Philipp Oswalt | 2000
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'Berlin_Stadt ohne Form' | Temporäres

In Zeiten des Wandels wurde die Stadt immer wieder radikal umorganisiert, wobei große Areale undefiniert blieben. Der Zusammenbruch von vier deutschen Staaten, die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, die Teilung der Stadt, Stagnation und Schrumpfung, Fehlplanungen und Deindustrialisierung führten zu Verwerfungen und schufen Räume, die dem normalen Zyklus der ökonomischen Verwertung wie auch dem Alltag der Stadtbevölkerung entzogen waren. So entstanden scheinbar funktionslose Räume, die einen Nährboden für unerwartete Aktivitäten bildeten.
Abseits der herkömmlichen gesellschaftlichen Regeln entwickelte sich hier eine enorme Bandbreite von spontanen, oft illegalen Aktivitäten von Gartenbau, Wagenburgen, Märkten, Sport und Erholung bis zu Kunstbetrieb und Nightlife. Mit diesen entstanden neue Moden, Kulturen, Lebensstile. Waren es in den siebziger und frühen achtziger Jahren die Hausbesetzer-, die Alternativ- und die Punkbewegung, die mit kollektiven Lebensformen und subversiver Ästhetik experimentierten, so bildete sich in den ersten Jahren der Nachwendezeit die Clubkultur und Technoszene aus, die eine neue Kunst- und Musikszene hervorgebracht hat. Sie steht exemplarisch für die Aufbruchseuphorie des neuen Berlin und hat den neuen Hauptstadtmythos entscheidend geprägt.
Die Orte der Subkultur sind Zonen der Unabhängigkeit. Als Gegenwelten bieten sie Raum für Aktivitäten, die von der Gesellschaft ausgegrenzt oder nicht vorgesehen sind. Rem Koolhaas beschreibt in seiner Untersuchung zum Thema Shopping den 'Paradigmawechsel vom Öffentlichen und Privaten zum Kontrollierten und Residualen,'[ 1 ] das heißt Übriggebliebenen. Ihm zufolge geht es nicht mehr um Öffentlichkeit versus Privatheit, sondern um den Gegensatz zwischen kontrollierten und aufgegebenen Räumen. Einerseits gibt es Areale wie etwa Shopping Malls oder Flughäfen, die bis ins letzte Detail und mit einem extremen Wissen geplant und betrieben werden und weder öffentlich noch privat sind, andererseits gibt es verwahrloste Resträume, Zonen des Residualen.
Berlin war im 20. Jahrhundert ein urbanes Laboratorium zur Untersuchung des Residualen. Offen für das Unbekannte stellen die Residualräume die Experimentierfelder der Stadt dar, Katalysatoren für die Entstehung des Neuen. Sie existieren nur vorübergehend und werden früher oder später der kontrollierten Substanz des Stadtorganismus wieder einverleibt; doch zugleich bilden sich andernorts erneut Räume, die für die allgemeine gesellschaftliche Verwertung nutzlos sind. Wie die Residualräume sind auch die temporären Aktivitäten instabil. Sie transformieren sich und verschwinden so spontan wie sie entstehen. Sie reagieren damit auf Ausgrenzung und Verdrängung. So wurden die 'Polenmärkte' der frühen neunziger Jahre vom Potsdamer Platz an den Stadtrand Berlins und jenseits der deutsch-polnischen Grenze gedrängt. Die Clubszene der Nachwendezeit hat durch ihren Erfolg Entwicklungen stimuliert, die sie nunmehr selbst verdrängen. So wanderte sie von Kreuzberg über Mitte nach Prenzlauer Berg und Friedrichshain. Der Nomadismus resultiert aus dem äußeren Druck und der zurückgewonnenen Kontrolle etablierter Gesellschaftsstrukuren über die Territorien, doch liegt er auch im Wesen temporärer Nutzungen.
Aufgrund ihrer Flüchtigkeit sind diese ephemeren Aktivitäten nicht greifbar. Das Umherziehen wird zu einer Strategie des Verbergens. Beispielhaft dafür ist das UFO, die erste Techno-Disco aus der Vorwendezeit. Als illegaler Club entzog er sich durch ständigen Ortswechsel dem polizeilichen Zugriff und informierte die Gäste über Telefonketten. 'Das UFO Konzept war einfach. Es steigt auf und landet irgendwo',[ 2 ] sagt Dimitri Hegemann, Initiator des UFO. Viele Clubs haben dieses Konzept kopiert, immer auf der Suche nach neuen, außergewöhnlichen Locations. Mittels Musikanlage, Stroboskoplicht, Nebelmaschine, Drinks und Drogen ließen sich ausgefallene Orte in wenigen Stunden zu den gefragtesten Clubräumen verwandeln. Noch einfacher war die Installation einer der legendären Wochentagbars, die nur einmal wöchentlich geöffnet sind. Die Instabilität wird zum Motor der ständigen Neuerfindung. Mit dem Ortswechsel geht die Aktualisierung der Konzeption einher. Und so drohen Clubs zu versteinern, wenn sie seßhaft werden. Um dies zu vermeiden, wurde das Prinzip des Club im Club entwickelt. So dient das 'Maria am Ostbahnhof' als Plattform für andere Veranstalter, wie 'Flittchen-Bar', 'Hirschbar', 'Suicide-Club' oder 'Lomographische Botschaft', die jeweils ein eigenes Programm verfolgen und ein anderes Publikum ansprechen. Durch dieses Prinzip wird der Wandel aufrecht erhalten, der durch die äußeren Umstände nicht mehr gegeben ist.
Temporäre Nutzungen entstehen aus losen Gruppierungen, die sich finden, wachsen, aufspalten, verschmelzen und zerfallen. Diese agieren lokal und flexibel. In einer Art urbanen Guerilla-Taktik nutzen sie sich auftuende Möglichkeiten und passen sich veränderten Bedingungen an. Eine extreme Dynamik entwickelt sich. Temporäre Aktivitäten schaffen ein Maximum an Intensität mit einem Minimum an Substanz. Bestehende Infrastrukturen, Bauten und Flächenreserven werden mit geringsten lokalen Mitteln aktiviert. Die Leichtigkeit erlaubt es Akteuren ohne Kapital, die Stadt und ihren Raum aktiv zu gestalten. Die Grundregeln des Kapitalismus scheinen in diesen Zonen außer Kraft gesetzt: Fast ohne Geldmittel können kulturelle und urbane Experimente realisiert werden und entfalten dabei häufig eine enorme Wirksamkeit.
Sie breiten sich wie ein Rhizom aus, durchdringen wie ein Flechtwerk die Stadt, nisten sich in Nischen und Lücken ein. Oder sie kapern etablierte Orte. Durch diese Infiltration urbanisieren sie homogene Stadtviertel, erzeugen eine Durchmischung von Aktivitäten und kompensieren programmatische Defizite. Als einer Zone des Andersseins strahlen sie auf die Zone des Alltäglichen und Selbstverständlichen zurück. Sie unterminieren bestehende Kategorien und Annahmen und destabilisieren existierende Strukturen.
Sie reprogrammieren aufgelassene, brachliegende Räume. Umspannwerke, Bunker, Kohlenhandlungen werden zu Orten der Freizeitkultur, Supermärkte und Verwaltungsräume zu Kunstgalerien, Fabrikbauten zu Wohnungen und Kulturzentren. Wie in einer surrealistischen Collage treffen Elemente entgegengesetzter Welten aufeinander. Wohnzimmer werden zu Clubräumen, die Clubszene verschmilzt mit Jugendsport, Kunst oder Literatur. Es kommt zum Crossover unterschiedlicher, zuvor getrennter Kulturbereiche. Basis dafür bildet der Club, der als eine Plattform fungiert, offen für verschiedene Programme. Der Club wird zum Ort, der lediglich den Raum und die Infrastruktur für unterschiedliche Aktivitäten und Events bietet. Herkömmliche Ordnungen werden dabei suspendiert. Im verflüssigten Raum wird Unterschiedliches miteinander verknüpft. Wenn etwa aus dem Samplen, Rekombinieren und Verschmelzen vorhandenen musikalischen Materials neue Musikstile entstehen, wenn Techno mit Jazz oder Choralgesängen, Punk mit Classic oder Salsa, Hip-Hop mit John Cage rekombiniert wird. Gleiches gilt für die Interieurs der Clubkultur. Hier treffen Materialien und Gegenstände aus den unterschiedlichsten Kontexten zusammen. So öffnet sich ein Raum zur Auseinandersetzung mit verworfenen, ausgegrenzten Ästhetiken: Während die DDR-Ästhetik im offiziellen Berlin der neunziger Jahre systematisch eliminiert wurde, hat sich die Club- und Kunstszene über das Recycling von vorgefundenem Material diese kritisch angeeignet.
Auch auf soziale Kategorien wirkt sich das Prinzip des Crossovers aus. So waren die Ende der achtziger Jahre in Westberlin aufkommenden 'Polenmärkte' Orte, wo sich Polen, Türken und Deutsche in einer sonst unbekannten Intensität und Direktheit begegneten. Ein weiteres Beispiel sozialer Mischung ist das von einer privaten Initiative organisierte 'Volxgolf' auf dem Gelände des ehemaligen Stadions der Weltjugend. Hier treffen sich Bauarbeiter, Manager, Flüchtlingskinder, die Szene aus Mitte und Türken aus dem Wedding zum Golfen, spielen mit fluoreszierenden Bällen zuweilen Nachts bei Grillfeuer und Bier. Überhaupt stellen die innerstädtischen Brachflächen unvermutet suburbane oder ländliche Szenen im Herzen der Großstadt dar: Boulespiel auf der Brache am Potsdamer Platz in den achtziger Jahren, Spazierengehen und Grillen auf dem Gleisdreieck, Pony-Reiten auf dem ehemaligen Mauerstreifen hinter dem Hochhaus des Springerkonzerns in Mitte. Oder auch die Szenen aus der Nachkriegszeit, als die Not leidende Bevölkerung Gemüsegärten vor dem Reichstag anlegte, Ackerbau im Tiergarten betrieb oder in den Bombenlöchern baden ging. Und wie der Mensch entfaltet sich auch die Natur. Die Brachflächen Berlins sind mit über 1300 Pflanzenarten die artenreichsten Biotope Europas.
Ihren subversiven Charakter entfalten temporäre Aktivitäten in politischen Aktionen. Sit-ins und Sleep-ins sind eine radikalisierte Version des Reprogramming. Anstatt sich in vorhandene Nischen einzunisten, werden existierende Institutionen wie Fabriken oder Hochschulen durch die Besetzung ihrem normativen Alltag entzogen und für ein alternatives Szenario genutzt. Diese Piraterie ist Mittel zum Zweck, die aggressive Reprogrammierung des Raums ein Werkzeug, um etablierte Strukturen zu verändern. Eingeführt durch die Studentenbewegung der sechziger Jahre, hat sich dieses Mittel des gewaltfreien Widerstands über Hochschul- und Arbeiterstreiks bis in unsere Tage fortgesetzt. Jüngstes Beispiel war die Umwandlung des Alcatel-Kabelwerks in Neukölln im September 1999 in das 'Hotel Alcatel'. Unter diesem Namen besetzte die von Entlassung bedrohte Belegschaft ihre Fabrik.
Aufgrund ihrer Instabilität bilden temporäre Nutzungen für einen Ort zumeist nur eine kürzere oder längere Übergangsperiode. Als Lückenbüßer können temporäre Programme von andersartigen verdrängt werden und spurlos verschwinden. Oft allerdings bilden sie ein Initial. So kann sich eine temporäre Nutzung auch etablieren und eine permanente Form annehmen. Beispielhaft hierfür sind die Hausbesetzungen der achtziger und neunziger Jahre. Zwei Drittel der knapp 500 Häuser wurden geräumt, aber zirka ein Drittel gelangten über Kauf- oder Mietverträge zu einer dauerhaften Nutzung. Heute bilden diese Häuser ein Netzwerk der Alternativkultur, zu dem neben zahlreichen Wohn- und Arbeitskollektiven kulturelle Einrichtungen wie die UFA-Fabrik, das Kerngehäuse, der Schokoladen oder das Tacheles gehören. Ein anderes Beispiel ist die Auguststraße, wo im Sommer 1992 die einwöchige Ausstellung '37 Räume' stattfand. Für verschiedene leer stehende Bauten konzipierten 37 Kuratoren jeweils einen Raum. Dieses einmalige Kunstereignis wurde quasi zu einem Probelauf für die dort inzwischen über 20 etablierten kommerziellen Galerien. Immobilieneigentümer machen sich die Vorteile solcher Initial-Nutzungen zu eigen. Sie tolerieren oder initiieren zunehmend nicht kommerzielle temporäre Aktivitäten, um künftige Nutzungen vorzubereiten, die Immobilie als 'Location' bekannt zu machen, ihren Wert zu erhöhen und ihre Vermarktung zu erleichtern.
Für ihre Initiatoren und Betreiber sind temporäre Nutzungen oft eine Durchgangsstation zur Professionalisierung und Etablierung. Exemplarisch dafür sind die Karrieren des Leiters und des Dramaturgen der Baracke des Deutschen Theaters, Thomas Ostermeier und Jens Hillje. Bekannt geworden durch ihre Arbeit für die provisorische Experimentierbühne in Containerbauten Mitte der neunziger Jahre, haben sie inzwischen die Leitung der Schaubühne am Lehniner Platz mit übernommen. Gleiches gilt auch für die Club- und Galerieszene, die unter anderem zur Gründung von Musik-Labels oder Kulturinstitutionen wie den 'Kunstwerken' in der Auguststraße geführt hat.
Etablierte Institutionen wie Museen oder die Marketingabteilungen großer Konzerne kopieren mittlerweile die nomadische Strategie und den Eventcharakter temporärer Nutzungen. Durch eine Verflüssigung ihrer Strukturen und Konzepte versuchen sie, in die Jugend- und Kulturszene einzudringen. Sie inszenieren Events im Straßenraum, wie etwa 1995 den Street-Soccer-World-Cup im Berliner Lustgarten auf der Museumsinsel, der von der Sportartikelfirma Puma als Teil einer Werbekampagne organisiert wurde. Oder die seit 1997 halbjährlich stattfindende 'Lange Nacht der Museen', in der die Berliner Museumswelt quasi als Partyveranstalter auftritt.
So droht die Urbanität des Temporären in Berlin zum einen durch Verdrängung, zum anderen durch Etablierung oder 'feindliche Übernahme' zu verschwinden. Gleichzeitig entsteht Neues in den abseitiger gelegenen residualen Zonen, unbemerkt von der Öffentlichkeit. In den temporären Nutzungen drückt sich die Instabilität der Großstadt aus. Hier kann sich die überschüssige Energie der großen Stadt entladen, können sich die 'freien Radikalen' entfalten. Entgegen der Trägheit der Architektur, der Erstarrung des Gebauten sind temporäre Aktivitäten in ihrer flüchtigen Leichtigkeit flexibel und wandelbar. Sie generieren und absorbieren das unerwartete Neue. Und so unberechenbar sie sind, werden sie auch in Zukunft immer wieder unerwartet auftauchen.
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Fussnoten :
[ 1 ] Vortrag auf der Konferenz 'Learning from the Mall of America', 22. November 1997 an der Universität von Minnesota, (USA). Die Arbeit ist Resultat einer mit Studenten durchgeführten Studie des 'Harvard Project on the City' (1996/1997)
[ 2 ] Zitiert nach Oliva Henkel, Karsten Wolff: Berlin Underground. Techno und HipHop zwischen Mythos und Ausverkauf, Berlin 1996, S. 32

Philipp Oswalt

erschienen in : 'Berlin_Stadt ohne Form, Strategien einer anderen Architektur' | MŸnchen/ New York | 2000
Quelle: http://www.oswalt.de/de/text/book/b_temp_p.html