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Ich befinde mich in einer kritischen Phase. Ich bin jetzt 48 Jahre
alt, und das ist ein gefährliches Alter. Schauen Sie sich andere
Architekten an. Entweder hat man sehr viele Projekte und nichts mehr
zu sagen oder man macht nur ein oder zwei Bauten und bewahrt sich ein
gewisses Maß an Frische. Und das ist es, was ich vorhabe. Am liebsten
würde ich nichts anderes machen, als die Bibliotheken von Jussieu
zu bauen. Ich bin gerade dabei, mein Büro zu verkleinern. Die Vorstellung,
die nächsten vier Jahre mit 10-15 statt mit 50 Leuten zu arbeiten,
erscheint mir ungeheuer attraktiv.
Wir haben
den Eindruck, daß Ihre neuen Projekte wie Jussieu und Yokohama
einen Bruch innerhalb Ihrer Arbeit markieren. Es scheint, als würden
Sie versuchen, mit Ihrer eigenen Geschichte zu brechen und ganz neu
anzufangen, eine abstraktere Art von Architektur zu entwickeln.
Ich habe
immer schon dieses Problem der Sprunghhaftigkeit gehabt, aber jetzt
nimmt es ernsthafte Formen an.
Ihr Entwurf
für Jussieu ist ein erstaunlich mutiger Vorschlag, wenn man bedenkt,
daß Sie dieses Projekt tatsächlich bauen wollen.
1968
war ich Journalist bei einer holländischen Zeitschrift und fuhr
im Mai nach Paris, um über die Ereignisse dort zu berichten. Und
als ich noch jünger war, hatte ich Kontakt zur holländischen
Fluxus-Gruppe und kannte von daher auch einige der Situationisten. Zu
'68 hatte ich immer eine zwiespältige, teilweise kritische Einstellung,
aber je älter ich werde, desto stärker wird mir bewußt,
wie sehr ich davon geprägt bin, viel mehr, als ich damals dachte.
Sie sagen, es sei ein mutiger Entwurf, aber ich glaube, es ist einfach
eine furchtbare 'Mai-68-Programmierung', so etwas zu tun. In diesem
Sinne ist es ein sehr politisches Projekt. Nicht zuletzt auch deswegen,
weil der bestehende Campus eines der wichtigen Zentren des Pariser Mai
gewesen ist.
Meinen
Sie damit das Aufbrechen von starren Strukturen durch das Denken in
Flüssen, Strömen und Prozessen, das Arbeiten mit offenen,
vagen und sich verändernden Formen?
Es gibt
starke Analogien zwischen den Themen unserer Arbeit und denen von Gilles
Deuleuze. Deuleuze unterscheidet in seinem Buch 'Tausend Plateaus' zwischen
zwei Arten von Raum - dem gekerbtem und dem glatten Raum. Den gekerbten
Raum kann man sich vorstellen als eine in Ackerfelder aufgeteilte Landschaft,
in der alles meßbar, abgezirkelt und von definierten Linien eingefaßt
ist. Und der glatte Raum kann mit dem Meer oder der Wüste verglichen
werden, er ist nicht faßbar, fließend. Projekte wie Jussieu
oder Agadir besitzen ganz offensichtlich eine starke Analogie zu dieser
Vorstellung des glatten Raums. Wir haben die Arbeiten von Deleuze erst
im nachhinein entdeckt, aber es sind ganz parallele Entwicklungen, die
eine geistige Verwandtschaft aufzeigen.
Der glatte
Raum ist sozusagen die Antithese zum Konzept des Rasters, wie es Superstudio
in den 70er Jahren formuliert hat und wie es sich auch in Ihren früheren
Projekten und in 'Delirious New York' wiederfindet.
Die Arbeiten
von Superstudio waren für mich wichtig und haben mich stark beeinflußt,
aber heute erscheint mir ein Projekt wie La Villette viel zu kontrolliert
und reguliert, auch wenn es damals sehr aufregend war. Oder unser Entwurf
für die Pariser Expo, der auf einer strengen, unerbittlichen Organisation
basiert. Inzwischen haben wir uns davon frei gemacht. So gibt es bei
dem Projekt für Yokohama Ordnung und Struktur nur im Sinne von
Proximitäten und Distanzen, Flüssen und Strömen.
Neue Naturwissenschaften
Ebenso
wie in der Philosophie stellen die neuen Entwicklungen in den Naturwissenschaften
die klassischen Ordnungen und Kriterien in Frage. Durch die neuen Erkenntnisse
der Chaos- und Katastrophentheorie, der Komplexitäts- und KI-Forschung,
der Mathematik und Logik, wurden unsere Vorstellungen von Linearität,
Kausalität, Stabilität, Vorhersehbarkeit in eine tiefe Krise
gestürzt. Inwieweit werden Sie durch die neuen Naturwissenschaften
in Ihrer Arbeit beeinflußt?
In meiner
Argumentation gab es schon immer eine - ich möchte nicht sagen
wissenschaftliche, aber doch aufklärerische oder unemotionale,
mathematische Komponente. Diese Aspekte unserer Arbeit haben eine Faszination
ausgeübt auf einige mit mir befreundete amerikanische Intellektuelle
wie Sanford Kwinter und Greg Lynn, die sich ansonsten mit den neuen
Entwicklungen in der Naturwissenschaft und Technolgie beschäftigen.
Und so haben sie eine sehr spekulative Interpretation unserer Arbeit
entwickelt, die sich nun umgekehrt auf unsere Arbeit auszuwirken beginnt.
Ihre Spekulationen sind teils Interpretation, teils Korrektur, teils
Orientierung, stimmen jedoch nur teilweise mit meinen Intentionen überein
und haben wie jede Interpretation einen eingrenzenden Effekt, was in
mir eine gewisse Klaustrophobie auslöst. So versuche ich, sie immer
auf Abstand zu halten.
Wie dem auch sei, sie führen jedenfalls eine Reihe naturwissenschaftlicher
Prototypen in den Diskurs ein, und das ist für mich äußerst
interessant. Ich frage mich allerdings, ob es nicht einfach moderne
Metaphern sind und gar nicht um die wissenschaftlichen Modelle als solche
geht. Wir haben fast alle nicht die Kompetenz, die neuen Naturwissenschaften
wirklich zu verstehen, wir verstehen sie nur als Metaphern. Ich selber
habe eine sehr kannibalistische Einstellung gegenüber Metaphern.
Sie
haben in letzter Zeit ein zunehmendes Interesse für das Konzept
des Chaos als einer Methode zur Formalisierung der Wirklichkeit entwickelt.
Wie beeinflußt dies Ihre Arbeitsweise?
Ich finde,
es ist wichtig, daß es heute eine wissenschaftliche Chaostheorie
gibt, die all das erklären kann, was früher nicht erklärbar
schien. Und es ist ungeheuer aufregend, daß diese Theorie enge
Parallelen mit der Funktionsweise unseres Gehirns aufweist. Es ist eine
vielversprechende, komplexe Theorie, die uns hilft, die Welt besser
zu verstehen und weniger in Depressionen zu verfallen.
Eines der größten Probleme für Architekten und überhaupt
für jeden Menschen ist die Unmöglichkeit, Dinge, die völlig
unbeabsichtigt entstanden sind, ganz einfach zu genießen. Meist
werden sie nur als Scheitern edler Ideen verstanden. Statt dessen könnte
man sie als Teil eines kontinuierlichen Prozesses von Entropie, Degeneration
oder Desintegration interpretieren. In diesem Sinne ist diese neue Theorie
sehr hilfreich, da sie uns die Möglichkeit gibt, die Dinge anders
zu sehen.
Gleichzeitig werde ich jedoch zunehmend skeptischer, was den Beitrag
betrifft, den die Chaostheorie für die Architektur leisten könnte.
Je direkter und unmittelbarer der Einfluß dieser Theorie auf die
Architektur ist, um so verheerender sind die Auswirkungen.
Es gibt
aber in den Ingenieurwissenschaften eine intensive Beschäftigung
mit chaotischen Prozessen, die zu einem neuen Verständnis der Möglichkeit
von Interventionen geführt hat. Doch bleiben solche Prozesse unsichtbar
und entziehen sich damit dem Architekten und der Architektur.
Das ist
für mich nicht umbedingt ein Problem. All diese Fragen von Luftturbulenzen,
Logistik, Verkehrsströmen usw. interessieren mich sehr. Mein Widerstand
gegen Architektur ist so stark, daß die Unsichtbarkeit ein guter
Punkt sein könnte, eine wichtige Überlegung. Ich denke, daß
die neuere Physik und Mathematik ein großes Potential haben für
die Analyse von Stadtentwicklungen. Begriffe wie 'Attraktor' können
sehr wichtig werden, um urbanistische Fragen zu klären.
Zeitgenössische Kunst
Sie arbeiten
mit modernen Künstlern zusammen. Sie haben Gunter Förg an
der Rotterdammer Kunsthalle beteiligt. Bei dem Hochhaus 'Danton' für
Paris La Défense wollen sie mit Jenny Holzer zusammenarbeiten.
Bei den Fassaden für Jussieu zitieren Sie die Glas-Iglus von Mario
März. In welcher Weise wird Ihre Arbeit von der zeitgenössischen
Kunst beeinflußt? Versuchen Sie, in Ihrer Architektur Kunst und
Wissenschaft miteinander zu verbinden, etwa wie Bernard Tschumi in den
70er Jahren, als er versuchte, seine abstrakten und rationalen Konzepte
mit der unbewußten Sensibilität von Künstlern zu verbinden?
So könnte
man es natürlich erklären, aber ich würde es eher mit
der Arbeitsweise eines Journalisten vergleichen. Es ist nicht so, daß
ich Kunst und Wissenschaft verfolge und dann versuche, beides zu kombinieren.
Ich lese vielmehr alles, ich lese den 'Spiegel' ebenso wie den 'Stern',
'Max' wie die 'New York Book Review', ich lese Schund ebenso wie wichtige
Dinge. Ich bin ein Allesfresser, der gleichermaßen Kunst, Wissenschaft
und Trash verspeist. Für unsere heutige Zeit ist die Gleichheit
aller Informationen charakteristisch, was ebenso wundervoll wie furchtbar
ist. Insofern habe ich einen Widerwillen dagegen, von spezifischen Einflüssen
zu sprechen. Im Gegenteil, für mich ist es gerade die Archäologie
all der verschiedenen Schichten, die Art, wie sie sich zueinander bewegen
und in geheimer Weise miteinander verbunden sind, welche geheimen Verbindungen
es zwischen den vulgärsten und den erhabensten Dingen gibt.
Ermöglicht
einem nicht das Aufgreifen von technisch-wissenschaftlichen ebenso wie
von künstlerischen Entwicklungen, zu Innovationen zu kommen und
eine neue Aktualität zu entwickeln, sozusagen den frischen Wind
aus Naturwissenschaft und Kunst einzufangen?
Ich stelle
diesen Wahrheiten meine persönliche Wahrheit gegenüber. Letztendlich
ist alles eine Stimulation, ob es nun Naturwissenschaft, Kunst, Pornographie
oder Sex ist. Wir schwimmen alle in einer Marinade, und wir kennen diese
Marinade nicht.
Das erinnert
an die Definition der Informationstheorie, Information sei lediglich
das Unwahrscheinliche, es ginge nicht um Bedeutung. Es gibt keine Wertung,
es gibt nichts Wichtiges und nichts Unwichtiges, es ist eine allgemeine
Suppe.
In unserer
Arbeit geht es dann aber sehr wohl um Bedeutung. Ich sage nicht, daß
sie unbedeutend ist oder nichts bedeutet. Das betrifft nur die Einflüsse.
Ein wichtiger Einfluß ist auch die Mode. Man sollte sich dessen
bewußt werden und zugeben, daß wir heute alle modefühlig
sind und daß es einen überaus komplexen Zusammenhang zwischen
Mode und Orginalität gibt.
Inszenierung des Programms
Ihre
Architektur hat oft einen theatralisch-inszenatorischen Charakter. Sie
thematisieren das Programm und die Nutzung des Gebäudes nicht nur
als pragmatisch-utilitaristisches Problem, es ist für Sie zugleich
eine 'Handlung', die dramatische Struktur für die Inszenierung
des Raums.
Das ist
zwar richtig, aber ich finde es eine der weniger interessanten Aspekte.
Diese Fragen spielen während unserer Arbeit keine Rolle, was nicht
heißt, daß sie am Ende nicht doch vorhanden wären.
Aber
nehmen wir z.B. Ihre Werkmonographie, an der Sie gerade arbeiten. Darin
stellen Sie Ihre Entwürfe nicht als Objekte dar, sondern versuchen,
für jedes eine eigene Story zu entwickeln. Sie sagen zwar, es sei
nicht Ihre Art, einen Entwurf vom Theatralischen her zu entwickeln,
aber in der Präsentation der Arbeiten ist dieses Thema sehr wohl
präsent, vor allem bei der Kunsthalle, und dort ist es offensichtlich
auch Teil des Architekturkonzepts.
Vielleicht könnte man sagen, daß das Arbeiten mit Erzählungen
ein Versuch ist, das Unbewußte oder das Vorgefundene in eine Struktur
oder Logik zu bringen, aber nicht, um daraus eine Strategie für
das eigene Handeln zu entwickeln, sondern nur, um das Material, das
man vorfindet, zu strukturieren.
Das stimmt,
aber gleichzeitig irritiert es mich sehr oft. Seit ich Journalist und
Drehbuchautor war, weiß ich, daß ich die Fähigkeit
habe, Verbindungen herzustellen, Szenenfolgen und Erzählstrukturen
zu entwickeln. Aber es irritiert mich auch, und zwar wegen seiner linearen
Struktur und den sich daraus ergebenden Zwängen. Der Entwurf für
die Bibliotheken von Jussieu ist ein Versuch, dem zu entkommen. Er ist
weniger linear, er ist vielschichtiger, und es gibt mannigfaltige Möglichkeiten,
ihn zu interpretieren.
Wobei
wir mit dem Theatralischen gar nicht das Lineare meinen, sondern eher
die Vielschichtigkeit des Raumerlebnisses, daß der Raum z.B. bei
Jussieu nicht homogen, sondern in verschiedene Bereiche differenziert
ist, die jeweils einen ganz eigenen Charakter haben.
Kollektive Räume
In Hinsicht
auf das Programm finde ich eine andere Frage viel wichtiger. Unsere
letzten Projekte sind meist öffentliche Gebäude und Artikulationen
des Kollektiven - und das in einer Zeit, die sich eigentlich dagegen
wehrt und gar keine Programme mehr hat, mit denen das Kollektive artikuliert
werden könnte. Wir interpretieren unsere Projekte als öffentliche
Gebäude, ganz entgegen der allgemeinen Tendenz des Verschwindens
des öffentlichen Raums. Ich komme mehr und mehr zu der Auffassung,
daß es für die Architektur wichtig sein könnte, eine
Art von Widerstand zu entwickeln. Das gilt auch für die intellektuellen
Einflüsse. Da ist Derrida, der sagt, daß die Dinge nicht
mehr ganz sein können, da ist Baudrillard, der sagt, daß
die Dinge nicht mehr echt sein können, da ist Virilio, der sagt,
daß die Dinge nicht mehr da sein können, und dann gibt es
die Chaostheorie, die ebenfalls einen starken Einfluß hat. Ich
finde einfach - seit 1989 -, daß die Architektur die Pflicht hat,
sich diesen Tendenzen entgegenzustellen. Das ist auch meine Kritik an
Jean Nouvel, der mit seinen Entwürfen versucht, diese Tendenzen
vorwegzunehmen. Er möchte noch simulierter sein als Baudrillard
und noch schneller sein als Virilio. Ich glaube, das ist nicht das eigentliche
Problem. Die Architektur von Baudrillard oder Virilio ist im Grunde
die Merde-Architektur der Peripherie - alle diese kleinen Hochhäuser
mit Spiegelglas. Sie sind wirklich simuliert, fragmentiert, nicht echt
und fast nicht da.
Ebenso wehre ich mich gegen die vor allem in Japan verbreitete Schlußfolgerung,
Architektur müsse per se chaotisch sein. Diese Haltung wird immer
mit einer Analogie begründet: Ihr seid in Verwirrung, wir sind
in Verwirrung; Ihr seit unstrukturiert, wir sind unstrukturiert; Ihr
seid vulgär, wir sind vulgär; Ihr seid chaotisch, wir sind
chaotisch... Ich fange an zu glauben, daß das ein Fehler ist.
Es gibt gegenwärtig eine ungeheuer aufregendes neues Potential
für eine Architektur, die sich dieser Art von Nachahmung entzieht.
Zum Beispiel bin ich der Meinung, daß eines der prägnantesten
und provokativsten Elemente des Programms für die Nationalbibliothek
in Paris darin bestand, den Gedanken einer "Gemeinschaftseinrichtung"
inmitten des vollständigen Zusammenbruchs des öffentlichen
Raumes neu zu formulieren - gegen die offensichtliche Homogenisierung
der elektronischen Medien, gegen den Verlust der Notwendigkeit des Ortes,
gegen den Triumph der Fragmentierung. Ich habe immer mehr den Eindruck,
daß es an einem bestimmten Punkt überzeugender sein könnte,
die entgegengesetzte Richtung einzuschlagen, sich dem Unvermeidlichen
zu widersetzen.
Wenn
Sie als Architekt öffentliche oder kollektive Räume schaffen
wollen, stellt sich natürlich die Frage, von welcher Idee von Öffentlichkeit
oder Gemeinschaft Sie dabei ausgehen.
Es gibt
natürlich nicht mehr nur eine einzige Gemeinschaft, aber es gibt
gelegentlich Momente, wo sich aus Gruppen neue Gemeinschaften entwickeln.
So bilden zum Beispiel alle Besucher von Beaubourg oder alle Benutzer
einer Bibliothek eine Gemeinschaft, und man kann davon ausgehen, daß
einer der Gründe, warum man dort hingeht, das Vergnügen ist,
Teil einer solchen Gemeinschaft zu sein.
Bei Beaubourg artikulieren die außenliegenden Rolltreppen das
Kollektiv, aber das ist eine sehr unbefriedigende Lösung, weil
man sich dort nicht aufhalten kann und es ständig überfüllt
ist. Wir haben daher z.B. bei dem Entwurf für die französische
Nationalbibliothek großen Wert darauf gelegt, wie die Gemeinschaft
sich selbst als Gemeinschaft erfahren kann.
In ähnlicher Weise ist unser Projekt für Yokohama ein Versuch,
sich vorzustellen, wie sich in Japan eine Gemeinschaft entwickeln und
artikulieren kann, und zwar auf der Grundlage der verschiedenen für
die japanische Konsumgesellschaft charakteristischen Aktivitäten,
die in unserem Projekt intensiviert, zueinander in Beziehung gesetzt
und komprimiert werden, wodurch eine so dichte Struktur entsteht, daß
vielleicht noch etwas anderes passiert. Es ist ein Versuch, eine Gemeinschaft
zu artikulieren, ohne von vornherein ihre Aktivitäten festzulegen.
Heute ist das Plankton der Peripherien der Ort der Regellosigkeit und
Unkontrolliertheit, und das ist auch der Grund, warum alle dort wohnen.
Unser Projekt untersucht, welche Intensitäten innerhalb einer solchen
Regellosigkeit möglich sind.
Aber
die Freiheit im Plankton der Peripherien beruht auf Vereinzelung, auf
Einsamkeit.
Sicherlich
basiert die Textur der Peripherie auf Atomisierung. Aber das Faszinierende
ist, daß es trotz aller zentrifugalen Kräfte eine programmatische
Notwendigkeit gibt, Kollektive auszubilden, auch wenn sie nur sehr kurzlebig
sind und jeder einzelne 60, 70 oder gar 100 verschiedenen Kollektiven
angehört. Man ist Teil einer Universität, Teil eines Büros,
Teil einer Familie, Teil einer Nation, Teil einer Stadt etc. Die Konstituierung
dieser unterschiedlichen Kollektive ist heute eine der wenigen noch
vorhandenen authentischen Motivationen für Architektur.
Sie sprechen
von Gemeinschaften, nicht von Öffentlichkeit. Richard Sennett hat
das Verschwinden der Öffentlichkeit durch die Bildung von Gemeinschaften
kritisiert. Gemeinschaften sind eng definierte Gruppen, während
die Öffentlichkeit jedem Raum gibt.
Natürlich
gibt es noch eine Öffentlichkeit: die Öffentlichkeit von Fernsehen
und Radio.
... aber
nur telematisch.
Ja, aber
sie ist stärker als je zuvor. Alle sehen jeden Abend das gleiche.
Das ist niemals so gewesen. Es ist vielleicht wahr, was Sennett sagt,
aber das ist nicht die Frage. Wenn es verloren ist, dann ist es verloren.
Das interessiert mich nicht.
Für mich lautet die Frage: Wie kann und soll die Architektur darauf
reagieren? Und in diesem Sinne stellt sich der Architektur das gleiche
Problem wie der Katholischen Kirche: Soll man sich modernisieren oder
nicht? Und kann man sich überhaupt modernisieren? Wenn man Jean
Nouvels Versuche betrachtet, die "Kirche" zu modernisieren,
dann merkt man, daß es eine interessante Unmöglichkeit ist.
Für mich wird es zunehmend aufregender, mich mit Architektur zu
befassen, je deutlicher sich abzeichnet, daß Architektur heute
eine Unmöglichkeit ist. Ich habe wirklich eine starke Resistenz
gegen Architektur im klassischen Sinne, aber nachdem Architektur im
klassischen Sinne völlig unmöglich geworden ist, wird es wieder
aufregend, sich neu mit ihr zu befassen.
Sie befinden
sich eigentlich in einer schizophrenen Situation: Einerseits versuchen
Sie, der Architektur zu entkommen, andererseits möchten Sie eine
architektonische Antwort geben.
Es ist
in der Tat schizophren. Unsere Arbeit ist eine Kampf gegen die Architektur
in Form von Architektur.
Paris - La Ville Contemporaine
Die Werkmonographie, an der wir zur Zeit arbeiten, spielt für unsere
momentane Entwicklung eine sehr wichtige Rolle, da sie uns das erste
Mal seit zwölf Jahren zwingt, zurückzuschauen und darüber
nachzudenken, was wir bisher gemacht haben. In gewisser Weise haben
wir die ganze Zeit gearbeitet, ohne nachzudenken, und nun entdecken
wir die unbewußten Energien und machen sie uns bewußt. Das
ist interessant und erschreckend zugleich.
Wir stellten fest, das für uns in den 80er Jahren Paris zur Verkörperung
einer Theorie geworden ist, so wie es New York für uns in den 70er
Jahren war. Das beruht zum einen schlicht auf der Tatsache, daß
die Hälfte unserer Arbeiten für Paris war. Zum anderen ist
Paris der zur Zeit interessanteste Prototyp der zeitgenössischen
europäischen Stadt, der zwei gegensätzliche Zustände
in sich vereint: zum einen das völlig intakte historische Zentrum,
zum anderen den völlig atomisierten Gürtel der Banlieus. Von
den 10 Millionen Einwohnern von Paris leben nur noch 1,6 Millionen im
Zentrum, alle andere leben in den Vorstädten.
In Paris wird zum erstenmal deutlich, daß die zeitgenössische
Stadt ein völlig geordnetes System ist. Der alte und der neue Zustand
haben nichts miteinander zu tun. Ihre einzige Gemeinsamkeit ist das
Zentrum. Sie sind rein zufällig miteinander verbunden, und es gibt
eine Reihe von Übergängen zwischen dem einen und dem anderen
Zustand, die sehr interessant sind.
Es ist unsinnig, die Peripherie mit den gleichen Kriterien wie das Zentrum
zu betrachten und sie daher als ein Scheitern, einen Fehler oder eine
dekadente Form unserer bisherigen Städte anzusehen. Es ist ein
völlig anderer Zustand. Wenn wir die Peripherie nur im Sinne unserer
alten Modelle betrachten, dann werden wir nur das Fehlen von Kohärenz,
Dichte und öffentlichem Raum feststellen und die neuen Qualitäten
und Eigenarten gar nicht mehr entdecken können. Wir müssen
diese Nostalgie für unsere überkommenen Modelle aufgeben und
eine völlig neue Lesart entwickeln.
Wenn man die Gebäude in der Peripherie betrachtet, dann sieht man,
daß sie eigentlich wie Hubschrauber sind: Sie benötigen genauso
wenig Vorbereitung wie ein Hubschrauber, der irgendwo landet - sie können
überall landen. Sie brauchen keine Vorbereitung, keine Verbindungen,
keine Strukturen. Sie haben nur rein zufällige Verbindungen.
Das Zentrum von Paris ist der Prototyp der Stadt des 19. Jahrhunderts,
bei dem die Dichte der Gebäude eine soziale Welt erzeugt oder provoziert,
und dieser Prototyp wird für uns als Gegenstück zur zeitgenössischen
Stadt zunehmend interessanter. Wir suchen in unserer Arbeit nach dem
gleichen sozialen Reichtum, aber mit viel weniger Masse, Gebäuden
und Architektur.
Ich komme immer mehr zu der Überzeugung, daß es eigentlich
zwei Arten von Architektur gibt - zum einen massive Container als feste,
dauerhafte Elemente mit Substanz. Und zum anderen eine 'LITE-architecture',
die im eigentlichen Sinne keine Architektur mehr ist und keinen 'Wert'
hat, sondern flexibel ist und innerhalb weniger Tage wieder abgebaut
oder abgebrochen werden kann.
Was unterscheidet
Paris als zeitgenössische Stadt von einer Stadt wie Atlanta? Was
ist das spezifisch Europäische an diesem Prototyp?
Das Europäische
an Paris ist, daß beide Zustände vorhanden sind. Und das
macht es auch viel schwieriger, hier zu operieren. Da beide Zustände
vorhanden sind, gibt es nicht nur eine mögliche Antwort, und das
ganze Problem des Kontexts ist viel komplexer. In Amerika kann man -
zumindestens theoretisch - annehmen, daß es keinen definitiven
Kontext gibt. Das ist etwas sehr Wertvolles. In Paris hat es uns 8 Jahre
Arbeit gekostet, bis wir es bei der französischen Nationalbibliothek
gewagt haben zu sagen, 'fuck context'. Und nachdem wir das einmal gesagt
hatten, wurde es sehr aufregend für uns. Das Vorhandensein von
Geschichte ist sehr belastend.
Was die europäische Frage betrifft, so ist Euro-Disney wirklich
schockierend. Europa ist zur Zeit nicht in der Lage, in irgendeiner
Weise zu artikulieren, was es heißt, europäisch zu sein.
In gewisser Weise ist Euro-Disney die europäischste Institution
in Europa, was für Europa natürlich ein ideologisches Desaster
ist. Es gehen unglaublich viele Leute dorthin, alles Europäer,
und man merkt plötzlich, daß es in Europa selbst nichts anderes
gibt, was eine ähnliche Attraktivität hätte und in der
Lage wäre, das Jugoslawische mit dem Finnischen, das Spanische
mit dem Polnischen zu verbinden.
Ein amerikanischer 'CIAM'
Während Europa in eine Krise geraten zu sein scheint, zeichnen
sich in Amerika interessante Entwicklungen ab. So kommt dort zur Zeit
die ganze Debatte über Stadtplanung neu auf, was sehr interessant
ist und z.B. die Frage aufwirft, was Öffentlichkeit heute ist.
Ich habe das Gefühl, daß Amerika bald wieder zu einer wichtigen
Basis ernsthafter Architektur werden kann.
Es gibt in Amerika eine Gruppe von Architekten und Theoretikern, die
sich zwar selber noch nicht als Gruppe begreift und artikuliert, aber
sicher doch eine Gruppe ist. Jeff Kipnis, ein Mitglied dieser 'Gruppe',
ist Leiter einer Abteilung der Architecture Association in London geworden.
Er ist eigentlich Physiker und sehr intelligent und hat mit Peter Eisenman
und Philip Johnson zusammengearbeitet und eine völlig schockierende,
aber interessante Theorie entwickelt, die besagt, daß es in den
letzten fünf bis zehn Jahren in der Architektur eine Reihe von
Erfindungen und Erfindern gegeben hat, deren gemeinsame Arbeit nun eine
Basis bildet, auf der man ein Lehrkonzept, ein Dogma oder eine Art CIAM
aufbauen kann. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Erfindungen
in Normen und Regeln zu übersetzen.
Das ist
genau das, was Sie nomalerweise nicht ausstehen können.
Genau.
Und deswegen fasziniert es mich. Er unterscheidet zwischen zwei Richtungen,
zwei Lagern: Auf der einen Seite diejenigen, die noch an die Form glauben
- dazu gehören für ihn Leute wie Peter Eisenman, Bahram Shirdel
und Zaha Hadid; auf der anderen Seite die Leute, die überhaupt
nicht mehr an Form glauben, sondern nur noch an Information - zu diesen
zählt er u.a. Bernard Tschumi, Jean Nouvel und OMA.
Diese
Unterscheidung ist vielleicht nicht ganz richtig oder zumindest mißverständlich.
Geht es nicht vielmehr den einen um die Erfindung von Formen, den anderen
- zu denen Sie gehören - um die Strukturierung von Prozessen, um
Formen zu generieren? D.h. daß man nicht mehr versucht, die Form
als solche zu gestalten, sondern sich selbstorganisierende Formbildungsprozesse
beeinflußt, indem man 'Störungen' verursacht wie bei einem
Wirbelstrom, den man zwar umlenken, aber nicht völlig umformen
und kontrollieren kann.
Ja, es
geht um Einflüsse auf vorhandene Strömungen, um Organisation
von Prozessen. Das ist eine sehr schwierige Aufgabe, denn wenn man an
der einen Stelle eingreift, hat das Veränderungen an ganz anderer
Stelle zur Folge.
Kipnis' Theorie ist mir sehr suspekt, ich finde sie eher erschreckend
und glaube nicht daran. Aber die Ambition, ein allgemeines Programm
zu formulieren, ist äußerst interessant. Seit langer Zeit
hat es niemand mehr gewagt, Dinge zusammenzufassen, eine Richtung zu
formulieren und darauf eine Schule aufzubauen.
Das ganze Problem ist sehr aktuell. Es gibt vielleicht eine kritische
Masse, aus der sich eine neue Bewegung entwickelt. Ansätze zu einer
solchen Bewegung gibt es überall auf der Welt. Ich meine nicht,
daß das überall verbreitet ist, aber man findet überall
Elemente einer solchen Bewegung.
Im Gegensatz
zu den 20er Jahren fehlt heute ein soziales politisches Programm, was
für die Konstitution des CIAM ganz entscheidend war. Aber es gibt
eine neue Art des Denkens in den Naturwissenschaften, der Philosophie,
der Mathematik, die schon fast eine Bewegung ist. Es fehlt sozusagen
nur noch das Mosaiksteinchen Architektur, genauso, wie in den 20er Jahren
Einsteins Relativitätstheorie ein neues Denken begründete,
auch wenn seine Theorie von den meisten gar nicht verstanden wurde.
Es ist
völlig klar, daß ein Programm fehlt und daß das eine
ungeheure Schwäche ist. Aber deswegen finde ich auch den Versuch
von Jeff Kipnis so interessant, an der AA ein Programm - einschließlich
politischer Motive - zu entwickeln. Die Architekten müßten
sich stärker miteinander anfreunden und lernen, gemeinsame Argumentationen,
Interessen und Ambitionen zu formulieren.
Ich selber habe einen absoluten Horror davor, was mit einem Architekten
geschieht, wenn er wirklich allein ist - wie langweilig und unerträglich
und "wichtig" seine Arbeit plötzlich wird. Um gegen diese
komische Manie von Einsamkeit anzukämpfen, habe ich mich zunehmend
dafür interessiert, andere Leute an den Projekten zu beteiligen.
Seit dieser Zeit haben wir an den meisten Wettbewerben mit einem Team
teilgenommen, zum Teil vom Büro aus, zum Teil aber auch mit Leuten
von draußen. Aufgrund dieser Formel kam es zu jener Art von Explosion,
die bei dem Wettbewerb für die Nationalbibliothek oder dem Gebäude
in Karlsruhe eintrat. Heute geht es mir darum, gegen die "Einsamkeit"
dadurch anzukämpfen, daß ich mit anderen Architekten zusammenarbeite.
So haben wir zum Beispiel vor einiger Zeit Hans Kollhoff, Jacques Lucan
und Fritz Neumeyer eingeladen, am Projekt für La Défense
mitzumachen. Daneben arbeite ich zusammen mit Jean Nouvel an seiner
Interpretation von etwas, was wir für ihn in Lille "vorbereitet"
haben, und auch mit Christian de Portzamparc haben wir intensiv zusammengearbeitet.
Auf der einen Seite bin ich in Rotterdam häufig allein, aber auf
der anderen Seite haben wir eine sehr viel intensivere Zusammenarbeit
mit anderen.
Heute wissen wir sehr viel besser, wie wir die kreativen Prozesse strukturieren
und die richtigen Bedingungen schaffen können, die richtige Mischung
zwischen Panik und Komtemplation, den richtigen Anreiz im Sinne von
Konkurrenz und gegenseitiger Unterstützung. In gewissem Sinne ist
die Zusammensetzung des Büros auch so etwas wie ein "Entwurfsproblem",
eine Komposition aus nationalen Akzenten und gegenseitigen Ergänzungen.
Es scheint,
als versuchten Sie auch damit zu experimentieren, daß Sie möglichst
viel zufällige, unbewußte Energie in den Prozeß zu
integrieren.
Man könnte
fast sagen, es geht um die Schaffung eines künstlichen Zustands
der Bewußtlosigkeit, des Unbewußten. Ich glaube an Unsicherheit.
Das Große Gebäude
Im Gegensatz
zu Ihren früheren Projekten kommt in den Entwürfen für
die Nationalbibliothek in Paris, das ZKM in Karlsruhe oder die Kongreßzentren
in Lille und Agadir ein ausgeprägtes Interesse für die Konstruktion
zum Ausdruck.
Mich
faszinierte das Problem, wie in großen Gebäuden die Lasten
nach unten hin immer mehr zunehmen, so daß man auf Straßenebene
buchstäblich blockiert wird von der konstruktiven und technischen
"Erblast" der oberen Stockwerke. Man könnte für
ein Hochhaus oder für jedes große Gebäude die Metapher
aufstellen, daß die Freiheit in dem Maße gerade da systematisch
abnimmt, wo es am meisten darauf ankommt, nämlich am Boden.
Eine ähnliche Kritik bezieht sich auf das Konzept der Haustechnik
ganz allgemein. Dieser Bereich ist für mich inzwischen mindestens
so wichtig und faszinierend wie die Konstruktion. Es ist schon erstaunlich,
daß Aspekt, der fast ein Drittel des Querschnitts eines Gebäudes
und bis zu 50 Prozent der Bausumme ausmacht, gewissermaßen dem
Architekten, dem architektonischen Denken nicht zugänglich ist.
Für uns sind das keine Spekulationen - das ist so, als müßte
man akzeptieren, daß 30 bis 40 Prozent eines Gebäudes ganz
einfach nicht in den Zuständigkeitsbereich des Architekten fallen
und man all diesen albernen Blödsinn schlucken muß, den die
Haustechnikingenieure einem da installieren.
Man muß bestimmte Erfahrungen machen, ehe man diese Kritik und
diese Ablehnung formulieren kann. Es geht darum, im Hinblick auf diese
Fragen das nötige Selbstvertrauen und vielleicht auch eine gewisse
Arroganz zu entwickeln. Die Zusammenarbeit mit Cecil Balmond und seinem
Team bei Ove Arup hat uns da sehr stimuliert - diese Leute sind gewissermaßen
unser Pendant.
Ist das
eine Rückkehr zu einem konstruktiven Denken? Man fühlt sich
an Louis Kahn erinnert mit seiner Unterscheidung von "dienenden"
und "bedienten" Räumen oder an Mies van der Rohe und
Le Corbusier.
Ich habe
große Bewunderung für das Denken dieser Leute. Meine einzige
Kritik ist, daß sie auf fatale Weise auf Ordnung fixiert waren
und sich offenbar verpflichtet fühlten, das in ihrer Architektur
auszudrücken. Ich finde das faszinierend, aber gleichzeitig auch
unglaubhaft und unglaubwürdig, weil vieles von ihrem Diskurs absolut
überzeugend ist, während der Zwang, das in architektonische
Begriffe zu fassen und zu übertragen, überaus unglaubwürdig
ist.
Das gleiche gilt auch für die Smithsons und ihren Umgang mit dem
Thema Un-Ordnung. Ich würde sagen, Projekte wie La Villette oder
das Rathaus von Den Haag waren in gewissem Sinne einseitige Dialoge
mit den Smithsons, besonders im Hinblick auf die Frage der Unbestimmtheit.
Ich war bemüht, das herauszufinden und zu lösen, was sie -
oder das Team X - immer ungelöst gelassen haben, nämlich wie
programmatische Unbestimmtheit und architektonische Eigenartigkeit miteinander
vereinbar sind.
Bei den Bibliotheken von Jussieu war die wichtigste Idee die Trennung
zwischen Architektur und Nutzung. Wir differenzieren den Raum mit einfachsten
Mitteln - durch das Schneiden und Falten der Geschoßebenen -,
wobei die Unbestimmtheit des Grundrisses und die über sieben Meter
hohen Räume eine völlig freie Nutzbarkeit garantieren. Die
Nutzung ist wie eine zweite Schicht, die nie den Raumeindruck dominiert,
sondern eher wie die Vegetation einer Landschaft ist. In gewisser Weise
steht dieser Entwurf im Dialog mit dem Centre Pompidou, wie auch bereits
das Zentrum für Kunst und Medientechnologie in Karlsruhe. Beim
ZKM war es ein Dialog über die Konstruktion, hier ist es eher ein
Dialog über die Nutzung. Ein Problem des Centre Pompidou ist, daß
die übergeordnete Ordnung nicht groß genug ist. Es ist zum
Beispiel nicht möglich, in die Räume Zwischengeschosse einzuziehen.
So entsteht ein Konflikt zwischen der Ordnung der Architektur und der
Organisation der Nutzung.
Was ist
der Grund für Ihr andauerndes Interesse für Große Gebäude?
Ich habe
mich immer schon für große Dimensionen und ihre Implikationen
interessiert, für die Künstlichkeit und die Fragmentierung,
die sie erzeugen, und dafür, wie gerade die Größe gewissermaßen
der Fragmentierung entgegenwirkt. Die große Dimension entwickelt
den Anspruch und manchmal auch die Wirklichkeit einer alles umfassenden
Realität und einer absoluten Autonomie. Die Herausforderung, die
sich damit verbindet, ist also eine doppelte: Erstens geht es darum,
sich kritisch mit einer Reihe von technologischen Grundannahmen im Hinblick
auf Konstruktion und Haustechnik auseinanderzusetzen, von denen wir
bereits gesprochen haben. Und zweitens geht es um eine kulturelle Herausforderung
im Hinblick auf das Potential dieser Gebäude als in sich geschlossener
Welten, mit allen Freiheiten und Attraktionen und der Einzigartigkeit,
die das impliziert, und darum, sich einen neuen Weg vorzustellen, wie
diese selbständigen, befreiten, sich nicht gegenseitig ergänzenden
Welten koexistieren könnten.
Kann
man die Großen Gebäude als eine sich neu entwickelnde Typologien
betrachten oder glauben Sie, daß die Dynamik der derzeitigen Entwicklungen
verhindern wird, daß sich Typologien aus ihnen kristallisieren?
Ich finde
solche Fragen sehr beunruhigend, aber ich glaube, die Antwort lautet:
Ja, unbedingt. Ich weiß nicht genau warum, aber ich habe Angst
vor Wiederholung, und darum erschreckt mich die Vorstellung einer Typologie.
Ich kann mir allerdings Typologien im ganz primitiven Sinne von groß
und klein und hoch und niedrig vorstellen, oder im Sinne von synthetisch
und nicht-synthetisch, flach oder tief, im Sinne der Gebäudetiefe.
Der Titel unserer Werkmonographie lautet 'S-M-L-X', d.h.: Small, Medium,
Large, Extra-Large (klein, mittel, groß, besonders groß).
Das sind für uns wichtige Kategorien. Ich würde sie nicht
unbedingt als Typologien bezeichnen.
Die zeitgenössische Stadt
Was ist
heute eigentlich eine Stadt? Muß man Stadt heute nicht im komplexen
Zusammenhang mit dem Umland, den Verkehrsstrukturen und Kommunikationsnetzen
begreifen? Müßte man den Begriff der Stadt nicht durch den
der Region ersetzen? Auch hier in Holland spricht man ja nicht mehr
von Amsterdam oder Rotterdam, sondern von der 'Randstaad' und meint
damit das Stadtband von Amsterdam bis Rotterdam. Europa befindet sich
in einer neuen Modernisierungsphase mit tiefgreifenden Infrastrukturveränderungen,
Verkehrs- und Medieninnovationen, großen Investitionsschüben,
und wir stehen vor ganz neuen planerischen Aufgaben.
In Europa
findet eine grundlegende Neustrukturierung, eine neue, zweite Phase
der Modernisierung statt. Etablierte Werte und scheinbar festgefügte
strategische Elemente wie Häfen, Berge, Autobahnen, das feste Bild
einer strengen Beziehung von Geographie und infrastruktureller Topologie,
werden aufgelöst. Die wichtigsten Bestimmungselemente in Europa
haben bis heute ihre Wurzeln im Mittelalter. Aber diese enge, natürlich
gegebene Verbindung von Geographie und Logistik beginnt sich jetzt durch
völlig synthetische Interventionen mehr und mehr aufzulösen:
Autobahnausbau, Tunnelbau, Hochgeschwindigkeitszüge, neue Medientechnologien.
Informationen verbreiten sich in Echtzeit, künstliche Netze legen
sich über Länder und Regionen. Die Urbanisten und Architekten
sind nur ein bescheidener Teil dieser ganzen Veränderungen, aber
diese Dimension ist bedeutsam, weil sie am sichtbarsten ist.
Diese teils unbewußte, teils bewußte Neukonzipierung Europas
ist vermutlich unkontrollierbar und ähnelt eher einer künstlichen
Natur als etwas bewußt von uns Geschaffenem. Dieser unabhängig
von unserem Willen ablaufende Prozeß zwingt uns dazu, die Rolle
jedes wichtigen Ortes und seiner Beziehungen zu diesen Entwicklungen
neu zu definieren. So wird eine neue Generation von Strategien entwickelt,
und dadurch wird sich die Landschaft sowohl im buchstäblichen als
auch im bildhaften Sinne völlig verändern.
Die Intensitätszonen der Modernisierung konzentrieren sich in einem
Nord-Süd-Band, das von London bis Turin reicht. Die Prozesse, die
in der Bildung dieser berühmten Entwicklungs-'Banane' ihren Niederschlag
finden, sind nicht steuerbar. Hier vollziehen sich wirkliche Integrationen
und bilden sich neue Hybride. In dieser Zone, die von London über
Nordfrankreich, Karlsruhe, Straßburg und Basel bis nach Norditalien
reicht, realisieren sich transnationale Kooperationen aller Art - deutsch-französische,
französisch-schweizerische, italienisch-deutsche ... in Forschung,
Produktion und Dienstleistungen. Alle Definitionen werden revidiert,
und Bestimmungen wie 'deutsch' oder 'französisch' haben hier schon
keine Bedeutung mehr. Diese Regionen wiederum strahlen aus und saugen
andere, benachbarte Regionen in diese Entwicklung hinein, etwa Südfrankreich
bis Toulouse. Das gleiche Phänomen findet man im Osten der USA,
in der Gegend um Boston, New York, Chicago, Pittsburgh.
Ein Beispiel
für die Modernisierung Europas ist der Ärmelkanal-Tunnel.
Wie wird die Eröffnung des Tunnels die europäische Landschaft
verändern?
Vor einiger
Zeit wurde ich mit der Planung der Stadt Lille beauftragt - bis vor
kurzem eine unbedeutende nordfranzösische Industriestadt. Mit der
Eröffnung des Tunnels wächst dieser Stadt eine neue, völlig
synthetische Bedeutung zu. Wenn man mit den Zug aus London kommt, ist
Lille die erste Station auf französischem Festland. Lille liegt
in der Mitte eines riesigen Eisenbahnnetzes. Heute verbindet der TGV
Lille mit Paris. Statt in 2 Stunden und 30 Minuten erreicht man Paris
zukünftig in 50 Minutenm, und in 48 Minuten ist man in Brüssel.
Diese Hochgeschwindigkeitsverbindungen reichen bis ins Ruhrgebiet und
nach Frankfurt. Man braucht nur noch 60 Minuten bis ins Zentrum Londons
- früher erforderte die gleiche Strecke 7 Stunden und 10 Minuten.
Vom Bahnhof in Lille aus wird man also schneller in der Londoner City
sein als vom Londoner Stadtrand aus. Immer mehr Engländer kaufen
sich Häuser und Büros in Lille und bauen dort, weil sie, rein
zeitlich gesehen, dort näher an London sind als von der Peripherie
Londons aus. Das ist faszinierend. Als Architekt ist man mit bestimmten
Forderungen und Ansprüchen konfrontiert, und das bringt einen zum
Denken.
Wir müssen den Begriff des Zentrums völlig neu definieren.
Die unreflektierte, simple Wiedereinführung der Idee von Zentralität
ähnelt einem riesigen Soufflés, das plötzlich in sich
zusammenfällt, wenn man es aus dem Ofen holt. Wen kümmert
es heute noch, was die Mitte ist? Die geometrische Definition einer
Mitte spielt heute keine Rolle mehr. Was Mitte ist, wird in Minuten,
in Zeiteinheiten gemessen.
Wie sollte
man heute Stadtplanung betreiben?
Wir haben
heute die Möglichkeit verloren, eine Stadt in ihrer dreidimensionalen
Substanz zu planen, sie als Vision zu betrachten, als Modell. Diese
Zeit ist für immer vorbei. Man kann nichts mehr bestimmen und verfügen,
man kann nur noch versuchen, jene Prozesse regulieren, modifizieren,
umlenken, die sowieso stattfinden. Man kann Prozesse nicht blockieren
oder in völlig andere Richtungen lenken.
Wenn Sie heute in vier Jahren ein umfassendes Projekt realisieren müßten,
wie wir es in Lille gemacht haben, mit Eisenbahnen, Autobahnen, Bahnhofshallen,
Bürogebäuden, alles in enorm kurzer Zeit, dann würden
Sie staunen, wieviele Dinge es gibt, die ein solches Projekt beeinflussen
- politische, technische, finanzielle, psychologische Einflüsse
usw. Die Folge ist eine ungeheure Hektik und Nervosität im Wochenrhythmus;
es gibt keine Enklaven der Gewißheit mehr, in der man arbeiten
könnte, alles wird bis zum letzten Moment diskutiert, modifiziert,
umgestoßen. Die Entscheidung, das Zentrum für Kunst und Medientechnologie
in Karlsruhe nicht zu bauen, ist ein Beispiel dafür. Aber die Planer
und Architekten tun so, als existierten diese Bedingungen nicht. Es
ist Aufgabe der Architekten, sich dessen bewußt zu werden.
Für Außenstehende scheint die Architektur nach wie vor ein
blühendes Leben zu führen und eine Position zu haben, die
große Erwartungen rechtfertigt. Aber das ist nur der äußere
Eindruck. Tatsächlich sind Architekten in einer ähnlichen
Lage wie die Geiseln bei einer Entführung, die gezwungen werden,
zu Hause anzurufen, um zu sagen, daß alles in Ordnung ist, während
man ihnen eine Pistole an den Kopf hält.
Die enorme Machtlosigkeit des Architekten und Stadtplaners hat damit
zu tun, daß man kein genaues Inventarium dessen hat, was man tun
und was man nicht mehr leisten kann. Es gibt keine klare, glaubwürdige
Abgrenzung von Bereichen, in denen wir Macht haben, und solchen, wo
nur Ohnmacht herrscht. Deshalb tun wir immer so, als hätten wir
noch Möglichkeiten, über die wir de facto nicht mehr verfügen.
Für diese Aushöhlung der Rolle des Planers und Architekten
gibt es drei Gründe: Erstens eine intellektuelle Schwäche,
was das Nachdenken über das Zentrum und seine Bedeutung anlangt.
In den 60er und 70er Jahren hat man in Europa das historische Zentrum
der Stadt wiederentdeckt, eine wichtige Wiederentdeckung, denn dieses
Zentrum war buchstäblich eine bedrohte Spezies. Aber das, was eine
retrospektive Entdeckung war, wurde zu einer prospektiven Beschreibung
verkehrt. Natürlich sind Plätze, Boulevards und Straßen
etwas Wunderbares - das bedeutet aber noch lange nicht, daß wir
jetzt, unter heutigen Bedingungen, noch solche wunderbaren Plätze
bauen können. Die Internationale Bauausstellung in Berlin war ein
Laboratorium dieser Wiederentdeckung, aber zugleich auch die erste Demonstration
der Unmöglichkeit, diese Wiederentdeckung zum Grundprinzip künftiger
Planung zu machen. Die 68er Generation hat die Stadt zugleich wiederentdeckt
und zerstört. Sie hat die Möglichkeit der Kontrolle völlig
überschätzt und Erwartungen geweckt, die nur enttäuscht
werden konnten. Diese Fehleinschätzung findet man bei den Linken
ebenso wie bei den Rechten, bei Leuten wie Coop Himmelblau genauso wie
bei Leon Krier. Unsere Generation der 68er ist in geradezu lächerlicher
Weise unsensibel für die Frage der Umsetzungsmöglichkeiten,
wo doch die Frage der Umsetzung im Urbanismus das entscheidene Problem
ist. Das ist die intellektuelle Schwäche.
Das zweite ist die politische Schwäche. Politiker verfügen
kaum über Geld und sind weitgehend auf Dritte angewiesen, wenn
sie bauen wollen. Von diesen Finanzierungsproblemen einmal abgesehen
sind Politiker fast immer konsensbedacht und haben nur wenig Risikobereitschaft
und Mut.
Ein weiterer Faktor sind die Developer: Diese Immobiliengesellschaften
agieren immer primitiver; sie widersetzen sich intuitiv und unermüdlich
jedem Versuch, ihre Projekte in ein programmatisches Konzept zu integrieren.
Heute gibt es keine Bürger mehr, die als verantwortliche Bewohner
einer Stadt ihre Bürger-Rolle in Form eines stadtbezogenen Bauwerks
zum Ausdruck bringen. Die Developer von heute sind nicht mehr Bewohner
einer Stadt, sondern transnationale Korporationen, schweifende Kapitale,
sie erkunden in fast biologisch-instinkthafter Weise Anlage- und Profitmöglichkeiten
jeder Art, auch auf vulgärster Ebene. Sie agieren in Berlin, sie
hwaben Prag entdeckt, und sie sind schon unterwegs nach Shanghai, Südchina
oder Afrika - immer nur darauf aus, die sich bietenden Gelegenheiten
zu nutzen. Das sind logische Prozesse, die aber niemals die Stabilität
erzeugen, die notwendig wäre, um programmatisch arbeiten zu können.
Sie arbeiten
in Ihrem Projekt in Lille ja einerseits mit einer sozialistischen Stadtregierung
und andererseits mit Developern zusammen. Die Kommune versucht, durch
strategische Überlegungen und ganz spezifische Vorgehensweisen
Developer an sich zu binden. Könnte das ein Modell für ein
produktives Verhältnis zwischen Kommune, Politik und Industrie
sein?
Es gibt
die berühmte Formel von der PPP, der 'public private partnership'.
Lille basiert auf dieser 'PPP'. Die Stadt hat zwar kein Geld, kann dafür
aber die notwendigen Flächen zur Verfügung stellen. Die sozialistische
Stadtverwaltung hat eine öffentlich-private Partnerschaft aufgebaut,
in der sie selbst 50,00001 Prozent des finanziellen Gewichts für
das gesamte Projekt beansprucht. Es gibt in Lille einen genialen Menschen,
der sich ausschließlich mit dem Problem der Verbindung und Kommunikation
zwischen Investoren und Öffentlicher Hand befaßt, d.h. mit
der Frage: Wie kann ich den Druck des Investors in einer bestimmten
Konstellation steuern. Dieser Mann, Jean Paul Baietto, ist sehr realistisch
und zynisch und hat genau analysiert, wo die Interessen der Investoren
liegen und was man damit anfangen kann. Eine Spinne im Netz mit unglaublicher
Energie, der tausend Essen organisiert und mich als Planer aus dem Bereich
der Manipulation und der Notwendigkeit zu überzeugen, völlig
heraushält. Nur dank dieser Person konnte man in Lille Projekte
mit drei verschiedenen Partnern auf der Investorenseite koordinieren
(etwa der Eisenbahn, ein Hotelunternehmen und ein Parkhausbetreiber).
Diese Komplexität zu organisieren und eine, wie er sagt, 'höllische
Dynamik' zu entfesseln, ist seine Leistung. Das hat zu tun mit der Bedeutung,
begrenzte Enklaven für begrenzte Zeiträume zu schaffen: Er
konnte sagen, 1993 muß der Tunnel eröffnet werden, davon
ausgehend müssen Entscheidungen kalkuliert werden. Die zur Verfügung
stehende Zeit war so kurz, daß diese Höllendynamik funktionierte,
jeder war unter extremen Druck. Man hatte ein außergewöhnliches
Terrain mit einer außergewöhnlichen Logik und außergewöhnlichen
Kräften. Es war fast eine künstlerische Leistung, die Argumente
für einen derartigen Zeitdruck bei einem derartigen historisch
bedeutenden Bauwerk zu finden.
Welchen
Einfluß hat eine solche "kapitalistisch-sozialistischer Mischökonomie"
auf die Produktion von Architektur?
Sie hat
einen überaus tiefgehenden und weitreichenden Einfluß auf
die Architektur. Diese Finanzierungskonzepte des PPP sind letztlich
für Form und Inhalt des Projekts bestimmend. Die Realitäten
sind gleichzeitig unangenehm und faszinierend.
Aber
was sind für Sie die typischen Merkmale der europäischen Situation?
Europa ist doch der Prototyp für eine solche Hybrid-Ökonomie.
In Europa
gibt es immer noch eine Art von Sicherheitsnetz. Es gibt einen Punkt,
wo wir oder unsere Auftraggeber sagen können: Das geht zu weit,
das akzeptieren wir nicht. Es kommt also nie zu einem Ausverkauf oder
Verrat, weil es innerhalb des Programms immer ein "politisches"
Element gibt im Sinne von nicht-kommerziellen, kommunalen oder quasi-kommunalen
Aspekten. Wir haben immer noch die Idealvorstellung eines Gleichgewichts,
und das ist wahrscheinlich das entscheidende, charakteristische Merkmal
dieses Hybridsystems, von dem Sie gesprochen haben.
Was an der gegenwärtigen Situation in Europa so faszinierend ist,
an den Hybriden, wie Sie sie nennen, ist die Tatsache, daß es
kapitalistische Gesellschaftsordnungen sind mit Überresten - manchmal
sogar ungeheuer dramatischen Erscheinungsformen - von sozialen Ambitionen.
Ich glaube, das ist wirklich einzigartig.
Ist die
Orientierung am Kontext nicht Ausdruck dieser europäischen Situation?
Durch
die Modernisierungsprozesse wird der ganze Anspruch des Kontextualismus
unsinnig. Wir müssen einen Weg finden, mit einer sehr großen
Menge von Großen Gebäuden umzugehen, die jedes für sich
enorme Ausmaße haben; wir müssen uns eingestehen, daß
es solche Größenordnungen in Europa noch nie gegeben hat.
Bei unserem Projekt für die französische Nationalbibliothek
haben wir bewußt darauf verzichtet, eine explizite kontextuelle
Beziehung zur existierenden Stadt herzustellen - das einfache Faktum,
daß dieses Gebäude in der existierenden Stadt existiert und
mit anderen Gebäuden koexistiert, bietet die Gewähr dafür,
daß es Teil der Stadt wird. Wir haben Brüche, Diskontinuitäten,
Übergänge in Kauf genommen. In Lille gab es Leute, die sich
von uns eine Lösung des Widerspruchs zwischen dem neuen Programm,
der metropolen Dimension und dem Kontext der alten flämischen Stadt
erhofft hatten. Das war natürlich eine kurzlebige Illusion - und
zwar nicht nur wegen unserer Architektur, sondern vor allem wegen der
Dimensionen des Programms. Das gleiche Problem stellte sich beim Wettbewerb
um den Potsdamer Platz in Berlin - ein tragischer Konflikt zwischen
Programmen, die so umfangreich und riesig sind, daß unmöglich
jemand ernsthaft hoffen konnte, diese in eine städtebauliche Tradition
und Volumetrie einfügen zu können. Es ist ein politisches
und ökonomisches Problem, von dem die Leute immer behaupten, daß
es architektonisch gelöst werden könnte.
Wir befinden uns heute in einer leicht schizophrenen Situation, die
mir erstmals bei meiner Arbeit am Buch 'Delirious New York' bewußt
geworden ist: Einerseits stehen viele Leute offen zu ihrem Anti-Modernismus
oder zumindest zu einer großen Skepsis der Moderne gegenüber,
andererseits verrät der populäre Geschmack, teilweise genährt
von der Kunst der Comics, eine totale Sucht nach Modernität. Daher
bedienen wir uns manchmal Comic-Zeichnungen, um unsere Ideen zu veranschaulichen
und diese schizophrene Situation gewissermaßen kurzzuschließen.
Unvoreingenommenheit
Es scheint
so, als würden Sie bestimmte kulturelle und ökonomische Bedingungen
als Rahmen für Ihre Arbeit akzeptieren.
Mir geht
es darum, praktisch zu arbeiten, zu bauen, und das bedeutet, daß
man ein erschreckendes Maß an äußeren Bedingungen akzeptieren
muß. Ich schäme mich deswegen nicht, aber ich fühle
mich dadurch zutiefst provoziert. Das beschäftigt mich. In diesem
Sinne ist auch mein Interesse zum Beispiel für Atlanta eher ambivalent.
Grundsätzlich versuche ich, mein endgültiges Urteil so lange
wie möglich hinauszuzögern, um mich möglichst unbefangen
diesen Einflüssen auszusetzen und mich von ihnen inspirieren zu
lassen.
Sie sprechen
vom möglichen Ende des öffentlichen Raumes, der bürgerlichen
Gesellschaft, des humanistischen Denkens und anderer Dinge, die traditionell
als "positiv" bewertet werden. Verstehen Sie das als revolutionäre
Einstellung oder passen Sie sich den als Anpassung an die herrschenden
Verhältnissen an?
Es ist
fast unmöglich, auf diese Frage zu antworten. Wenn Sie sagen, es
sei eine bequeme, selbstgefällige Haltung, dann würde ich
dem natürlich widersprechen, aber was bedeutet das, wenn ich dem
widerspreche? Vielleicht versuche ich nur meine mangelnde Fähigkeit
zur Selbstkritik zu verschleiern. Auf jeden Fall fühle ich mich
persönlich durchaus nicht selbstgefällig oder bequem.
Wir werden alle verführt und empfinden dabei gleichzeitig Freude
und Schrecken. Wir müssen versuchen, uns über diese widersprüchlichen
Gefühle klar zu werden. In meiner Wahrnehmung von Atlanta spielen
diese beiden Aspekte immer wieder eine sehr starke Rolle. Es ist die
einfache Frage: Wie können so viele mittelmäßige Gebäude
zusammen ein so phantastisches architektonisches Spektakel ergeben?
Oder wie kann so viel "Häßlichkeit" manchmal eine
Art von Schönheit oder Weisheit zur Folge haben? Das ist weniger
Bequemlichkeit als vielmehr Faszination, und jede Faszination beinhaltet
doch, daß man sich etwas hingibt.
Bedeutet
das nicht eine gewisse Unfähigkeit, zu einem Urteil zu kommen?
Oder einen Mangel an Ideologie, der für unsere heutigen Diskurse
charakteristisch ist?
Es ist
auf jeden Fall eine sehr künstliche Einstellung, weil wir natürlich
immer Urteile fällen und von bestimmten Moralvorstellungen geleitet
werden, aber trotzdem haben wir so etwas wie einen Instinkt, der uns
dazu bringt, etwas Neues zu erkunden und den Dingen auf den Grund zu
gehen. Urteile zu fällen, macht einen schwerfällig und unbeweglich.
Es ist wie bei einem Bergsteiger, der sich mit möglichst wenig
Gepäck belastet, wenn er irgendwohin gelangen will. Das ist vielleicht
eine allzu simple Metapher, aber ich glaube trotzdem, daß letztlich
keine Rede sein kann von der Unfähigkeit, zu einem Urteil zu kommen.
Ich würde eher sagen, es geht darum, das Urteil möglichst
lange hinauszuzögern und die Problematik genau herauszuarbeiten,
um auf diese Weise möglichst vielen guten wie schlechten Aspekten
gerecht zu werden.
In diesem Sinne glaube ich, daß wir fast die Rolle eines 'Mediums'
spielen, und zwar gerade weil wir trotz allem Praktiker sind: Wir sind
Strömungen, Tropismen und Trends ausgesetzt, die immer neue Mutationen
entstehen lassen, und ich glaube, wir spüren diese Dinge, noch
ehe sie tatsächlich zum Gegenstand bewußter Beurteilung werden.
Der Vorteil einer nicht-akademischen Position liegt darin, daß
wir experimentieren können - sogar an uns selbst. Trotzdem urteilen
wir ständig. Nehmen wir zum Beispiel unser Projekt für Melun-Sénart.
Ausgangspunkt war ein eindeutiges Urteil über die zeitgenössische
Architektur: Sie ist weitgehend "Scheiße", auch wenn
sie immer noch respektabel und aufregend und intellektuell vertretbar
ist - eine Neudefinition dessen, was Stadt bedeutet. Wir haben eine
Vielzahl von Urteilen darüber gefällt, was schön und
was weniger schön ist, was bleiben sollte und was nicht, was gezeigt
und was eher versteckt werden sollte. Wir mußten Urteile fällen
im Hinblick auf Prioritäten... Natürlich sind das alles persönliche,
individuelle Urteile, und um die Reinheit und Freiheit der verschiedenen
Kräfte zu bewahren, die dabei ins Spiel kommen, sollte man die
Frage der Moralität auf den allerletzten Augenblick verschieben
oder gelegentlich sogar ganz offen lassen. Wie man in Japan sagt: Alles
fließt.
Sie schlagen
also gewissermaßen eine komplexere Form der Urteilsfindung vor,
um in der Lage zu sein, die ganze Vielfalt von Einflüssen zu integrieren.
Es ist
ganz einfach der Versuch, sich nicht durch seine eigenen Urteile zu
behindern. Es geht darum, die Phase vor der eigentlichen Beurteilung
kreativ zu nutzen, die für mich eine Mischung aus unbewußter
und bewußter Entscheidung ist. Mit anderen Worten: Die Erzeugung
eines a-moralischen, experimentellen Raumes, in dem sich eine ganz eigene
Art von Logik frei entfalten kann, ohne Rücksicht darauf, wohin
sie führt. Manchmal bekomme ich deswegen Schuldgefühle, aber
gleichzeitig habe ich Angst vor der Faulheit oder Blindheit, die damit
verbunden ist, Urteile zu fällen.
Sie haben
einen Wandel vom Autor oder Denker zum praktizierenden Architekten vollzogen.
Wie beeinflußt Ihr theoretisches Interesse Ihre praktische Arbeit
als Architekt?
Das Verhältnis
zwischen den beiden Bereichen ist für mich ungeheuer stark, obwohl
ich eigentlich nie geglaubt habe, daß es möglich sei, gleichzeitig
Architekturtheoretiker und Architekt zu sein. Ich habe mich immer als
Architekt verstanden - als Architekt mit theoretischen und literarischen
Ambitionen, der darauf angewiesen ist, die genauen Bedingungen und die
genauen Potentiale dieses Berufs auszuloten. So etwa sehe ich meine
eigenen Aktivitäten. Letztlich habe ich 'Delirious New York' geschrieben,
um mir selbst Rechenschaft darüber zu geben, was ich interessant
finde und was man machen könnte. Und ich kann dazu nur sagen, daß
der Wandel, den ich vollzogen habe, ein sehr schmerzhafter war. Architekt
zu sein, ist eine fast bestialische Sache. Erst seit kurzer Zeit, seit
dem Fukuoka-Projekt in Japan, der Rotterdamer Kunsthalle und der Villa
D'Alva in Paris, habe ich ein bißchen mehr Selbstvertrauen in
meine Fähigkeiten als praktizierender Architekt gewonnen. Vielleicht
komme ich langsam doch dem näher, was ich eigentlich erreichen
wollte.
Warum
haben Sie angefangen zu schreiben, wo Sie doch eigentlich Architekt
werden wollten?
Ich wollte
eine bestimmte Art von Architekt werden, aber ich merkte, daß
es damals - Mitte der 70er Jahre - keinen Platz für eine solche
Art von Architekten gab. So schrieb ich 'Delirious New York', um zu
beweisen, daß es diese Art von Architektur und diese Art von Architekten
bereits früher gegeben hat und daß es immer noch eine Möglichkeit
gibt, Architektur auf diese Art zu entwickeln. Ich wollte mit dem Buch
ein Terrain abstecken, auf dem ich dann schließlich als Architekt
arbeiten konnte.
Bei der Arbeit an 'Delirious New York' habe ich den künstlerischen
Aspekt des Architekt-Seins in den Hintergrund gestellt und die Aufgabe
des Architekten eher als eine Beschäftigung mit intellektuellen
Problemen verstanden, wobei es dann auch Möglichkeiten für
Interventionen gibt, die nicht mit Zeichnungen vollzogen werden können.
Zu Beginn fast jedes unserer Projekte gibt es eine verbale Definition
- einen Text, ein geschriebenes Konzept - als Intention oder Thema -,
und erst in dem Moment, wo das sprachlich formuliert ist, können
wir beginnen, über Architektur nachdenken. Die Worte befreien den
Entwurf. Unsere besten und originellsten Projekte entstehen aus einer
eher literarischen Konzeption heraus, aus der sich dann das gesamte
architektonische Programm ableitet.
Wie führt
eine solche literarische Formulierung zu Architektur?
Im Fall
der Bibliothèque Nationale gab es zuerst diese ungeheuer anregende
Formulierung, daß es darum ging, "sich ein Gebäude vorzustellen,
bei dem die wichtigsten Teile Abwesenheiten von Gebautem sind."
Wir fragten uns dann: Was bedeutet das? So kamen wir auf die Idee eines
riesigen festen Gebäudes mit Aushöhlungen, und diese Aushöhlungen
oder Leerräume sind die öffentlichen Räume - also gewissermaßen
ungebaute Räume im Sinne der Massivität des Gebäudes.
Der Entwurf ist gewissermaßen die Umsetzung einer These oder einer
Frage oder einer literarischen Idee. Für mich ist Architektur eine
intellektuelle Disziplin.
Wir danken den Mitarbeitern von OMA für ihre Hilfe bei der Arbeit
an diesem Heft, insbesondere Marja van der Burgh, Fuminori Hoshino,
Winy Maas und Jennifer Sigler.
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