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Ein wahres
Bombardement von stets neuen Konzepten und Ideologien überformte
Berlin im Verlauf der Jahrhunderte. Jedes von ihnen gab der Stadt eine
Prägung, doch keines von ihnen war stark genug, ihr eine Struktur
zu verleihen. Wie Sisyphos stellte man in einer permanenten heroischen
Anstrengung Gesamtpläne auf, die immer wieder an gegenläufigen
Kräften, an der Größe der Stadt und ihrer kontinuierlichen
Instabilität scheiterten und daher unvollständig blieben. Während
einzelne Bereiche Berlins vom Charakter eines Planes oder Ereignisses
bestimmt sind, entfalten sich andernorts Zonen der Überlagerung und
Durchdringung unterschiedlichster Einflüsse. Hier artikuliert sich,
was der Stadt auch als Ganzes wesentlich ist: Im Prozess der Überlagerung
hat sich etwas Neues gebildet, das sich nicht auf die Qualitäten
einzelner Pläne und Einflusskräfte zurückführen lässt,
sondern aus dem Prozess selbst hervorgegangen ist. Die Überlappung
der verschiedenen historischen Schichten und Ereignisfelder schuf ein
heterogenes Kontinuum, ein Feld von Ambiguitäten, das vielerorts
eine geradezu dramatische Qualität aufweist.
Dieses
Phänomen findet man in vielen Städten, doch hat es sich in Berlin
ungewöhnlich intensiv und radikal entwickelt. Und dies bereits vor
den tief greifenden Veränderungen durch Nationalsozialismus, Zweiten
Weltkrieg und dessen Folgen. 1930 schrieb Joseph Roth: 'Berlin ist eine
junge, unglückliche und zukünftige Stadt. Ihre Tradition hat
fragmentarischen Charakter. Ihre häufig unterbrochene, noch häufiger
ab- und umgelenkte Entwicklung wird von unbewußten Irrtümern,
bewußt bösen Tendenzen gehemmt und gefördert zugleich;
gewissermaßen mittels Hemmungen gefördert. Die Resultate -
denn diese Stadt hat so viele Physiognomien, daß man nicht von einem
Resultat sprechen kann - sind ein penibles Konglomerat; ... eine ordentliche
Verworrenheit; eine planmäßig exakte Willkür.'[ 1 ] Während sich die Planer bis heute um Ordnung und Homogenität
bemühen und in ihrem ständigen Scheitern die Unordnung noch
vermehren, hatten die bildenden Künste bereits zu Beginn des 20.
Jahrhunderts diese Eigenart der Stadt erfasst und sie in ihren Werken
thematisiert. So zeigen Gemälde wie Ernst Ludwig Kirchners 'Potsdamer
Platz' (1914), George Grosz´ 'Metropolis' (1916/17) oder 'Deutschland,
ein Wintermärchen' (1918) Berlin anhand dynamisierter, vielschichtiger
städtischer Räume. Und in der Zeit zwischen Ende des Ersten
Weltkriegs und Untergang des Kaiserreichs erfinden die Berliner Dadaisten
die Photocollage. In der Multiperspektivität der Arbeiten von Künstler
wie Raoul Hausmann, George Grosz, John Heartfield und Hannah Höch
findet nicht nur der Widerstreit gesellschaftlicher Kräfte und politischer
Ideologien Ausdruck. Zugleich spiegeln sie das Stadterlebnis von Fragmentierung,
Simultaneität und Multiplizität, von Durchdringung, Überschneidung
und Überlagerung.[ 2 ] Die unbewusst entstandenen Realcollagen
des Stadtraums - etwa das Durchschneiden von Baublöcken durch Eisenbahntrassen
oder die Montage von Lichtreklamen auf überkommenen Bauten - wird
nunmehr von den Künstlern aufgegriffen und als Konzept entwickelt.
In der
Zuspitzung der latenten Themen Berlins scheinen die Künstler und
Schriftsteller vorwegzunehmen, was sich in den folgenden Jahrzehnten ereignen
soll: die permanente Reorganisation einer stagnierenden Stadt, welche
die Ideologien des Jahrhunderts in sich bündelt, absorbiert und hervorbringt.
Während die klassische Moderne neben den stadterweiternden Wohnsiedlungen
eine Serie von weitgehend unrealisierten stadtchirurgischen Eingriffen
wie am Alexanderplatz, am Potsdamer Platz und am Platz der Republik konzipiert,
setzt mit den nationalsozialistischen Planungen von Albert Speer eine
radikale Reorganisation des gesamten Stadtkörpers ein, die - da sie
allesamt unvollendet blieben - die Heterogenität Berlins verstärken.
In einer atemberaubend schnellen Abfolge gestalteten die Planungen und
politischen Ereignisse die Großstadt ständig um: Achsenkreuz,
Autobahnnetz und Kahlschlagsanierung einerseits, Kriegszerstörung,
Kalter Krieg und Teilung andererseits. Exemplarisch hierfür sind
Situationen wie östlich des Alexanderplatzes, wo Fragmente der Mietskasernenbebauung,
Plattenbauten der sechziger Jahre und die neoklassizistische Stalinallee
aufeinander treffen. Oder die südliche Friedrichstadt, wo barocke
Straßenstruktur, Korridore der Schnellbahntrassen, die halbfertig
abgebrochene Kahlschlagsanierung der sechziger Jahre, das Hochhauszwiegespräch
über die ehemalige Mauer, die Postmoderne der achtziger Jahre und
spekulativer Bürobau der Nachwendezeit zusammen kommen.
Als momentan
letzter Versuch zu einer Gesamtplanung setzt das 'Planwerk Innenstadt'
von 1997 diese Tradition fort. Gerade wegen seines Strebens nach Kontinuität
und Homogenität wird es die Heterogenität der Stadt intensivieren;
wenn etwa 'historische Straßen' quer durch Neubausiedlungen geschlagen
und mit Elementen einer Straßenrandbebauung gesäumt werden.
Oder wenn zwischen den Wohnhochhäusern Fragmente einer 'Blockrandbebauung'
eingeführt oder dominante Hochhäuser durch den Rückbau
von Straßen und durch neue Randbauten in Hinterhöfe verbannt
werden.
In solchen
Kontaminierungen zeigt sich ein Prinzip, das sich in dem permanenten Streben
nach der Überformung des Vorangegangenen durch alle Epochen der Stadtgeschichte
zieht. Das jeweilige Scheitern dieser Versuche und die darin begründete
Unvollständigkeit hat zu einer erstaunlichen Koexistenz unterschiedlicher
Stadtmodelle geführt. Das Charakteristische an Berlins Heterogenität
ist nicht ein bezugloses Nebeneinander von Bauten auf dem neutralen Grund
eines Straßenrasters - wie in Tokio oder New York - , sondern ein
Flechtwerk sich wechselseitig durchdringender Strukturen. Hier sind Grund
und Texturen selber vielfältig. Was zunächst wie ein Unfall
der Geschichte erscheint, birgt ungewollte Qualitäten. Für den
Soziologen Ulrich Beck deutet das existierende Berlin ein zukunftsweisendes
Stadtmodell einer 'Zweiten Moderne' an. Er stellt dem tradierten Modell
einer 'Stadt des Entweder-Oder' das Modell einer 'Stadt des Und' gegenüber:
'Dort Trennung, Ab- und Eingrenzung, das Verlangen nach Eindeutigkeit,
Beherrschbarkeit, Sicherheit und Kontrolle; hier Vielfalt, Differenz,
unabschließbare Globalität, die Frage nach Zusammenhang, Zusammenhalt,
die Bejahung von Ambivalenz.'[ 3 ]
Im Stadtbild
Berlins werden die Diskontinuität der Geschichte und die Gleichzeitigkeit
widerstreitender Kräfte anschaulich. Die Heterogenität der Stadt
zeigt den für die Neuzeit charakteristischen Verfall eines einheitlichen
Weltbildes; sie verkörpert die Pluralität und die gesellschaftlichen
Konflikte. Dank ihrer physischen Präsenz erweist sich die Stadt als
einer der wenigen authentischen Orte in einer zunehmend medialisierten
Welt, in dem gesellschaftliche Wirklichkeiten sichtbar werden und unmittelbare
Erfahrungen gemacht werden können. Insofern hat die Stadt, allen
Manipulationsversuchen zum Trotz, ein aufklärerisches Potential.
Es bietet die Möglichkeit zur Selbstreflexion der Gesellschaft und
formuliert damit eine Basis für eine 'reflexive Modernisierung'.
Denn das Nebeneinander unterschiedlicher Strukturen und Formen stellt
diese in einen Zusammenhang und relativiert sie. Sie sind nicht mehr absolut;
ihre ursprüngliche Bedeutung wird destruiert. Durch die Zusammensetzung
entsteht eine neue Bedeutung, die jedoch nicht mehr eindeutig ist.
Die Auflösung
einer ganzheitlichen Struktur weist dem Stadtbenutzer eine aktive Rolle
zu: Der Zusammenhang zwischen den mannigfaltigen Elementen und Strukturen
ist immer wieder neu herzustellen. Die Beziehungen und Bedeutungen des
Materials sind instabil und ambivalent. Erst der Betrachter stellt im
Alltagsgebrauch die Relationen her. 'Die Ordnungslosigkeit der Zeichen,
die Desintegration der Umrisse, das Explodieren der Konfigurationen lädt
uns dazu ein, selbst Beziehungen herzustellen,'[
4 ] schreibt Umberto Eco in seinem Buch 'Das offene Kunstwerk'. So
entstehe ein Verständnis von Form als einem Möglichkeitsfeld.
Und Eco weist noch auf eine zweite Qualität hin: 'Offene Kunstwerke'
bilden keine gesetzten, absoluten Formen, sondern verweisen auf ihre Entstehung.
Am Beispiel von Jackson Pollocks Malerei beschreibt er, dass hier zwischen
der Gebärde der Herstellung 'und dem Zeichen eine besondere, unwiederholbare
Ausgewogenheit herrscht, die durch eine gelungene Verbindung des unbeweglichen
Materials mit der formenden Energie zustande gekommen ist, durch ein wechselseitiges
Sichaufeinanderbeziehen der Zeichen, das so geartet ist, daß es
unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Verhältnisse lenkt, die formale
Verhältnisse sind, Verhältnisse von Zeichen, aber zugleich gestischen
Beziehungen, Verhältnisse von Intentionen'. Die Formen verweisen
auf ihre Entstehung. Oder anders gesagt, die Formen organisieren nicht
die Materie, sondern 'die Materialien verweisen auf Kräfte und dienen
ihnen als Symptome.'[ 5 ]
In analoger
Weise wird der heterogene Stadtraum Berlins erfahren. Die Dramatik des
Stadtkörpers verweist auf die widerstrebenden Kräfte, die auf
die Stadt einwirken. Die stadträumlichen Gesten brechen unvermutet
ab. Was bleibt, sind keine mit Absicht so gesetzten Formen, sondern Spuren
von Prozessen wie Zerteilen, Durchdringen, Aufschneiden, Abbrechen, Umhüllen,
Deformieren, Verschieben, Verdrehen, Perforieren, Auflösen. Indem
die Formen ihren Entstehungsprozess erkennen lassen, erscheinen sie sich
nicht als dauerhaft, sondern deuten mögliche weitere Entwicklungen
an. Die Stadt erscheint als promiske und zugleich träge Masse: Ständig
saugt sie neue Kräfte auf, welche sich in ihr ausformen und zugleich
in ihrer Zähheit und Widerspenstigkeit verlieren. Die 'weiche Masse'
Stadt wuchert, erstarrt und zerfällt. Ihre Heterogenität ist
in sich vielfältig: Es ist eine Mannigfaltigkeit und Durchmischung
der Texturen, Typologien und Bauten, eine Vielfalt der wirksamen Kräfte,
eine Durchdringung von Stadt und Land, von Intensität und Leere,
von Lebendigkeit und Verfall, von Präsenzen, Absenzen und Verweisen.
Diese Masse
ist weniger ein traditionelles städtisches Gewebe als eine Art Filz,
'eine Verschlingung von Fasern..., offen und in allen Richtungen unbegrenzt.'[
6 ] Wie Gilles Deleuze und Félix Guattari darlegen, ist die
Konsistenz von Filz beispielhaft für einen glatten, kontinuierlichen
und doch heterogenen Raum. Auch im urbanen Geflecht sind Grenzen nicht
eindeutig definierbar. Die einzelnen Episoden überlappen und durchdringen
sich, durchzogen von Zonen des Undefinierbaren. Der Raum ist entgrenzt.
Durch die ungeplanten Kollisionen werden existierende Hierarchien und
Ordnungen unterminiert. Spannung tritt verschoben zu den Zentren und Knoten
der Struktur auf, verschiebt damit die Aufmerksamkeit, enthierarchisiert
den Raum. Die Offenheit und Vieldeutigkeit der Struktur erlaubt die Absorption
des unerwarteten Neuen. Und hierin liegt auch die gemeinhin bekannte Hässlichkeit
Berlins begründet. Die Stadt widerspricht allen klassischen Schönheitsvorstellungen.
Sie sollte daher anders betrachtet werden. Etwa aus der Perspektive des
'pitoresken Blicks', jener Sehweise, die sich in England Mitte des 18.
Jahrhunderts aus der unmittelbaren Beobachtung der freien Naturlandschaft
entwickelte und eine Kategorie für jene Qualitäten schuf, die
sich dem klassischen Schema des Schönen und Erhabenen nicht unterordnen
ließen: Rauheit, Irritation, Unregelmäßigkeit, Mannigfaltigkeit,
Deformation, Absurdität und Unklarheit.[ 7 ]
Überhaupt
hat Berlins Stadtbild Wesenszüge einer Landschaft, wie Siegfried
Kracauer 1931 feststellte: 'Man kann zwei Arten von Stadtbildern unterscheiden,
den einen, die bewußt geformt sind, und den an anderen, die sich
absichtslos ergeben. Jene entspringen dem künstlerischen Willen,
der sich in Plätzen, Durchblicken, Gebäudegruppen und perspektivischen
Effekten verwirklicht, die der Baedeker gemeinhin mit einem Sternchen
beleuchtet. Diese dagegen entstehen, ohne vorher geplant worden zu sein.
Sie sind keine Kompositionen, die wie der Pariser Platz oder die Concorde
ihr Dasein einer einheitlichen Baugesinnung zu verdanken hätten,
sondern Geschöpfe des Zufalls, die sich nicht zur Rechenschaft ziehen
lassen. Wo immer sich Steinmassen und Straßenzüge zusammenfinden,
deren Elemente aus ganz verschiedenen Interessen hervorgehen, kommt ein
solches Stadtbild zustande. Es ist sowenig gestaltet wie die Natur und
gleicht einer Landschaft darin, daß es sich bewußtlos behauptet.
Unbekümmert um sein Gesicht dämmert es durch die Zeit. Diese
Landschaft ist ungestelltes Berlin. Ohne Absicht sprechen sich in ihr,
die von selber gewachsen ist, seine Gegensätze aus, seine Härte,
seine Offenheit, sein Nebeneinander, sein Glanz.'[ 8 ]
Die Analogie
zur Landschaft offenbart jene ungeplanten Qualitäten, die sich klassischen
architektonischen Kategorien entziehen. Landschaft ist ständiger
Wandlung unterworfen und räumlich nicht abgeschlossen. Sie hat kein
allgemeines Prinzip, sondern bildet sich lokal spezifisch aus. Sie ist
kontinuierlich und vielfältig zugleich. Sie bildet keine Gegensätze,
sondern ermöglicht Koexistenz. Sie ist ein Ort, wo sich Formen und
Eigenschaften aller Art entfalten und vermischen können. In der Landschaft
formen nicht die Strukturen die Ereignisse, sondern die Ereignisse bilden
die Strukturen.[ 9 ]
Hierin
liegt auch der Schlüssel für einen neuen Umgang mit der Stadt.
Wenn an die Stelle des Urbanisten als Ingenieur der Urbanist als Bricoleur
tritt, wird das vergebliche Bemühen des Sisyphos durchbrochen. Dann
wird die Struktur nicht anhand von Begriffen und Idealen, sondern - wie
bei einem Landschaftspark - aus dem vorhandenen mannigfaltigen Material
entwickelt.
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