Philipp Oswalt | 1994
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''Wohltemperierte Architektur' | Le Corbusiers fraktale Geometrien

Für die passive Temperierung von Gebäuden ist die Geometrie des Baukörpers neben den energetischen Eigenschaften der Hülle einer der entscheidenden Faktoren. Die Geometrie bestimmt die Größe der Grenzfläche zwischen den beiden energetischen Sphären des Innen- und des Außenraums. Im klimagerechten Bauen der 70er und 80er Jahre wollte man den energetischen Austausch zwischen diesen beiden Bereichen möglichst minimieren, um den Wärmeaustausch zu verringern. Daher forderte man möglichst kompakte Baukörper mit einer geringen Außenoberfläche. Die Natur scheint dieses Prinzip energetischer Optimierung zunächst zu bestätigen: Bei den Tieren kälterer Klimazonen ist die Körperoberfläche klein gehalten, um den Wärmeaustausch mit der Umwelt zu verringern. Doch wenn wir die Lebewesen genauer untersuchen, stellen wir fest, das einige ihrer Organe, die das Verhältnis von Innen zu Außen regulieren, auf dem gegensätzlichen Prinzip der Oberflächenmaximierung beruhen. Die Lunge, die für den Gasaustausch verantwortlich ist, hat eine höchst kunstvoll vergrößerte Oberfläche. Mit Hilfe von Millionen kleinster Lungenbläschen verfügt die 6 Liter große menschliche Lunge über eine Austauschoberfläche von 100 qm. Ebenso hat der 2m lange Dünndarm, über den die Nährstoffe in den menschlichen Körper gelangen, eine mit Hilfe unzähliger Faltungen und Zotten vergrößerte Oberfläche von 200 qm. Daß bei Lebewesen die Oberflächen zur Luft- und Nährstoffaufnahme maximiert sind, ist bei Pflanzen noch offensichtlicher: Mit einer Blattoberfläche von über 1000 qm kann ein ausgewachsener Laubbaum die Sonneneinstrahlung optimal einfangen und optimal ventilieren. Auch bei Gebäuden erfolgt die natürliche Belichtung, Belüftung und Besonnung über die Außenhaut. Will man diese optimieren, so wird man eine möglichst große Austauschoberfläche bevorzugen. Dieses Konzept wurde von Architekten in den 20er Jahren verfolgt. Ihre Absicht war, ein Maximum an Licht, Luft, Sonne zu garantieren. Das Haus sollte sich zum Außenraum öffnen, von Licht, Luft, Sonne durchdrungen sein. 'Die Sonne einführen, das ist eine neue und die gebieterische Aufgabe des Architekten.' hieß es in der von Le Corbusier 1943 herausgegebenen Charta von Athen. Man verstand die natürliche Umwelt als einen positiven Faktor, den man so weit wie möglich für das Gebäude nutzen wollte. Denn - so schrieb Le Corbusier 1942: 'Isoliert von seiner natürlichen Umwelt stirbt jeder Organismus'. Le Corbusier war es, der die interessantesten und weitesgehenden architektonischen Ideen für eine optimale Verknüpfung von Haus und Umwelt entwickelte. Er entwarf neue Formen der räumlichen Organisation, die durch eine Maximierung der Grenzfläche zwischen Innen- und Außenraum beide Bereiche eng miteinander verzahnten.

Der Luftschwamm
1922 stellt Le Corbusier erstmals sein Konzept der Immeubles-Villas vor. Seine Idee dabei war, für den innerstädtischen Geschoßwohnungsbau einen Wohnungstyp zu entwickeln, der den gleichen Komfort bietet wie eine freistehende Villa. Um trotz der verdichteten Bauweise ein Maximum an Licht und Luft zu bieten, ergänzt er jede Maisonettewohnung mit einem zweigeschossigen, hängenden Garten: 'Jede Wohnung ist in Wirklichkeit ein zweistöckiges Haus, eine Villa mit Ziergarten, gleichgültig in welcher Höhe sie liegt. Dieser Garten bildet eine Wabe von 6 m Höhe, 9 m Breite und 7 m Tiefe, gelüftet durch einen großen Schacht von 15 m im Durchmesser; die Wabe ist eine Lunge; das Haus gleicht einem Riesenschwamm, der Luft aufsaugt: das Haus atmet.' (Urbanisme, 1925). Die Durchsetzung des Baukörpers mit Leerräumen wiederholt sich auf der nächst höheren Maßstabsebene: In der für den 'Pavillon de l'Esprit Nouveau' überarbeiteten Fassung der Immeubles-Villas ist die wabenförmige Bebauung um einen Park im Blockinneren gruppiert. Durch die mehrfache schwammartige Durchlöcherung des Baukörpers wird dessen Oberfläche vielfach vergrößert, wodurch die Belüftung und Belichtung optimiert wird. Le Corbusier weist selber darauf hin, welches Vorbild ihn zu dieser eigenwilligen Baukörperform inspiriert hat. 1933 schreibt er in seinem Buch 'La Ville Radieuse': 'Mir ist bewußt geworden, daß die Lunge der Schlüssel zum Leben ist ... Eben jetzt, wo ich am Schreiben bin, lege ich meinen Füller nieder und schlage ein Physiologiebuch für Medizinstudenten auf, um nach beeindruckenden Fakten zu suchen. Ich bin mir sicher, daß sie dort zu finden sind. Hier sind sie, klar und einfach erklären sie unsere Pflichten: 'Die Lungen sind die wesentlichen Atmungsorgane; in den Lungen wird dunkles Blut in rotes Blut umgewandelt... Die Umwandlung tritt auf dank des Gasaustausches zwischen dem Blut und der Außenluft... In der Lunge ist der Raum, der durch Luft ausgefüllt werden kann, in hohem Maße vermehrt dank der Lungenbläschen, die eine Oberfläche von schätzungsweise 200 qm bilden .... Und die unzähligen, feinverzweigten Blutgefäße bilden eine Fläche von 150 qm.''
Le Corbusier nennt bereits 1922 seinen Entwurf der Immeubles Villas eine 'Geschlossene Siedlung in Alveolenform': Das französische Wort Alveole heißt einerseits Wabe, aber zugleich ist es auch der medizinische Fachausdruck für Lungenbläschen. Und tatsächlich ähnelt sein Siedlungsentwurf einer Anhäufung von Lungenbläschen: Während die begrünten Leerräume jeden Blocks der Luftzirkulation dienen, entsprechen die Verkehrsadern den Blutkapillaren. Die Wohnung bildet die Grenzschicht, die auf der einen Seite von Luft, auf der anderen von Verkehr umspült ist. Daß Le Corbusier die Architektur der Lunge in eine Gebäudeform überträgt, ist noch weit aus überraschender, wenn man bedenkt, das es eigentlich die einfachen primären Formen der platonischen Körper sind, die er bevorzugt. Sein Entwurf für die 'Geschlossene Siedlung in Alveolenform' basiert hingegen auf einer Formenwelt, die der klassischen Geometrie fremd ist, und die wir erst seit kurzer Zeit mit der fraktalen Geometrie beschreiben können. Eines der wichtigen Charakteristika fraktaler Körper ist, das sie bei einem begrenzten Volumen eine (nahezu) unendlich große Oberfläche haben. Als Beispiel dafür führt Benoit Mandelbrot in seinem Buch 'Die fraktale Geometrie der Natur' eben gerade die von Le Corbusier so detailiert beschriebenen Lungenbläschen an.
Le Corbusiers Entwurf der Immeuble Villas läßt sich auf die fraktale Geomterien eines Sierpínski-Teppichs bzw. Mengerschen Schwamms zurückführen, deren Form durch das wiederholte Ausschneiden von Löchern aus einem Volumen entstehen. Man erhält ein Sierpinski-Teppich, indem man ein Quadrat durch Drittelung der Kanten in neun gleich große Quadrate teilt und das mittlere Quadrat entfernt. Sodann wiederholt man die Operation mit jedem der acht verbliebenen Quadrate, indem man in der Mitte jedes einzelnen ein quadratisches Loch ausschneidet. Verfährt man in entsprechender Weise mit einem dreidimensionalen Kubus, so entsteht ein Mengerscher Schwamm, der eine unendlich große Oberfläche hat, jedoch keinerlei Volumen besitzt. In ähnlicher Weise verfährt Le Corbusier bei seinem Entwurf für die Immeubles Villas, indem er auf jeder Maßstabsebene - Stadt, Gebäudeblock, Wohnung - aus dem Bauvolumen Leerräume ausschneidet. So entsteht ein 'Luftschwamm', dessen äußerst große Oberfläche eine optimale Belüftung und Beleuchtung ermöglicht. Noch deutlicher als bei den Immeubles Villas wird das Prinzip des Luftschwamms bei einem Projekt für vorstädtische Wohngebäude, die Le Corbusier 'maisons alvéoles' nennt. Die mehrgeschossigen Häuser sind in ganzer Tiefe von zweigeschossigen Gärten durchlöchert, die jeweils mit einer ebenso großen zweigeschossigen Wohnung eine Einheit bilden. Schachbrettartig wechseln sich volle und leere Volumen miteinander ab. Die Gebäude sind mäanderförmige angelegt, so daß sich das Wechselspiel von Voll und Leer in der Siedlungsform wiederholt. Das Resultat dieser Form ist - so Le Corbusier: 'Die Sonne dringt überall hin, ebenso die Luft.' Das Prinzip der Auflockerung durch Luftwaben findet sich in dieser Zeit bei fast allen seiner Entwürfen: Bei den Reihenhäusern für Pessac von 1925 ebenso wie bei der Cité universitaire pour étudiants von 1925, sozusagen einer horizontalen Wabenform, bei der die flächenhafte Bebauung mit Lichthöfen aufgelockert ist, so daß Hofhäuser entstehen. Und auch bei den Villen, bei dem zweiten Entwurf für die Villa Meyer sowie bei der Villa Savoie, sind Luftwaben ein wichtiges Element der Gebäudekonzeption. So beschreibt Le Corbusier in den 'Précisions' von 1929 die Villa Savoie folgendermaßen: 'Die verschiedenen Zimmer, die Beleuchtung und Aussicht durch das um das Haus herumlaufende Fenster erhalten, führen strahlenförmig zu einem Hängegarten, der gleichsam ein Verteiler von Licht und Sonne ist.Auf diesen Hängegarten öffnen sich die Schiebeglaswände des Salons und mehrerer Zimmer des Hauses: so kann also die Sonne bis ins Herz des Hauses gelangen.... Überall Luft und Licht.'

Die Faltung
So virtuos Le Corbusier seine Idee des Luftschwamms bei unterschiedlichsten Gebäudetypen anwendet, erweist sie sich doch für das Hochhaus als ungeeignet, vor allem bei den Größendimensionen, die Le Corbusier dafür vorschweben: Es soll bei einer Grundfläche von 150 m x 150 m 220 m hoch sein und bis zu 50.000 Angestellten Platz bieten. Durch diese unermeßliche Größe ist das Problem der Beleuchtung und Belichtung nahezu unlösbar geworden, denn der Außenflächenanteil je Raumeinheit ist verschwindend gering. Durch die Vergrößerung des Volumens reduziert sich der Anteil der Außenoberfläche, der je Raumeinheit zur Verfügung steht. Immer weniger Fassadenfläche muß immer mehr Innenraum belichten und belüften. Rem Koolhaas beschreibt in seinem Buch Delirious New York diese geometrische Eigenschaft sehr großer Gebäude und weist auf ihre gestalterischen Implikationen hin: 'Die 'ehrliche' Fassade spricht über die Aktivitäten, die sie verbirgt. Doch mathematisch gesehen vermehrt sich bei dem Wachsen eines dreidimensionalen Objektes das Volumen in kubischen Sprüngen und die umgebende Hülle nur in langsamer Oberflächenzunahme: Immer weniger Oberfläche muß immer mehr innere Aktivität repräsentieren. Jenseits eines kritischen Punktes zerbricht diese Beziehung, das Gebäude wird zum Automonument.' Der Innenraum wird unabhängig von der Fassade und somit auch vom Außenraum. Das Resultat ist die völlige Künstlichkeit des Gebäudeinneren.
Doch diese will Le Corbusier gerade vermeiden: 'Der Zweck des Wolkenkratzers: ... Zu garantieren, daß dieser für intensive Arbeit vorgesehene Ort ausgestattet ist mit Ruhe, frischer Luft, Tageslicht, riesigem Horizont, weiten Ausblicken... Luft, Licht, Freude.' (La ville radieuse, 1933). Dies scheint mit dem riesenhaften Volumen sehr großer Gebäude unvereinbar. Der einzige Ausweg: Ein riesenhaftes Gebäude, das nur aus Außenwand besteht und eigentlich kein Volumen hat. Und so entwirft Corbusier seinen 'kartesianischen Wolkenkratzer' als Faltung einer Fläche. Oder anders gesagt: Le Corbusier faltet das Volumen des Baukörpers auf, bis er trotz seiner riesenhaften Dimensionen nur noch eine minimale Gebäudetiefe besitzt. Zunächst entfaltet er das Volumen zu einem Kreuz. In einem zweiten Schritt faltet er die Außenseiten jedes Kreuzarms sägezahnförmig auf. Die Vorteile der so entstandenen, ungewöhnlichen Gebäudegeometrie beschreibt Le Corbusier 1933 in seinem Buch 'La ville radieuse': 'Diese Form bietet die maximal mögliche Fassadenfläche, daher die maximale Fensterfläche, daher die maximale Lichtmenge. Die Büros haben nie eine Tiefe von mehr als 7 Meter, gemessen von der völlig verglasten Oberfläche der Fassade: Es gibt daher keine dunklen Büros.' 'Die Hochhäuser baden in Licht und Luft.'.
Corbusier nennt den von ihm entworfenen Baukörper einen 'radiateur', einen Strahlensender von Licht. 'Radiateur' ist der französische Ausdruck für Heizkörper oder Heizstrahler. Und tatsächlich sehen seine kartesianischen Hochhäuser aus wie zwei kreuzförmig zusammengesteckte Heizkörper. Le Corbusiers Idee ist, daß in der Weise, wie ein Heizkörper Wärme abstrahlt, die gläserne Fassade Licht in den Innenraum ausstrahlen soll. Auch diese von Le Corbusier entwickelte Form läßt sich mit fraktaler Geometrie beschreiben. Sie ähnelt einer Kochschen Kurve, die durch die wiederholte Faltung der Umrißlinie einer Dreiecks-Fläche entsteht und unendlich lang ist, obwohl sie nur einen endlich großen Flächeinhalt begrenzt. Derartige fraktale Auffaltungen finden sich ebenfalls in der Natur: der Dünndarm des Menschen ist auf drei Maßstabsebenen gefaltet, wodurch die ursprüngliche Oberfläche um das 300 - 1600 fache vergrößert wird.
Auf Faltung beruhen auch die von Le Corbusier entwickelten mäanderförmigen Siedlungsformen für Algier und die Ville Radieuse. Durch die Faltung linearer Baukörper sollen hierbei große Areale flächendeckend mit gut durchlüfteten und beleuchten Gebäuden bebaut werden. In ihrer extremen Ausformulierung muten uns Le Corbusiers Entwürfe exotisch an, aber das dabei formulierte Prinzip der Faltung finden wir in der Baugeschichte sehr großer Gebäude wieder. Und zwar eben genau dann, wenn auf eine künstliche Klimatisierung verzichtet wird. So stellte Steven Holl fest, das die amerikanischen Hochhäuser vor dem Aufkommen künstlicher Klimatisierung max. 16 m tief waren. Große Baugrundstücke wurden daher mit flächenfüllenden linearen Gebäuden in Mäanderform bzw. Buchstabenformen bebaut. Nachdem sich Ende der 20er Jahre die Klimatisierung von Gebäuden in Amerika allgemein durchgesetzt hatte, verzichtete man auf eine natürliche Belüftung und Beleuchtung zugunsten einer höheren Grundstückausnutzung. Kompakte Baukörper mit sehr großen Gebäudetiefen waren die Folge. Seit anfang der 70er Jahre ist man wieder aufgrund der Ölkrise und der gesundheitlichen Beschwerden in klimatisierten Räumen darum bemüht, Gebäude natürlich zu belichten und zu belüften. Bei großen Gebäuden erfodert dies eine Vergrößerung der Außenoberfläche, wie sie von Le Corbusier angedacht worden ist. So entwickelte der amerikanische Architekt Kevin Roche für die 120.000 qm Nutzfläche umfassende Hauptverwaltung von Union Carbide (1976-82) eine fraktal aufgefächerte Gebäudeform. Durch Faltung wurde die Oberfläche des Gebäudes verdreifacht, was die natürliche Belichtung und Belüftung aller Büros ermöglicht. Die Entwicklung sehr großer Gebäude zeigt, daß die energetisch optimale Gebäudeform für verschiedene Gebäudegrößen unterschiedlich ist. Soll die Beleuchtung und Belüftung auf natürliche und somit passive Weise erfolgen, muß die Außenoberfläche eines Gebäudes im Verhältnis zum Volumen ausreichend groß sein. Während bei kleinen Gebäuden dafür kompakte Baukörper ausreichend sind, erfordern große Gebäude Baukörper mit maximierter Oberfläche. Eine solche Abhängigheit zwischen Größenordnung und optimaler Geometrie finden wir auch in der Natur wieder. Das Volumen der Gehirne von Säugetieren variiert zwischen 0,3 und 3000 ml. Die Hirnrinde ist bei kleinem Hirnvolumen glatt, bei großem Hirnvolumen gefaltet, unabhängig vom Intelligenzgrad. Um das offenbar erforderliche Oberflächen-Volumenverhältnis konstant zu halten, wird das Hirn um so mehr gefaltet, je größer es ist.

Optimale Gebäudegeometrien
Die Frage nach der energetisch optimalen Gebäudegeometrie ist schwieriger zu beantworten als bisher angenommen wurde: Während für die Reduzierung des Heizenergiebedarfs geringe Oberflächen von Vorteil sind, wird die Besonnung, Belichtung und Belüftung durch große Gebäudeoberflächen verbessert. Die bisherigen Ansätze des energiesparenden Bauens beruhen auf einer Reduzierung der Energieflüsse zur Heizenergieeinsparung. Le Corbusier geht von der gegenteiligen Idee der Maximierung der Austauschprozesse aus. Dahinter steht die Vorstellung vom fließenden Raum. Innen und Außen sollen in einem offenen Autausch zueinander stehen und eng miteinander verbunden sein. In Hinsicht auf ein optimales Raumklima ist weder eine absolute Reduzierung noch eine absolute Maximierung der Energieströme erstrebenswert. Für die einzelnen Parameter - Licht, Luft, Wärme - sind die Optima verschieden und sind auch im Jahresverlauf äußerst unterschiedlich. Bei der energetischen Optimierung stellen die verschiedenen Energieflüsse somit unterschiedliche Anforderungen an die Gebäudeform:

- Für eine Vermeidung von Wärmeverlusten sind geringe Oberflächen vorteilhaft. Die Bedeutung der Oberflächengröße ist jedoch abhängig von den Oberflächeneigenschaften. Bei einem konventionell gedämmten Wohngebäude kann durch die Halbierung der Außenoberfläche der Heizenergiebeadrf um 30% verringert werden. Bei einem sehr gut gedämmten Niedrigenergiehaus wird durch die Halbierung der Außenoberfläche der Heizenergiebedarf nur um 12% gesenkt. Hier spielen andere Faktoren wie der Lüftungswärmebedarf eine wesentlich entscheidendere Rolle.
- Zur Optimierung von solaren Energiegewinnen sind große, südorientierte Flächen vorteilhaft. Gebäudehüllen mit transparenter Wärmedämmung weisen auch in unserer Klimazone während der Heizperiode eine positive Wärmebilanz auf. Die Transmissionswärmeverluste südorientierter Flächen werden durch die solaren Wärmegewinne mehr als ausgeglichen. Für das Energieautarke Solarhaus des Fraunhofer Instituts Freiburg wurden verschiedene Gebäudegeometrien unter Berücksichtigung solarer Wärmegewinne untersucht. Als am besten erwies sich hierbei ein langgestreckter, nach Süden orientiert Baukörper mit einem Verhältnis Breite zu Tiefe von ca. 3:1.
- Für eine natürliche Lüftung und Beleuchtung darf im allgemeinen die Baukörpertiefe nicht mehr als 15 m betragen. Das heißt, das Verhältnis von Außenfläche zu Volumen sollte ein bestimmtes Minimum nicht unterschreiten. Je größer ein Gebäude ist, desto aufgelockerter muß die Gebäudegeometrie sein. Da eine künstliche Beleuchtung und Belüftung eines Gebäudes wesentlich mehr Primärenergie benötigt als die Beheizung, sollte die Verringerung des Heizenergiebedarfs durch Oberflächenminimierung in keinem Fall die natürliche Beleuchtung und Belüftung verhindern.

Aus den widersprüchlichen Anforderungen ergibt sich, daß nicht eine bestimmte Gebäudeform energetisch ideal ist. Je nach Oberflächeneigenschaften, Gebäudegröße und benötigtem Temperierungs- und Beleuchtungsniveau sind unterschiedliche Gebäudegeometrien vorteilhaft. Da Sonne und Wind gerichtete Energieströme sind, wird die jeweilige optimale Gebäudeform nicht zu jeder Seite gleich sein, sondern zur Maximierung oder Minimierung von Energieflüssen sich den jeweiligen Energieströmen zu- oder abwenden. Energetisch gesehen gibt es keine absolute Trennung zwischen innen und außen. Energieströme können nicht völlig unterbunden werden, man kann sie lediglich regulieren, verstärken oder schwächen. Der energetische Raum fließt. In der klassischen Moderne wurde man sich erstmals dieser dynamischen Prozesse bewußt. Man versuchte, Gebäude in Hinsicht auf Energie- und Verkehrsflüsse zu organisieren und die Austauschprozesse zu maximieren. In Abkehrung von der klassischen Vorstellung klar abgegrenzter Räume sprach man vom fließenden Raum. Durch die Beschäftigung mit dem Energiehaushalt von Bauten hat die Idee des fließenden Raums eine neue Bedeutung erlangt. Dabei deutet sich heute ein neues, differenzierteres Verständnis vom fließendem Raum an, das der japanische Architekt Toyo Ito folgendermaßen umschreibt: 'Mit dem Entwerfen von Architektur werden Verwirbelungen in den Strömungen von Wind, Licht und Schall geschaffen. Entwerfen von Architektur heißt weder, daß man Dämme gegen die Strömung baut, noch daß man sich ihr überantwortet.' Vielmehr geht es darum, sich der vorhandenen Strömungen bewußt zu werden und diese zu regulieren. Durch die Durchlässigkeit und Dichte der Raumumschließungsfläche wird das energetische Feld eines Raums moduliert. Werden die Raumumschließungsflächen nicht als Grenzen, sondern als Austauschflächen aufgefaßt, führt dies zu anderen Formen. Le Corbusiers Idee von der Fassade als 'radiateur', als Lichtstrahler, veranlaßte ihn, völlig neue Gebäudeformen zu entwickeln.
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Weiterführende Literatur:
- Le Corbusier: Urbanisme, Paris 1925, deutsche Ausgabe: Städtebau, Stuttgart 1929
- Le Corbusier: Précisions, Paris 1929, deutsche Ausgabe: Feststellungen zu Architektur und Städtebau, Braunschweig 1964
- Le Corbusier: La ville radieuse, Paris 1933
- W. Boesinger, O. Stonorov (Hrsg.): Le Corbusier. Oeuvre Comlète, Volume 1: 1910-1929, Zürich 1964
- Steven Holl: The Alphabetical City, Pamphlet Architecture Nr.5, New York 1980
- Benôit Mandelbrot: Die fraktale Geometrie der Natur, Basel 1987

Philipp Oswalt

erschienen in : 'Wohltemperierte Architektur' | Hrsg. Philipp Oswalt (unter Mitarbeit von Susanne Rexroth) | Heidelberg | 1994
Quelle: http://www.oswalt.de/de/text/book/wa_corbu_p.html