Territoriums
finden. Dies befreit uns von der Verpflichtung, die Stadt zu entwerfen,
und zwingt uns zugleich, das Modell der Stadt neu zu denken. Der Berliner
Soziologe Georg Simmel sah bereits in den zwanziger Jahren die Großstadt
'als eines jener großen historischen Gebilde, in denen sich die
entgegengesetzten, das Leben umfassenden Strömungen wie zu gleichen
Rechten zusammenfinden und entfalten. Indem solche Mächte in die
Wurzel wie in die Krone des ganzen geschichtlichen Lebens eingewachsen
sind, dem wir in dem flüchtigen Dasein einer Zelle angehören,
ist unsere Aufgabe nicht, anzuklagen oder zu verzeihen, sondern allein
zu verstehen.'[ 3 ]
In der
Geschichte der Stadt war die Urbanisierung weniger geplantes Produkt als
vielmehr Resultat eines generativen Prozesses der Zivilisation. Erst mit
der Moderne entwickelte sich die Illusion von absoluter Kontrolle und
Planbarkeit aller Lebensumstände. Doch heute ist das Städtische
instabiler als je zuvor. Während früher die dominanten Kräfte
der Stadtentwicklung oft über Jahrhunderte andauerten, haben sie
seit dem 19. Jahrhundert in zunehmend schnellerer Folge gewechselt. Zugleich
haben sich die Einflüsse multipliziert. Städte sind heute nicht
nur lokalen und regionalen, sondern auch globalen Faktoren unterworfen.
Aufgrund der Reduktion von Transportkosten sowie der Schaffung weltweiter
Kommunikationsnetze und Märkte für Waren, Arbeit und Finanzkapital
werden ortsgebundene Organisationsformen zunehmend durch raumüberbrückende
Zusammenhänge abgelöst. Entscheidungen können sich unmittelbar
und gleichzeitig an einer Vielheit von Orten auswirken. [
4 ] Durch diese Enträumlichung sozialer Systeme - von Soziologen
zuweilen als 'Entbettung' bezeichnet - überlagern sich im realen
Raum eine Vielzahl heterogener Einflüsse, die teils nach wie vor
ortsbezogen sind und sich teils aus entlegenen Quellen ableiten. Vorhandenen
Nutzungen folgen in mehreren Zyklen weitere Programme, während sich
die primären Aktivitäten im Niedergang befinden oder transformiert
werden. Um derartige Entwicklungsabfolgen und Wechselwirkungen zu beschreiben,
haben Stadtgeographen anstelle klassischer Standorttheorien evolutionäre
Modelle erarbeitet.[ 5 ]
Mit ihnen kann die Reorganisation der Standortgefüge untersucht werden.
Zum einen wird die bauliche Umwelt kontinuierlich transformiert; zum anderen
werden ältere Bebauungen im Kontext sich ändernder Bedingungen
reinterpretiert und durch neue Formen der Raumnutzung aktualisiert.
Die Neukonzipierung
des Urbanen ist für Rem Koolhaas 'vermutlich unkontrollierbar und
ähnelt eher einer künstlichen Natur als etwas bewußt von
uns Geschaffenem. In Europa findet eine grundlegende Neustrukturierung,
eine neue, zweite Phase der Modernisierung statt.'[
6 ] Die Stadt ist hierbei nur der sichtbarste Teil der Veränderungen
innerhalb der Gesellschaft. Soziologen wie Ulrich Beck, Scott Lash und
Anthony Giddens sprechen von einer 'Zweiten Moderne' im Sinne einer Modernisierung
der Moderne. Sie sehen hierin eine 'Radikalisierung der Moderne, welche
die Prämissen und Konturen der Industriegesellschaft auflöst
und Wege in andere Modernen - oder Gegenmodernen - eröffnet. Dies
geschieht keineswegs notwendig reflektiert oder gar geplant, gewußt
und gewollt, als Ergebnis strategischen Handelns, sondern eher unreflektiert,
ungewollt, mit unabschätzbaren Konsequenzen.'[ 7 ]
Die Modernisierung
gleicht einem Fahrzeug, das von einem Autopiloten gesteuert wird. Obgleich
jedes einzelne Teil dieses Fahrzeugs vom Menschen gestaltet ist, kann
seine Richtung nur schwer beeinflusst werden. Die Antriebsmechanismen
werden stets umgebaut, was die Fahrtrichtung ändert; das Ziel ist
unbekannt. Eigentlich gibt es gar kein Ziel, sondern lediglich eine Fahrt,
welche die Teilnehmer an unbekannten Orten vorbeiführt ohne innezuhalten.
Die Folgen
einzelner Handlungen lassen sich nicht überblicken. Nebenfolgen können
auf die Handlungsgrundlagen rückwirken; unbeabsichtigte Konsequenzen
können die ursprünglichen Intentionen unterlaufen. So wird unsere
Zeit als eine Phase reflexiver Modernisierung interpretiert, in der die
Auswirkungen der Industriegesellschaft deren staatliche, ökonomische
und soziale Institutionen untergraben. Für Anthony Giddens ist die
Gegenwart 'gekennzeichnet durch 'hergestellte Unsicherheit'. Unser Leben
ist in vielen Bereichen plötzlich offen geworden, beruht auf einem
Denken in 'Szenarien', auf Wenn-Dann-Erwägungen über eventuelle
eintretende Folgen.'[ 8 ]
Diese Situation erfordert ein Bejahen von Ambivalenz und einen Verzicht
auf definitive Lösungen.[
9 ]
Was hier
für die Gesellschaft als Ganzes beschrieben wird, ist auch charakteristisch
für die Entwicklung der Städte. Die Nebenfolgen technologischer,
ökonomischer, legislativer oder politischer Gegebenheiten erweisen
sich meist als weitaus mächtiger denn jede städtebauliche Planung
und jeder architektonische Eingriff. Die Stadt ist ein komplexes Konglomerat
verschiedenster Einflüsse. Wenn wir uns heute mit Stadt befassen,
so ist es unvermeidlich, sich diesen Kräften und ihren räumlichen
Manifestationen zu stellen. Dabei geht es nicht um eine Fixierung des
Vorhandenen, sondern darum, die Ausgangslage zu verstehen, Möglichkeiten
zu entdecken und zu intervenieren.
Erforderlich
ist eine Ende des Städtebaus der 'guten Intentionen', der die existente
Stadt verneint und eine ganz andere schaffen will. Von stets neuen Vorstellungen
vom Guten ist die Stadt im 20. Jahrhundert wiederholt heimgesucht worden.
Doch alle gut gemeinten Absichten sind kläglich an sich selbst und
der Welt gescheitert. Der Städtebauer gleicht hier einem Segler,
der das Steuerruder zu heftig herumreißt. Durch die Übersteuerung
verliert er die Gewalt über das Boot, so dass es ohne Führung,
von Wind und Wellen getrieben, dahintrudelt.
Anstatt
heldenhaft zu scheitern oder willenlos zu kapitulieren müssen wir
nach neuen Wegen suchen, wieder Einfluss auf die Stadtentwicklung zu gewinnen.
Dies setzt voraus, dass wir die Stadt, wie sie ist, begreifen, um Möglichkeiten
der Intervention zu ergründen und Strategien subversiver Kollaboration
zu entwickeln. Ein solches Vorgehen setzt auf die Beeinflussung der Stadtentwicklung
von innen heraus, unter Ausnutzung der vorhandenen Kräfte, diese
modifizierend oder gar punktuell sabotierend. Stadtplanung wird zu einem
taktischen Spiel, das die Prozesse des automatischen Urbanismus einbezieht
und auf die Idee eines definierten Endresultats verzichtet. Ein städtebauliches
Projekt ist dann weniger eine Erfindung als die Entdeckung und Verwirklichung
einer latenten Möglichkeit. Es ist die Verknüpfung, Modifikation
und Lokalisierung vorhandener Energien und Elemente, eine Art urbanes
Kräftemanagement.
Ein solches
Vorgehen kann verschiedene Formen annehmen. Wie ein Schachspieler mag
man versuchen, den weiteren Verlauf abzuschätzen und mit seinen Zügen
für diesen eine günstige Ausgangslage zu erzielen. Wie ein Billardspieler
kann man indirekt vorgehen und erst in der Wechselwirkung mit anderen
Elementen sein Ziel zu erreichen suchen. Dabei wird man von der geraden
Bahn abweichen, um Hindernissen aus dem Wege zu gehen. Oder man mag wie
ein Bastler mit Hilfe der Überbleibsel anderer Aktivitäten agieren.
Dem Ingenieur als ein Modell menschlichen Handelns hat der Ethnologe Claude
Lévi-Strauss den Bastler gegenübergestellt: 'Der Bastler ist
in der Lage, eine große Anzahl verschiedenartiger Arbeiten auszuführen;
doch im Unterschied zum Ingenieur macht er seine Arbeit nicht davon abhängig,
ob ihm die Rohstoffe oder Werkzeuge erreichbar sind, die je nach Projekt
geplant und beschafft werden müßten: die Welt seiner Mittel
ist begrenzt, und die Regel seines Spiels besteht darin, jederzeit mit
dem, was ihm zur Hand ist, auszukommen, das heißt mit einer stets
begrenzten Auswahl an Werkzeugen und Materialien, die überdies noch
heterogen sind, weil ihre Zusammensetzung in keinem Zusammenhang zu dem
augenblicklichen Projekt steht, wie überhaupt zu keinem Projekt,
sondern das zufällige Ergebnis aller sich bietenden Gelegenheiten
ist.'[ 10 ]
In einer
Situation, in der wir die Begrenztheit unseres Wissens und unserer Mittel
eingestehen müssen, eröffnet die Vorstellung vom Bastler alternative
Handlungsmöglichkeiten. Während der Städtebauer mittels
Strukturen Ereignisse schafft, entwickelt der Bastler aus den Überresten
von Ereignissen strukturierte Gesamtheiten. Dies ermöglicht, die
räumlichen Manifestationen von ungeplanten Entwicklungen, Irrtümern,
Zufällen wie gescheiterten Intentionen in den Städtebau zu integrieren
und deren Potentiale zu entdecken. Während ein solcher kalter Städtebau
mit den Resten von Früherem arbeitet und mit diesen neue Qualitäten
schafft, wird ein heißer Städtebau in gegenwärtige Prozesse
eingreifen und aktuelle urbane Entwicklungen von innen heraus beeinflussen.
Hierbei wird Städtebau zu einem, generativen Prozess, den wir nur
partiell kontrollieren können. Jeder Eingriff wird vorübergehend
sein und stets unvollständig bleiben. In dieser vitalen Unabgeschlossenheit
liegt auch die Stärke Berlins.
|
|
Fussnoten :
[ 1 ] Siehe Yve-Alain Bois und Rosalind E. Krauss: Formless. A User's
Guide, New York 1997
[ 2 ] Otl Aicher: Verplante Planungen, in: ulm, Zeitschrift der Hochschule
für Gestaltung, 17/18/1967, S. 5 f.
[ 3 ] Georg Simmel: Die
Großstädte und das Geistesleben, in: Das Individuum und die
Freiheit. Essais, Berlin 1984, S. 204
[ 4 ] Siehe Anthony Giddens: Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am
Main 1995, S. 33. Ebenso David Harvey: The Condition of Postmodernity,
Cambridge / Massachusetts 1990, S. 147
[ 5 ] Siehe Stefan Krätke: Stadt, Raum, Ökonomie, Basel
u. a. 1995, S. 48 ff. Ebenso W. Ritter: Allgemeine Wirtschaftsgeographie,
München u.a. 1993
[ 6 ] Die Entfaltung der Architektur, Rem Koolhaas im Gespräch,
in: Arch+, 117/1993, S. 29
[ 7 ] Ulrich Beck u.a.: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse,
Frankfurt am Main 1996, S. 9, S. 29
[ 8 ] Anthony Giddens: Risiko, Vertrauen und Reflexivität, in:
Ulrich Beck u.a.: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse, Frankfurt
am Main 1996, S. 317
[ 9 ] Ulrich Beck: Die Erfindung des Politischen, Frankfurt am Main
1993, S.52f.
[ 10 ] Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken,
Frankfurt am Main 1968, S. 30 |