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In Zeiten
des Wandels wurde die Stadt immer wieder radikal umorganisiert, wobei
große Areale undefiniert blieben. Der Zusammenbruch von vier deutschen
Staaten, die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, die Teilung der
Stadt, Stagnation und Schrumpfung, Fehlplanungen und Deindustrialisierung
führten zu Verwerfungen und schufen Räume, die dem normalen
Zyklus der ökonomischen Verwertung wie auch dem Alltag der Stadtbevölkerung
entzogen waren. So entstanden scheinbar funktionslose Räume, die
einen Nährboden für unerwartete Aktivitäten bildeten.
Abseits
der herkömmlichen gesellschaftlichen Regeln entwickelte sich hier
eine enorme Bandbreite von spontanen, oft illegalen Aktivitäten von
Gartenbau, Wagenburgen, Märkten, Sport und Erholung bis zu Kunstbetrieb
und Nightlife. Mit diesen entstanden neue Moden, Kulturen, Lebensstile.
Waren es in den siebziger und frühen achtziger Jahren die Hausbesetzer-,
die Alternativ- und die Punkbewegung, die mit kollektiven Lebensformen
und subversiver Ästhetik experimentierten, so bildete sich in den
ersten Jahren der Nachwendezeit die Clubkultur und Technoszene aus, die
eine neue Kunst- und Musikszene hervorgebracht hat. Sie steht exemplarisch
für die Aufbruchseuphorie des neuen Berlin und hat den neuen Hauptstadtmythos
entscheidend geprägt.
Die Orte
der Subkultur sind Zonen der Unabhängigkeit. Als Gegenwelten bieten
sie Raum für Aktivitäten, die von der Gesellschaft ausgegrenzt
oder nicht vorgesehen sind. Rem Koolhaas beschreibt in seiner Untersuchung
zum Thema Shopping den 'Paradigmawechsel vom Öffentlichen und Privaten
zum Kontrollierten und Residualen,'[ 1 ] das heißt Übriggebliebenen. Ihm zufolge
geht es nicht mehr um Öffentlichkeit versus Privatheit, sondern um
den Gegensatz zwischen kontrollierten und aufgegebenen Räumen. Einerseits
gibt es Areale wie etwa Shopping Malls oder Flughäfen, die bis ins
letzte Detail und mit einem extremen Wissen geplant und betrieben werden
und weder öffentlich noch privat sind, andererseits gibt es verwahrloste
Resträume, Zonen des Residualen.
Berlin
war im 20. Jahrhundert ein urbanes Laboratorium zur Untersuchung des Residualen.
Offen für das Unbekannte stellen die Residualräume die Experimentierfelder
der Stadt dar, Katalysatoren für die Entstehung des Neuen. Sie existieren
nur vorübergehend und werden früher oder später der kontrollierten
Substanz des Stadtorganismus wieder einverleibt; doch zugleich bilden
sich andernorts erneut Räume, die für die allgemeine gesellschaftliche
Verwertung nutzlos sind. Wie die Residualräume sind auch die temporären
Aktivitäten instabil. Sie transformieren sich und verschwinden so
spontan wie sie entstehen. Sie reagieren damit auf Ausgrenzung und Verdrängung.
So wurden die 'Polenmärkte' der frühen neunziger Jahre vom Potsdamer
Platz an den Stadtrand Berlins und jenseits der deutsch-polnischen Grenze
gedrängt. Die Clubszene der Nachwendezeit hat durch ihren Erfolg
Entwicklungen stimuliert, die sie nunmehr selbst verdrängen. So wanderte
sie von Kreuzberg über Mitte nach Prenzlauer Berg und Friedrichshain.
Der Nomadismus resultiert aus dem äußeren Druck und der zurückgewonnenen
Kontrolle etablierter Gesellschaftsstrukuren über die Territorien,
doch liegt er auch im Wesen temporärer Nutzungen.
Aufgrund
ihrer Flüchtigkeit sind diese ephemeren Aktivitäten nicht greifbar.
Das Umherziehen wird zu einer Strategie des Verbergens. Beispielhaft dafür
ist das UFO, die erste Techno-Disco aus der Vorwendezeit. Als illegaler
Club entzog er sich durch ständigen Ortswechsel dem polizeilichen
Zugriff und informierte die Gäste über Telefonketten. 'Das UFO
Konzept war einfach. Es steigt auf und landet irgendwo',[ 2 ] sagt Dimitri Hegemann, Initiator
des UFO. Viele Clubs haben dieses Konzept kopiert, immer auf der Suche
nach neuen, außergewöhnlichen Locations. Mittels Musikanlage,
Stroboskoplicht, Nebelmaschine, Drinks und Drogen ließen sich ausgefallene
Orte in wenigen Stunden zu den gefragtesten Clubräumen verwandeln.
Noch einfacher war die Installation einer der legendären Wochentagbars,
die nur einmal wöchentlich geöffnet sind. Die Instabilität
wird zum Motor der ständigen Neuerfindung. Mit dem Ortswechsel geht
die Aktualisierung der Konzeption einher. Und so drohen Clubs zu versteinern,
wenn sie seßhaft werden. Um dies zu vermeiden, wurde das Prinzip
des Club im Club entwickelt. So dient das 'Maria am Ostbahnhof' als Plattform
für andere Veranstalter, wie 'Flittchen-Bar', 'Hirschbar', 'Suicide-Club'
oder 'Lomographische Botschaft', die jeweils ein eigenes Programm verfolgen
und ein anderes Publikum ansprechen. Durch dieses Prinzip wird der Wandel
aufrecht erhalten, der durch die äußeren Umstände nicht
mehr gegeben ist.
Temporäre
Nutzungen entstehen aus losen Gruppierungen, die sich finden, wachsen,
aufspalten, verschmelzen und zerfallen. Diese agieren lokal und flexibel.
In einer Art urbanen Guerilla-Taktik nutzen sie sich auftuende Möglichkeiten
und passen sich veränderten Bedingungen an. Eine extreme Dynamik
entwickelt sich. Temporäre Aktivitäten schaffen ein Maximum
an Intensität mit einem Minimum an Substanz. Bestehende Infrastrukturen,
Bauten und Flächenreserven werden mit geringsten lokalen Mitteln
aktiviert. Die Leichtigkeit erlaubt es Akteuren ohne Kapital, die Stadt
und ihren Raum aktiv zu gestalten. Die Grundregeln des Kapitalismus scheinen
in diesen Zonen außer Kraft gesetzt: Fast ohne Geldmittel können
kulturelle und urbane Experimente realisiert werden und entfalten dabei
häufig eine enorme Wirksamkeit.
Sie breiten
sich wie ein Rhizom aus, durchdringen wie ein Flechtwerk die Stadt, nisten
sich in Nischen und Lücken ein. Oder sie kapern etablierte Orte.
Durch diese Infiltration urbanisieren sie homogene Stadtviertel, erzeugen
eine Durchmischung von Aktivitäten und kompensieren programmatische
Defizite. Als einer Zone des Andersseins strahlen sie auf die Zone des
Alltäglichen und Selbstverständlichen zurück. Sie unterminieren
bestehende Kategorien und Annahmen und destabilisieren existierende Strukturen.
Sie reprogrammieren
aufgelassene, brachliegende Räume. Umspannwerke, Bunker, Kohlenhandlungen
werden zu Orten der Freizeitkultur, Supermärkte und Verwaltungsräume
zu Kunstgalerien, Fabrikbauten zu Wohnungen und Kulturzentren. Wie in
einer surrealistischen Collage treffen Elemente entgegengesetzter Welten
aufeinander. Wohnzimmer werden zu Clubräumen, die Clubszene verschmilzt
mit Jugendsport, Kunst oder Literatur. Es kommt zum Crossover unterschiedlicher,
zuvor getrennter Kulturbereiche. Basis dafür bildet der Club, der
als eine Plattform fungiert, offen für verschiedene Programme. Der
Club wird zum Ort, der lediglich den Raum und die Infrastruktur für
unterschiedliche Aktivitäten und Events bietet. Herkömmliche
Ordnungen werden dabei suspendiert. Im verflüssigten Raum wird Unterschiedliches
miteinander verknüpft. Wenn etwa aus dem Samplen, Rekombinieren und
Verschmelzen vorhandenen musikalischen Materials neue Musikstile entstehen,
wenn Techno mit Jazz oder Choralgesängen, Punk mit Classic oder Salsa,
Hip-Hop mit John Cage rekombiniert wird. Gleiches gilt für die Interieurs
der Clubkultur. Hier treffen Materialien und Gegenstände aus den
unterschiedlichsten Kontexten zusammen. So öffnet sich ein Raum zur
Auseinandersetzung mit verworfenen, ausgegrenzten Ästhetiken: Während
die DDR-Ästhetik im offiziellen Berlin der neunziger Jahre systematisch
eliminiert wurde, hat sich die Club- und Kunstszene über das Recycling
von vorgefundenem Material diese kritisch angeeignet.
Auch auf
soziale Kategorien wirkt sich das Prinzip des Crossovers aus. So waren
die Ende der achtziger Jahre in Westberlin aufkommenden 'Polenmärkte'
Orte, wo sich Polen, Türken und Deutsche in einer sonst unbekannten
Intensität und Direktheit begegneten. Ein weiteres Beispiel sozialer
Mischung ist das von einer privaten Initiative organisierte 'Volxgolf'
auf dem Gelände des ehemaligen Stadions der Weltjugend. Hier treffen
sich Bauarbeiter, Manager, Flüchtlingskinder, die Szene aus Mitte
und Türken aus dem Wedding zum Golfen, spielen mit fluoreszierenden
Bällen zuweilen Nachts bei Grillfeuer und Bier. Überhaupt stellen
die innerstädtischen Brachflächen unvermutet suburbane oder
ländliche Szenen im Herzen der Großstadt dar: Boulespiel auf
der Brache am Potsdamer Platz in den achtziger Jahren, Spazierengehen
und Grillen auf dem Gleisdreieck, Pony-Reiten auf dem ehemaligen Mauerstreifen
hinter dem Hochhaus des Springerkonzerns in Mitte. Oder auch die Szenen
aus der Nachkriegszeit, als die Not leidende Bevölkerung Gemüsegärten
vor dem Reichstag anlegte, Ackerbau im Tiergarten betrieb oder in den
Bombenlöchern baden ging. Und wie der Mensch entfaltet sich auch
die Natur. Die Brachflächen Berlins sind mit über 1300 Pflanzenarten
die artenreichsten Biotope Europas.
Ihren subversiven
Charakter entfalten temporäre Aktivitäten in politischen Aktionen.
Sit-ins und Sleep-ins sind eine radikalisierte Version des Reprogramming.
Anstatt sich in vorhandene Nischen einzunisten, werden existierende Institutionen
wie Fabriken oder Hochschulen durch die Besetzung ihrem normativen Alltag
entzogen und für ein alternatives Szenario genutzt. Diese Piraterie
ist Mittel zum Zweck, die aggressive Reprogrammierung des Raums ein Werkzeug,
um etablierte Strukturen zu verändern. Eingeführt durch die
Studentenbewegung der sechziger Jahre, hat sich dieses Mittel des gewaltfreien
Widerstands über Hochschul- und Arbeiterstreiks bis in unsere Tage
fortgesetzt. Jüngstes Beispiel war die Umwandlung des Alcatel-Kabelwerks
in Neukölln im September 1999 in das 'Hotel Alcatel'. Unter diesem
Namen besetzte die von Entlassung bedrohte Belegschaft ihre Fabrik.
Aufgrund
ihrer Instabilität bilden temporäre Nutzungen für einen
Ort zumeist nur eine kürzere oder längere Übergangsperiode.
Als Lückenbüßer können temporäre Programme von
andersartigen verdrängt werden und spurlos verschwinden. Oft allerdings
bilden sie ein Initial. So kann sich eine temporäre Nutzung auch
etablieren und eine permanente Form annehmen. Beispielhaft hierfür
sind die Hausbesetzungen der achtziger und neunziger Jahre. Zwei Drittel
der knapp 500 Häuser wurden geräumt, aber zirka ein Drittel
gelangten über Kauf- oder Mietverträge zu einer dauerhaften
Nutzung. Heute bilden diese Häuser ein Netzwerk der Alternativkultur,
zu dem neben zahlreichen Wohn- und Arbeitskollektiven kulturelle Einrichtungen
wie die UFA-Fabrik, das Kerngehäuse, der Schokoladen oder das Tacheles
gehören. Ein anderes Beispiel ist die Auguststraße, wo im Sommer
1992 die einwöchige Ausstellung '37 Räume' stattfand. Für
verschiedene leer stehende Bauten konzipierten 37 Kuratoren jeweils einen
Raum. Dieses einmalige Kunstereignis wurde quasi zu einem Probelauf für
die dort inzwischen über 20 etablierten kommerziellen Galerien. Immobilieneigentümer
machen sich die Vorteile solcher Initial-Nutzungen zu eigen. Sie tolerieren
oder initiieren zunehmend nicht kommerzielle temporäre Aktivitäten,
um künftige Nutzungen vorzubereiten, die Immobilie als 'Location'
bekannt zu machen, ihren Wert zu erhöhen und ihre Vermarktung zu
erleichtern.
Für
ihre Initiatoren und Betreiber sind temporäre Nutzungen oft eine
Durchgangsstation zur Professionalisierung und Etablierung. Exemplarisch
dafür sind die Karrieren des Leiters und des Dramaturgen der Baracke
des Deutschen Theaters, Thomas Ostermeier und Jens Hillje. Bekannt geworden
durch ihre Arbeit für die provisorische Experimentierbühne in
Containerbauten Mitte der neunziger Jahre, haben sie inzwischen die Leitung
der Schaubühne am Lehniner Platz mit übernommen. Gleiches gilt
auch für die Club- und Galerieszene, die unter anderem zur Gründung
von Musik-Labels oder Kulturinstitutionen wie den 'Kunstwerken' in der
Auguststraße geführt hat.
Etablierte
Institutionen wie Museen oder die Marketingabteilungen großer Konzerne
kopieren mittlerweile die nomadische Strategie und den Eventcharakter
temporärer Nutzungen. Durch eine Verflüssigung ihrer Strukturen
und Konzepte versuchen sie, in die Jugend- und Kulturszene einzudringen.
Sie inszenieren Events im Straßenraum, wie etwa 1995 den Street-Soccer-World-Cup
im Berliner Lustgarten auf der Museumsinsel, der von der Sportartikelfirma
Puma als Teil einer Werbekampagne organisiert wurde. Oder die seit 1997
halbjährlich stattfindende 'Lange Nacht der Museen', in der die Berliner
Museumswelt quasi als Partyveranstalter auftritt.
So droht
die Urbanität des Temporären in Berlin zum einen durch Verdrängung,
zum anderen durch Etablierung oder 'feindliche Übernahme' zu verschwinden.
Gleichzeitig entsteht Neues in den abseitiger gelegenen residualen Zonen,
unbemerkt von der Öffentlichkeit. In den temporären Nutzungen
drückt sich die Instabilität der Großstadt aus. Hier kann
sich die überschüssige Energie der großen Stadt entladen,
können sich die 'freien Radikalen' entfalten. Entgegen der Trägheit
der Architektur, der Erstarrung des Gebauten sind temporäre Aktivitäten
in ihrer flüchtigen Leichtigkeit flexibel und wandelbar. Sie generieren
und absorbieren das unerwartete Neue. Und so unberechenbar sie sind, werden
sie auch in Zukunft immer wieder unerwartet auftauchen.
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