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Die Zwillingsstadt
Berlin-Cölln ist Keimzelle der Stadt. Im 13. Jahrhundert entsteht
sie an den beiden Ufern der Spree in Konkurrenz zu den älteren Städten
Spandau und Köpenick. Berlin und Cölln verfügen über
jeweils ein eigenes Stadtrecht und folglich über eigene Rathäuser,
Märkte, Kirchen und Klöster. In ihrer Eigenständigkeit
entwickeln sie unterschiedliche Charaktere: In Berlin lässt sich
der Orden der Franziskaner nieder, in Cölln der Orden der Dominikaner.
Berlin, nordöstlich der Spree an der Ost-West-Handelsstraße
gelegen, ist überregional ausgerichtet und durch Handel der Kaufmannsleute
geprägt. Im Stadtgrundriss liegen die öffentlichen Bauten zerstreut.
Bald entsteht mit dem neuen Markt ein zweites Zentrum. In Cölln hingegen
konzentrieren sich die öffentlichen Bauten am alten Fischmarkt.
Trotz aller
Autonomie gibt es von Beginn an Kooperation. Eine gemeinsame Festungsanlage
wird gebaut, 1307 bilden Berlin und Cölln eine Föderation. Während
sie nach innen gesonderte Städte bleiben, treten sie nach außen
als Einheit auf. Als Zeichen der Union errichten sie ein gemeinsames Rathaus
auf der Langen Brücke, in dem sie über gemeinsame Angelegenheiten
wie Festungsbau und Außenbeziehungen beraten. Gleichwohl tagen,
wie bisher, die beiden unabhängigen Räte der Städte in
den alten Rathäusern und bleiben wirtschaftlich jeweils eigenständig.
Eine Vereinigung beider Städte im Jahr 1433 wird wenige Jahre später
von Kurfürst Friedrich II. formell wieder aufgelöst, doch faktisch
vollzogen. Er beschneidet die Souveränität der Städte und
baut zwischen 1443 und 1451 ein Stadtschloss. Die Macht des Kurfürsten
eint die Städte in ihrer Unfreiheit. Berlin setzt sich als gemeinsamer
Name für die Doppelstadt durch; das Schloss bildet das zukünftige
Zentrum. Doch schon steht die nächste Doppelung bevor.
Zum Wiederaufbau
der durch den Dreißigjährigen Krieg schwer verwüsteten
Stadt gründet Kurfürst Friedrich Wilhelm zwischen 1660 und 1688
drei neue Vorstädte: Friedrichswerder, Dorotheenstadt und Friedrichstadt.
Die Neustädte mit jeweils eigenem Stadtrecht können selbständig
Handel und Gewerbe treiben, haben eigene Innungen, Kirchen und teilweise
eigene Rathäuser, Marktplätze und Gerichte. Politisch wie städtebaulich
sind sie unabhängig von der Altstadt. Ihr geometrisches Raster setzt
sich in jeder Hinsicht von Altberlin ab. Statt der verwinkelten, engen
Gassen strahlen die breiten Straßen der Neustädte in die Umgebung
aus. Sie knüpfen nicht an die existierenden Straßen und Tore
der befestigten Altstadt an, weshalb zwischen beiden eine unbebaute Lücke
klafft. Aufgrund ihrer Unabhängigkeit können sich die Neustädte
frei entfalten und kompromisslos ihre eigene, zeitgemäße Ausformung
finden. Im Gegensatz zur beengten, weil durch einen Festungsring umzingelten
Altstadt haben sie einen weltläufigen Charakter. Hier leben die zuziehenden
französischen Hugenotten; in der Friedrichstadt wird neben der deutschen
die französische Kirche gebaut; in der Dorotheenstadt werden Akademie
der Künste, Akademie der Wissenschaften, Observatorium, Oper und
königliche Bibliothek errichtet. Der mittelalterlichen Bürgerstadt
steht die barocke Königstadt gegenüber.
Nach der
Erhebung Preußens zum Königreich verfügt Friedrich I.
1709 die Vereinigung der fünf autonomen Städte zu einer Gesamtstadt
mit einheitlicher Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Ein gemeinsames Rathaus
wird in Cölln errichtet, 1735 die Wallanlage abgetragen und eine
neue, die fünf Städte sowie die östlichen Vorstädte
umfassende Zollmauer gebaut. Damit vollzieht sich nach außen ein
Zusammenschluss, während im Inneren die disparaten Teile einander
gegenüberstehen. Doch noch bevor die Einigung vollzogen ist, entsteht
der Ursprung einer neuen Doppelung. 1695 wird mit dem Bau des Charlottenburger
Schlosses begonnen, das in seiner Größe dem Stadtschloss gleichkommt
und ihm architektonisch überlegen ist. Es wird zur Keimzelle einer
rapiden städtischen Entwicklung. 1705 erhält Charlottenburg
Stadtrecht und avanciert bald zu einem bedeutenden kulturellen Zentrum.
Gleichzeitig entstehen im Berliner Umland 20 weitere Schlossbauten, die
ein weites Netz von Siedlungskernen aufspannen. Verbunden durch Wasserwege
und gut ausgebaute Straßen bildet diese Multiplizität das Gerüst
für die spätere Urbanisierung der Region. Zwei Jahrhunderte
später werden die Verbindungswege zwischen den Schlössern zu
den Magistralen der Metropole: Kurfürstendamm, Frankfurter Allee,
Charlottenburger Chaussee (heutige Straße des 17.Juni und Bismarckstraße),
Potsdamer Chaussee (heutige Potsdamer Straße).
Nach Gründung
des Deutschen Reichs 1871 verstädtert der Berliner Raum in atemberaubendem
Tempo. Wesentlich schneller als Berlin wachsen Charlottenburg und die
Vorstädte. Aus kleinen Gemeinden werden zwischen 1871 und 1910 Großstädte;
die Vorstädte Schöneberg, Rixdorf und Lichtenberg erhalten Stadtrecht.
Die sechs mit Berlin konkurrierenden Städte errichten ebenso wie
in einer Reihe von Landgemeinden große Rathäuser als Ausdruck
ihrer Selbständigkeit. Ende des 19. Jahrhunderts wird auf Vorschlag
des Reichskanzlers Bismarck der Kurfürstendamm nach dem Vorbild der
Champs-Elysées zu einer Prachtstraße ausgebaut. Dies legt
gemeinsam mit der Eröffnung der Stadtbahn als Bahnverbindung zwischen
alter City und Charlottenburg die Grundlage für die Entwicklung des
zweiten großstädtischen Pols, des so genannten 'Neuen Westens'.
Schnell gewinnt Charlottenburg Eigenständigkeit und avanciert aufgrund
des hohen Steueraufkommens seiner Bürger zur reichsten Stadt Preußens.
Binnen kürzester Zeit etablieren sich hier zentrale städtische
Institutionen, teils in Konkurrenz, teils komplementär zur alten
City: 1844 der Zoologische Garten, 1884 die Technische Hochschule, 1884
der Charlottenburger Fernbahnhof, 1896 das Theater des Westens, 1902 die
Hochschulen für Bildende Künste und für Musik, 1906 Metropol-Theater,
Schiller-Theater und Renaissance-Theater, 1909 das Kaufhaus des Westens,
1912 die Deutsche Oper, 1913 das Deutsche Stadion, 1914 das Messegelände,
1916 das Planetarium. Angesichts dieser Entwicklung fordert der Charlottenburger
Bürgermeister: 'Nicht auf ein Groß-Berlin, sondern auf ein
Groß-Charlottenburg müssen wir hinarbeiten.'[ 1 ] Als Zeichen von Eigenständigkeit und zur Abgrenzung gegenüber
Berlin erbaut die aufstrebende Stadt 1906 das Charlottenburger Tor auf
der Charlottenburger Chaussee (heutige Straße des 17. Juni) am Übergang
zum Tiergarten, quasi als Pendant zum Brandenburger Tor.
Die Vorstädte
holen Berlin trotz seiner Eingemeindungen auch hinsichtlich der Einwohnerzahl
ein. In Berlin verdoppelt sich die Einwohnerschaft von 1871 bis 1920,
während sie sich in den Vorstädten verzwanzigfacht. Mit 1,9
Millionen Einwohneren haben sie 1920 ebenso viele Einwohner wie Berlin.
Die im gleichen Jahr vollzogene Gründung Großberlins ist keine
Eingemeindung, sondern ein Zusammenschluss von sieben Städten und
zahlreichen Landgemeinden. Die Schaffung Großberlins verlegt die
Duplizität nach innen: In den zwanziger Jahren entwickelt sich der
Neue Westen immer mehr zum zweiten städtischen Zentrum. Während
Regierung, Verwaltung, Presse, Museen und Kaufhäuser in der alten
City bleiben, wird der Kurfürstendamm zur Vergnügungsmeile.
Die großen Kaufhäuser der Friedrichstraße eröffnen
hier ihre eleganten und luxuriösen Dependancen. 1927 schreibt die
Vossische Zeitung: 'Die geschäftliche Hauptentwicklung zeigt der
Kurfürstendamm, als ob geglaubt wird, daß nur in dieser Straße
erfolgreich Geschäfte gemacht werden können. Gerade hier wollen
alle Firmen von Bedeutung vertreten sein.' [ 2 ] Und 1930 heißt es in einem Berlinführer: 'Der demokratische
Westen, in dem die 'neuen Herren' wohnen, entzieht der Friedrichstraße
die Lebenskräfte. Ganz Neuheit, ganz Gegenwart, ganz antipodische
Welt ist im Westen jener kilometerlange Straßenzug zwischen Wittenbergplatz
und Halensee: Tauentzienstraße-Kurfürstendamm. Hier ist Berlins
Boulevard.'[ 3 ]
Die alte
City ist Ort der preußischen Bürokratie, der staatlichen Institutionen,
der Relikte der Hohenzollern, des Alltäglichen und Provinziellen;
der Neue Westen hingegen ist Ort des liberalen Bürgertums, des Exzentrischen,
der Avantgarde und des Neuen. Die Bipolarität der Stadt führt
zur Koexistenz des Ungleichzeitigen: von Moderne und Tradition, von Demokratie
und Preußentum, von Liberalismus und Militarismus. Die Losgelöstheit
des Neuen Westens von der alten City macht ihn zum Laboratorium der Moderne.
Berlin wird in den zwanziger Jahren zum kulturellen Zentrum, wo die neue
Literatur, Malerei, Theater, Film und Architektur entsteht. Hier baut
die Filmindustrie mit Ufapalast, Gloriapalast, Capitol und Marmorhaus
die großen Premierenkinos; hier entstehen Messegelände mit
Funkturm und Haus des Rundfunks ebenso wie die ersten amerikanischen Fastfood-Restaurants,
die Tanzlokale, Bars und berühmten Cafés der zwanziger Jahre.
Man baut mit der Avus die erste Autobahn Deutschlands und eine der besten
Rennstrecken der Welt. Die ersten Automobilsalons eröffnen am Kurfürstendamm.
Ende der zwanziger Jahre überrundet der Auguste-Viktoria-Platz[
4 ] den Potsdamer Platz als verkehrsreichsten Platz Europas.
Der Neue
Westen ist weltoffen. Auch architektonisch formuliert sich hier die Moderne.
Während Entwürfe für die alte City wie etwa Ludwig Mies
van der Rohes Glashochhaus an der Friedrichstraße oder Ludwig Hilberseimers
Citybebauung hinter dem Gendarmenmarkt unrealisiert bleiben, verwirklichen
Architekten wie Erich Mendelsohn, Hans Poelzig und die Gebrüder Luckhardt
im Zentrum des neuen Westens moderne Bauten. 'Im Westen stehen die Tauentzienstraße
und der Kurfürstendamm in lebendigem Wettbewerb mit dem alten Berlin.
Hier hat die Architektur der Läden immer mehr eine neuzeitliche Ausstattung
erfahren und den verschiedenen Geschäften ihre eigene Note gegeben',
schreibt Gustav Häussler 1932.[
5 ] Der Stuck der wilhelminischen Fassaden wird abgeschlagen; Kaufhäuser
werden mit gläsernen Aufzügen ausgestattet; Lichtreklame dominiert
das Straßenbild.
Die Doppelpoligkeit
Berlins der zwanziger Jahre artikuliert für den britischen Schriftsteller
Stephen Spender zwei gegensätzliche Ideen: einerseits der 'pompöse
preußische Versuch eines anstudierten griechischen Klassizismus'[
6 ], der sich auf der Straße Unter den Linden mit den Tempeln
von Monarchie, Kultur und Glauben zeigt. Und andererseits die Attraktion
der 'babylonische Hure' rund um den Kurfürstendamm mit seinen Cafés,
Nachtclubs, Geschäften und Bordellen. 'Diese beiden Entwürfe
liegen gewissermaßen in zwei verschiedenen Schlafzimmern wie zwei
Geliebte der einen Berliner Seele, voneinander getrennt durch ein riesiges
Netz von Bahnlinien.'
Nach der
Zerschlagung der nationalsozialistischen Diktatur radikalisiert die Teilung
der Stadt die Bipolarität Großberlins. Mit dem Kriegsende ist
die Stadt 1945 in doppelter Weise geteilt: Zum einen ist ihre Einheit
durch den Bombenkrieg physisch zerstört. Die Kommunikations- und
Verkehrsinfrastrukturen sind unterbrochen, die Stadt in Teile zerfallen.
Da das 'Cityband' zwischen Altstadt, Potsdamer Platz und Neuem Westen
fast vollständig ausgelöscht ist, treten die beiden Pole um
so klarer als eigenständige Orte hervor. Zum anderen ist die Stadt
politisch geteilt. Die sowjetische Blockade Westberlins besiegelt 1948
die Teilung Berlins und Deutschlands; wenig später entstehen die
beiden deutschen Staaten. Damit stehen sich in der geteilten Stadt die
zwei opponierenden gesellschaftlichen Systeme gegenüber. Berlin wird
Stadtlabor des Kalten Krieges.
In einer
Art urbanistischem Ping-Pong-Spiel entwickeln sich beide Teile zwar konträr,
doch in Reaktion auf die jeweils andere Hälfte der Stadt. Das Spiel
beginnt 1952 in Ostberlin mit dem Bau der Stalinallee, einer betont national-klassizistischen
Magistrale, die vom Westen 1957 mit der Errichtung des explizit international-modernen
Hansaviertels beantwortet wird. 1957 lobt der Westen, 1958 der Osten einen
Wettbewerb für das Stadtzentrum aus. 1966 errichtet der Springerkonzern
ein goldenes Hochhaus als Symbol für den freien Westen auf der Westseite
der Mauer. Wenig später antwortet der Osten mit einer Reihe sozialistischer
Wohnhochhäuser entlang der Leipziger Straße. Die Architektur
wird zu einem Mittel des Kalten Krieges, die Teilung der Stadt zu einem
architektonischen Generator. Die erzwungene Selbständigkeit der ehemals
komplementären Stadthälften erfordert die Doppelung der singulären
Institutionen. Die historischen Monumente der Stadt erfahren in der jeweils
anderen Stadthälfte eine Neuinterpretation: so die Bismarckstraße
und Heerstraße durch die Stalinallee, so die Museumsinsel durch
das Kulturforum, so der Reichstag durch den Palast der Republik, so der
Funkturm durch den Fernsehturm, so die Staatsbibliothek Unter den Linden
durch die Staatsbibliothek an der Potsdamer Straße, so die alte
Nationalgalerie durch die neue Nationalgalerie, so die Humboldtuniversität
durch die Freie Universität. Diesem architektonischen Wettstreit
verdankt die Stadt viele ihrer bedeutendsten Bauten.
Die Teilung
von Berlin und Deutschland schafft binnen 40 Jahren aus dem einst Zusammenhängenden
zwei verschiedene Identitäten, Kulturen und Sprachen, die sich noch
zehn Jahre nach der Wiedervereinigung als beständig erweisen. Auch
stadtstrukturell entwickeln sich die beiden konkurrierenden Städte
entgegengesetzt. Während die Oststadt zentralistisch organisiert
wird, mit einer neuen, nach Osten verschobenen City zwischen Alexanderplatz
und Schlossplatz, entwickelt sich die Weststadt polyzentral. Neben dem
Hauptzentrum rund um den Zoo entstehen bedeutende Sekundärzentren
in Steglitz, Neukölln, Wedding und Spandau; die kulturellen Institutionen
verteilen sich zwischen Kulturforum, Charlottenburg und Dahlem; die Stadtregierung
wird in Wilmersdorf und Schöneberg untergebracht. Der planwirtschaftlich-diktatorische
Osten formiert sich zentralistisch, der marktwirtschaftlich-demokratische
Westen föderalistisch.
Nach dem
Mauerfall von 1989 wird versucht, Oststadt und Weststadt wieder zu vereinen
und einander anzugleichen. Gleichwohl bestehen untergründig die verschiedenen
Identitäten fort, verursacht die divergierende Substanz andere Resultate.
Zudem wird mit der Errichtung der 'Neuen Mitte' durch die Regierungsbauten,
den Zentralbahnhof sowie die beiden Einkaufs- und Vergnügungszentren
am Potsdamer Platz die bestehende Doppelung nicht aufgelöst, sondern
überhöht. Die Plazierung der großen neuen Programme im
neutralen Terrain vague zwischen City Ost und City West schafft die Keimzelle
eines dritten Zentrums, isoliert von der bestehenden Stadt.
Hiermit
erfüllt sich aufs Neue die Bestimmung Berlins, immer wieder die existierenden
Zentren, Hierarchien und Ordnungen des Stadtgefüges durch Duplizierungen
in Frage zu stellen. Jede Epoche schuf sich ein neues Zentrum, eine neue
Magistrale, eine neue Identität. Hierdurch entsteht eine Ambivalenz,
in der man nicht von Identität, sondern nur von multiplen Identitäten,
nicht mehr von Zentrum, sondern nur von Zentren sprechen kann. Im Stadtkörper
Berlins tauchen immer wieder Momente von Zentralität auf, die jedoch
abbrechen und verschwinden, durch andere zentrale Elemente konterkariert
werden. Das Terrain der Stadt spannt sich zwischen ihren Polen auf, die
ein Spannungsfeld erzeugen. Je nach Blickweise entsteht eine andere Zentralität.
Die Doppelungen
haben zu einer Koexistenz unterschiedlicher städtebaulicher Strukturen,
Regierungsformen, Kulturen und Lebensweisen geführt. Die Pole bilden
jeweils gegensätzliche Qualitäten: lokal /international, introvertiert/exzentrisch,
begrenzt/offen, zentralistisch/netzförmig, tradiert/modern, permanent/unbeständig,
tags/nachts . Durch die parallele Existenz müssen die Gegensätze
nicht zu einem Kompromiss synthetisiert werden, sondern können sich
in Koexistenz frei entfalten. Übrigens haben sich auch im Orient
zweipolige Städte gebildet, die die Koexistenz traditionell-islamischer
und modern-westlicher Lebensweisen erlauben.[
7 ] Die Idee von Einheitlichkeit verschwindet zugunsten der Idee von
einem Ganzen als Vielheit.
Ein solches
Modell intensiver Multiplizität birgt mehrfache Potentiale. Es besteht
Wahlfreiheit zwischen den Polen, die zudem in einem produktiven Wettbewerb
stehen können. Da die jeweiligen Pole nicht dem gesamten Spektrum
möglicher Erwartungen und Anforderungen gerecht werden müssen,
können sie sich spezifischer, extremer und kompromisslos artikulieren.
Anstelle des Idealtypus des Durchschnittlichen tritt eine Vielfalt des
Spezifischen. Duplizität und Multiplizität ermöglichen
die freie Kombination der parallelen Verschiedenheiten. Ein Phänomen,
welches man in unterschiedlichsten Kontexten finden kann: In der Biologie
garantiert die Duplizität der Gene im Zellkern die Rekombination
des Erbguts; in der Ethnologie entdeckte man die 'Duale Organisation'[ 8 ] als Prinzip archaischer Gesellschaften. Der
DJ Kool Herc nutzte 1973 die Verdoppelung des Plattenspielers am Mischpult
des DJ's, um aus zwei parallel laufenden Schallplatten eine neue, dritte
Musik zu kreieren[ 9 ].
Damit entstand die Musik des Hip-Hop. Später weitete sich diese Methode
zum Konzept des 'Crossover' als Leitmotiv der Club-Culture aus.
Duplizität
und Multiplizität stellen das Ideale und Absolute in Frage. Wenn
es zwei gibt, relativieren sie sich und jedes hinterfragt das andere;
jedes wird als eine Möglichkeit gesehen; ein neues Drittes wird vorstellbar
.[ 10 ] Die Möglichkeit
des In-Beziehung-Setzens erschließt neue Dimensionen. So ermöglicht
die Doppelung von Auge und Ohr erst die räumliche Wahrnehmung. Aus
der Differenz der Bilder beziehungsweise Töne der doppelten Organe
berechnet das Hirn ein räumliches Bild. Gilles Deleuze beschreibt
diese Entstehung von Tiefe auch im psychologischen Sinn. Erst durch die
Existenz eines Anderen, neben dem eigenen Selbst, entsteht Tiefe, ein
Feld des Möglichen.[ 11 ] Der Verlust des Anderen führt
zu einem Verlust an Tiefe, im räumlichen wie im Möglichen.
Berlin
ist die Doppelung gleichsam als genetischer Code eingeschrieben. Von Beginn
an ist es immer wieder aufs Neue eine Vielheit von Städten, verwachsen
wie siamesische Zwillinge: keine Einheit und doch voneinander abhängig.
In der Stadtstruktur artikulieren sich die gesellschaftlichen Spannungen
der unterschiedlichen Epochen: von Freier Stadt und Kurfürst, von
Kaisertum und Moderne, von Ost und West. Das polyzentrale Berlin ist ein
Mikromodell des deutschen Föderalismus; die Ost-West-Teilung der
Stadt reflektiert die nach wie vor existente Spaltung der deutschen Gesellschaft.
Duplizität
und Multiplizität stellen die klassische Vorstellung von Einheit
und Identität in Frage. Wie bei einem siamesischen Zwilling führt
die Ambivalenz zwischen Einheit und Doppelung zu zweideutigen und vielfachen
Lesarten der multiplen Identität. Im Gegensatz zur Auflösung
und Vermischung von Wesenheiten stellt Duplizität die gleichzeitige
Existenz unterscheidbarer Ganzheiten und Identitäten dar. Damit schafft
sie eine Offenheit und Dynamik, die zugleich das Selbstverständnis
untergräbt.
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Fussnoten :
[ 1 ] Zitiert nach Konrad Kettig: Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs
(1871-1918), in: Heimatchronik Berlin, hg. v. Otto Friedrich Gandert u.a.,
Köln 1962, S. 432f.
[ 2 ] Rudolf Weilbier,
in: Vossische Zeitung, 21.6.1927
[ 3 ] Curt Moreck, Führer durch das Lasterhafte Berlin, Leipzig
1930, S. 12f., 20f.
[ 4 ] heutiger Breitscheidplatz
[ 5 ] Gustav Häussler: Auf nach Berlin, Berlin 1932, S. 30
[ 6 ] Siehe Stephen Spender: Deutschland in Ruinen, Frankfurt Main
1998, S. 273 sowie Ian Bururma: Die kapitale Schnauze, in: Lettre Winter
1998, S: 38
[ 7 ] Martin Seger: Strukturelemente der Stadt Teheran und das Modell
der modernen orientalischen Stadt, in: Erdkunde Band 29/ 1975, S. 33ff.
[ 8 ] Claude Lévi-Strauss: Die elementaren Strukturen der Verwandschaft,
Frankfurt Main 1993, S. 128ff.
[ 9 ] Oliva Henkel, Karsten Wolff: Berlin Underground, Berlin 1996,
S. 43
[ 10 ] So entstand im
Spannungsfeld zwischen Sozialismus und Kapitalismus die Suche nach einem
'Dritten Weg', während der Kapitalismus heute scheinbar alternativlos
ist.
[ 11 ] Gilles Deleuze: Michel Tournier und die Welt ohne anderen,
in: Logik des Sinns, Frankfurt Main 1993, S. 364ff. |