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Arch+:
Heute ist bei den Architekten ein Interesse für textile Konstruktionen
erwacht. Im Gegensatz zu den 60er Jahren, als Leute wie Frei Otto oder
Buckminster Fuller Zelte und geodätische Kuppeln als eine Alternative
zur klassischen Architektur ansahen,als eine Art Antiarchitektur, versucht
man heute, sie in die klassische Architektur zu integrieren. Architekten
wie Ron Herron oder Jourda/Perraudin spielen mit unterschiedlichen Raumkonzepten
- sie stellen dem ortogonal organisierten Raumkörpern nicht-ortogonale
Zelträume gegenüber. Dabei treten die nicht ortogonalen Formen
an den Übergängen von öffentlichem zu privatem Raum auf,
also bei den Fassaden, Dächern, Eingängen, bei transitorischen
Räumen wie Atrien und Passagen. Das Haus wird mit Hilfe unterschiedlicher
Häute in Zonen organisiert. Die innere Haut ist ortogonal und massiv,
der Raum ist eindeutig definiert. Die äussere Haut ist ein Textil.
Sie bildet einen Raum, der nicht fassbar und definiert ist, sondern
flexibel und sich erst im Gebrauch herstellt. Die Raumgrenzen beginnen
zu oszillieren.
Joachim
Krausse: Bei einem mit Textilen überdachten Atrium hat man kaum
das Gefühl von einem Innenraum. Die Raumgrenzen sind nicht fassbar,
der Raum scheinbar unendlich. Es tritt eine räumliche Inversion
auf, der Innenraum wird zum Aussenraum.
Es ist diese Eigenheit sphärischer Räume, ihre scheinbare
Unendlichkeit, die sie dann auch geeignet machen für Raumsimulationen.
Um die Totalität eines Bewegungsraums zu erzeugen, muss der Guckkasten,
die Kammer und der cartesianische Raum mit seinen drei Koordinaten abgeschafft
und durch Sphären oder Sphärenschnitte abgelösst werden
wie z.B. bei den Fahrsimulatoren für Piloten. Die Geschichte dieser
sphärischen Projektionsräume reicht weit zurück, über
Buckminster Fullers worldgame, Bauersfelds Jenaer Zeiss-Planetarium,
den Dioramen und Panoramen des 19.Jahrhunderts bis hin zu Boullees Newtondenkmal
von 1784.
Dieses Denkmal ist eine riesige Hohlkugel, die den Weltraum simuliert
und trotz ihrer endlichen Form den Eindruck des Unendlichen erzeugen
kann. Die ansich geschlossene und dunkle Hohlkugel hat winzige Öffnungen,
die die Sterne nachbilden. Der Helligkeitskontrast ist so stark, dass
sich der dunkle sphärische Grund zwischen den Sternen ins Unendliche
weitet. Es ist ein scheinbar unendlicher Raum, der nur durch Licht gestaltet
und definiet wird. Boulee nennt es eine 'Architektur der Schatten'.
Er entwirft das Newton-Denkmal in den Jahren der ersten Ballonflüge.
Am 5.Juni 1783 steigt der erste Ballon auf - noch unbemannt. Boullee
nimmt Bezug auf diese Erfindung, die wie keine zweite paradigmatisch
für die veränderte Wahrnehmung steht. Erschreibt, wenn ein
Mensch bei einem Ballonflug in der Unendlichkeit dahintreibt und von
der ganzen Natur nur noch den Himmel erblickt, wird er tief erschüttert
durch das aussergewöhnliche Schauspiel eines nicht fassbaren Raumes.
Es ist diese veränderte Wahrnehmung und das Newtonsche Weltsystem
der absoluten Zeit und des absoluten, unendlichen Raums, das Boullee
in seinem Entwurf architektonisch umsetzt.
Der erste vierdimensionale Projektionsraum, dessen Projektion also auch
die Dimension der Zeit mit einbezieht, ist Bauersfelds Zeiss-Planetarium
in Jena von 1922. Bauersfeld sollte ein Modell bauen, das das kopernikanische
Weltsystem veranschaulicht und die Bewegung der Himmelskörper künstlich
beschleunigt simuliert.Statt wie bis dahin üblich bewegliche Schalen
mit aufgemalten Sternenbildern zu bauen, entwickelte er einen beweglichen
Projektor. Ein Rundumprojektor, sozusagen ein 4-D Projektor, der den
Lauf der Planeten simuliert. Der tragende Gedanke war, die Örter
im Raum durch Lichtstrahlen zu definieren. Nachdem Bauersfeld den Projektor
entwicklelt hatte, war seine zweite Aufgabe, einen sphärischen
Projektionsraum zu konstruieren. Zunächst hatte er an eine Art
Zirkuszelt gedacht, doch die importierten Textile waren während
der damaligen Inflation zu teuer. Die dann von ihm entworfene Konstruktion
war eine doppelte Erfindung: Es war die Erfindung der geodätischen
Netzwerkkuppel und der Schalenbauweise.
Das Jenaer Planetarium hatte einen grossen Einfluss auf das Bauhaus.
Alle Bauhäusler kannten es. So ist auch Walter Gropius bei seinem
Entwurf für ein Totaltheater davon entscheidend beeinflusst worden.
Er hatte zusammen mit Piscator eine Ringsumprojektion auf zahlreiche
Leinwände und an die Decke vorgesehen, weswegen er dann für
das Dach eine Netzwerkkuppel nach dem Bauersfeldschen Vorbild geplant
hat. Gropius betonte, wie wichtig die sphärische Überkupplung
des Raums für einen totalen Raumeindruck sei, denn nur so könne
man Himmel, Sterne und Wolken projezieren.
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Welches Raumverständnis kommt mit diesen sphärischen Projektionsräumen
in die Diskussion?
Joachim
Krausse: Der dreidimensionale euklidische Raum wird abgelösst durch
das 4-dimensionale Raum-Zeit-Kontinuum, das zuerst von Luftschiffen
und U-Booten in die Praxis eingeführt und mit ihnen sinnlich erfahrbar
wurde. Luftschiff und U-Boot zeichnen sich gegenüber dem Schiff
oder Boot dadurch aus, dass sie ein Höhenruder besitzen, mit denen
sie in die Tiefe gelenkt oder zum Aufsteigen gebracht werden können.
Somit erschliessen sie eine neue Dimension. Da jede Positionsbestimmung
mit Zeitangabe versehen wird, haben wir es bei ihnen mit einer 4-D Wirklichkeit
zu tun. Die früheren Fahrzeuge waren nur 3-dimensional, da sie
zwar abhängig von der Zeit waren, sich aber nur auf der Fläche
bewegten.
Mit dem 4-dimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum ist der Raum nicht mehr
homogen, er wird vielfältig. Einsteins Lehrer Minkowski beschreibt
dies in seinem Vortrag 'Raum und Zeit' von 1908: 'Von Stund an sollen
Raum und Zeit für sich völlig zu Schatten herabsinken und
nur noch eine Art Union der beiden soll Selbständigkeit bewahren.'
In einem vierdimensionalen Bezugssystem 'würden wir dann in der
Welt nicht mehr den Raum sondern unendlich viele Räme haben, analog
wie es im dreidimensionalen Raum unendlich viele Ebenen gibt.'
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Welche neuen Arten von Räumen entstehen mit U-Booten und Luftschiffen?
Joachim
Krausse: Beim U-Boot ist es das steuerbare Environment, eine abgekapselte,
autonome und künstlich gestaltete Umwelt. Alle Beziehungen zur
Aussenwelt sind indirekt, sind über Seerohr, Luftschacht, Heizungssystem
und Druckausgleich vermittelt.Beim Luftschiff ist es ein Raum, der nicht
mehr durch Masse definiert ist, der Begriff des Soliden verliert seine
Bedeutung. Es ist das erste Mal, dass eine extrem leichte Inneneinrichtung
notwendig wird. Der Raum definiert sich nicht mehr durch Abgrenzung,
sondern durch ein dynamische Gleigewicht. Es ist eine atmende Architektur.
Regelmechanismen stimmen den inneren und äusseren Luftdruck aufeinander
ab, berücksichtigen den Wind und die Sonneneinstrahlung. Es sind
die ersten Ansätze für eine intelligente Architektur. Mit
dem Luftschiff beginnt auch die wissenschatliche Erforschung des atmosphärischen
Verhaltens, die Metereologie und Aerodynamik. Das Luftschiff ist das
erste Objekt, wo aerodynamische Formen entstehen, der Zylinder wird
von der aerodynamisch günstigeren paraboloiden Form abgelöst.
Das Luftschiff ist ein techmisches Paradigma, bei dem Konstruktionen,
Materialien und Herstellungstechniken erforscht und entwickelt werden,
die später auch in anderen Gebieten Anwendung finden. Buckminster
Fuller hat dieses technologische Paradigma für die Architektur
entdeckt. Sein 4-D-Haus nimmt Bezug auf den Zeppelin, es heisst auch
4-D-Zep.
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Die Erkenntnisse aus dem Luftschiffbau wurden bereits bei den Luftschiffhallen
angewendet. Die Luftschiffhallen sind die ersten grossen textilen Bauten
in diesem Jahrhundert. Ihre Konstruktionen wurden in Windkanalversuchen
getestet. Biaxiale Membranprüfungen wurden für die Luftschiffhüllen
entwicklet und in den 60er Jahren von Frei Otto in den Zeltbau eingeführt.
Joachim
Krausse: Und ebenso ist der Heissluftballon eine Urform Traglufthalle.
Er ist eigentlich ein mobiler Pneu. Die Bollonhülle nimmt die Zugkräftee
auf, während das Gasvolumen auf Druck beansprucht wird und somit
die Druckglieder ersetzt. Die Stütze, die Säule verschwindet,
der Unterschied zwischen Tragendem und Getragenem wird aufgehoben.
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Diese neuen Raumkonzepte künstlicher Umwelten, intelligenter Steuerung
und des Raum-Zeit-Kontinuums werden zuerst bei Fahrzeugen realisiert
- ohne Zusammenhang zur Architektur. Dort bleiben sie eine Randerscheinung
wie das Jenaer Planetarium und das Totaltheater von Gropius, die nicht
die architektonische Diskussion bestimmen. Wann ändert sich das,
wann werden diese neuen Raumkonzepte bewusst als Thema von Architekten
aufgegriffen?
Joachim
Krausse: Buckminster Fuller ist der erste, der darauf insistiert, dass
mit den technologischen Paradigmen des Luftschiffs ect. ein neuer Raumbegriff
einzuführen sei. Der cartesianische Raum mit seinen 3 Koordinaten
sei überholt. Er schlägt ein anderes Raummodell - das tetraedisch
organisierte - vor. Er sucht verzweifelt nach der vierten Dimension,
der Zeit. Zunächst bemüht er sich darum, sich alle baulichen
Realisationen in einem Zeitspektrum vorzustellen. Er ist der erste,
der ein Haus nicht als dauerhaft ansieht und daher dessen Abbruch oder
Demontage mitbedenkt. Er entwicklet ein neues Verständnis des Körperlichen,
der Materie. Ich meine damit nicht dieses postmoderne Schlagwort der
Entmaterialisierung. Das ist ungenau, eigentlich falsch. Gemeint ist
die Gleichsetzung von Energie und Materie in der modernen Physik. Für
Fuller besteht die Welt aus energy events - Energiereignissen - , aus
Wellen und Strahlen. Das schliesst auch die Materie mit ein. Aber die
Körper - the solids - sind weg, und damit die Vorstellung von Solidität.
Wir benützen heute noch in der Alltagssprache 'solide' als etwas
postiv wertendes, verbinden mit Masse und Gewicht stabil und wertvoll.
Für Buckmister Fuller ist diese Vorstellung des Soliden verschwunden.
Für ihn sind damit auch die Raumgrenzen der Dächer und Wände
verschwunden. An deren Stelle tritt die raumentgrenzende Umhüllung.
Im Gegensatz zu den eindeutig definierten Abgrenzungen von Räumen
in soliden Gebäuden gibt es bei Zelten, geodätischen Kuppeln
und Netzwerken alle Arten von Durchlässigkeiten. Ein vieldeutiger
Raum entsteht. Der Wahrnehmungsraum ist für die einzelnen Sinne
des Hören, Sehen, Fühlen, Riechens ect. ganz unterschiedlich.
Die sinnliche Wahrnehmung zerfällt in dissoziierte Einzelfunktionen.
Aus der Überlagerung entsteht die Vieldeutigkeit. Ein Beispiel
dafür ist ein wunderschönes Gewächshaus von Buckminster
Fuller, eines seiner ersten geodätischen Konstruktionen. Klimatisch
stellt die Raumhülle ein Innen und Aussen her, aber visuell verschwindet
sie, weil es Innen und Aussen gleichernmassen Pflanzen gibt und der
Raum sich fortsetzt. Die Raumgrenze beginnt zu oszillieren. Die materielle
Grenze wird zu einer energetischen, sie wird ephemer, vergänglich.
Diese Hüllen haben nichts mehr mit Form zu tuen. Neue Arten der
Gestaltung und Gliederung von Räumen werden notwendig, da die Raumgrenzen
verschwunden sind. Dies wird zu einer Frage der Innenraumgestaltung,
der Inszenierung.
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Wie kann man einen Raum durch Inszenierung definieren?
Joachim
Krausse: Mit der Inszenierung muss die Separierung oder Zusammenführung
der sinnlichen Einzelfunktione gestaltet werden, das Sehen, Hören,
Riechen, Tasten usw.. Man muss sich mit der Raumwahrnehmung beschäftigen.
Psychologen haben untersucht, wie Raum überhaupt wahrgenommen wird.
Wenn man einen Raum betritt, atmet man beim übrschreiten der Schwelle
unwillkürlich ein und nimmt zuerst den Geruch des Raumes wahr.
Das bestimmt die Wahrnehmung des Raumes. Dann tritt das Hörerlebnis
ein. Du nimmst den Raumton war - die Atmo, wie die Filmemacher sagen
- und zwar unbewusst. Eine Raumgrösse, die vom Auge manchmal schwer
zu bemessen ist, bekommt man durch die Atmo, die Akustik sehr gut vermittelt.
Sehr wichtig für den Raumeinduck ist auch das Material, auf dem
du läufst, die taktile Wahrnehmung mit den Füssen. Danach
kommt erst das Sehen. Willst Du einen Raum bestimmen, dann musst Du
Dir diese sinnlichen Einzelfunktionen vornehmen. Dabei ist es gar nicht
so einfach, einen bestimmten Raum zu reproduzieren. So stellt sich bei
Ausstellungen, in denen Wohnungen als 1:1 Modell nachgebaut werden,
nie das Raumgefühl ein, weil die Atmo, die Raumakustik nicht berücksichtigt
wird.
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Bei der Schaffung künstlicher Environments macht es die Dissoziierung
der sinnlichen Wahrnehmung in Einzelfunktionen möglich, durch die
Kombination unterschiedlicher Wahrnehmungsräume für die einzelnen
Sinne völlig neue Raumeindrücke zu erzeugen. Wie z.B., wenn
man mit einem Walkman durch die Stadt läuft, den freien Himmel
sieht und dazu eine in geschlossenen Räumen erzeugte Musik hört.
Mit der Inszenierung ist der Raum auch nicht mehr statisch, sondern
verwandelt sich ständig.
Joachim
Krausse: Wenn der Architekt die einzelnen Kanäle der sinnlichen
Wahrnehmung gestalten will, muss er im Grunde Szenarien entwerfen, Szenarie
von Handlungs- und Bewegungsabläufen in dem zu gestaltenden Raum.
In der Moderne haben sich vorallem Adolf Loos, Josef Frank und Stirnat
mit solchen Fragen beschäftigt, indem sie den Raum als Weg auffassten,
als Prozess. Der Raum als Prozess lässt sich nur mit Hilfe des
Szenarios entwerfen. Man muss aus dem Universum aller Handlungsmöglichkeiten
Abläufe herraussuchen, konstruieren, Raumfolgen bilden, Funktionen
und Materialien verteilen. Dies hat sehr viel mit der Arbeit von Theater-
und Filmemachern zu tuen. Es wäre interessant, an die Raumgestaltung
einmal so heranzugehen und die Architektur beiseite zu lassen.
Arch+:
Inzwischen interessieren sich zahlreiche Architekten für Inszenierungen.
Toyo Ito z.B. arbietet mit einer solchen Entwurfsmethode wie Du sie
eben vorgeschlagen hast. Er entwirft erst eine Möblierung, also
ein Szenario, und dann die Umhüllung dafür.
Joachim
Krausse: Die Architekten haben inzwischen bemerkt, dass ihnen die Inszenierung
der Alltagswelt entglitten ist, sie von dem Medien übernommen wurde.
Portables, Ghettobluster und Walkman sind Beispiele für Räume,
die Du mit Dir herumtragen kannst, die den physischen Raum ersetzen.
So definiert der Fernseher den wahrgenommenen Raum, der gebaute, vom
Architekten gestaltete Raum tritt in den Hintergrund, wird sekundär.
Das passiert schon beim lesen. Wenn du ein Buch aufschlägst, versinkst
du im Buch, bist abwesend. Du tritts in einen anderen, in einen medialen
Raum ein. Und die medial erzeugten Räume breiten sich immer mehr
aus. Es hat eine Verlagerung von der Architektur zu den Medien stattgefunden.
Traditionell kam den Architekten die Regie über die Alltagswelt
zu. Deswegen fasziniert heute auch der Barock, weil dort vom höfischen
Alltag, den Zeremonien und Festen bis zum Städtebau alles einer
umfassenden Regie unterstelt war. Und da heute den Architekten dieses
Regie über die Alltagswelt aus der hand genommen wurde, fangen
sie wieder an, über Inszenierungen nachzudenken, was ich sehr richtig
finde. Damit meine ich nicht einen besonderen formalen Ehrgeiz bei der
Gestaltung eines Gebäudes. Das geht an dem Problem völlig
vorbei.
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Welche Rolle spiel bei einer Inszenierung der Betrachter, der Benutzer?
Joachim
Krausse: Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, Inszenierungen
zu gestalten. Zum einen gibt es Inszenierungen, die dich terroristisch
vereinnahmen. Es sind die simulierten Welten, die du nur noch passiv
rezipierst. Ein hochauflösender Fernseher, der eine ganze Wand
zu einem Screen verwandelt, dazu ein Quadroraumton vereinnahmen dich
völlig. Wenn du davor, eigentlich darin sitzt, gehst du in der
Inszenierung auf, du lebst in diesem Diorama, du kannst dich ihm nicht
mehr entziehen. Du fährst dann im Bett Auto.
Andererseits gibt es interaktive Formen der Inszenierung, bei der der
Betrachter zum handelnden Subjekt wird. In der Kunst gibt es z.B. Performances,
bei denen der Aktionskünstler nicht festlegt, wie sich das Publikum
zu verhalten hat. Es bewegt sich frei im Raum und erst dadurch wird
die eigentliche Form der Performance gefunden. Das ist auch die Hauptrichtung
in der modernen Musik, insbesonder bei John Cage. Cage ist sehr stark
von Buckminster Fullers Idee der Ephemerisierung beeinflusst. In seiner
Musik spielt die Stille, die Pause eine ähnliche Rolle wie die
verschwindende Hülle bei Buckminster Fuller. Cage's Bestreben ist
es, durch die Stille die Musik des Zuhörers zu wecken.
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Bezogen auf die Architektur heisst das doch, das gerade eine schlichte,
unaufdringliche Architektur die eigene Vorstellungswelt des Benutzers
aktiviert.
Joachim
Krausse: Das ist auch das angenehme an den textilen Bauten. Man denke
bloss an ein Zirkuszelt, bei dem es so gut möglich ist, den dramatischen
Moment der Stille zu erzeugen.
Arch+:
Cage arbeitet noch mit einem anderen Mittel zur Aktvierung des Zuhörers,
dem Zufall. D.h. das im Gegensatz zu einer völlig geordneten Welt,
einer programmierten Inszenierung, die die eigene Interpretation weitgehend
ausschaltet, ein gewisses Mass an Unbestimmtheit und Chaos herrscht,
das vom Zuhörer neu geordnet werden muss. Die Nichteindeutigkeit,
die Mehrfachlesbarkeit fordern ihn heraus, selber eine Ordnung herzustellen.
Joachim
Krausse: Das gleiche tritt auch beim Sehen auf. Der Projektionsbegriff
ist doppeldeutig. Es gibt nicht nur eine Projektion technischer Bilder,
auch der Mensch projeziert Vorstellungen und Bilder. Der Gesichtssinn
arbeitet projektiv, das Auge ist Kamera und Projektor zugleich, es ist
ein aktives Organ.
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Wie z.B. das weisse Quadrat von Malewitsch die Projektionen des Betrachters
hervorruft im Gegensatz zu einem Fernsehapparat.
Joachim
Krausse: Der entscheidende Einschnitt in der modernen Physik seit Einstein
ist, dass der Betrachter immer mitgedacht wird. Du kannst dich nicht
mehr neben ein Ereignis stellen und als Subjekt über einen objektiven
Tatbestand reden. Mit dieser Trennung von Subjekt und Objekt ist es
endgültig vorbei. Anstelle dessen tritt eine dauernde Wechselwirkung
zwischen beiden, ein interaktives Oszillieren. Ephemere Strukturen fördern
dieses Wechselspiel, lassen beides zu. Sie sind für beide Arten
von Projektionen, innere wie äussere, gleichermassen geeignet.
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Die Relativitätstheorie hat auch die Idee des homogene, absoluten
Raumszerstört. Im Raum - Zeit - Kontinuum ist die Beobachtung abhängig
von der Eigenschaft des jeweiligen Raums. Ebenso eröffnet ein architektonischer
Raum, der nicht mehr homogen, sondern durch Licht, Klang, Wärme
ect. in unterschiedliche Bereiche differenziert ist, dem Betrachter
die Möglichkeit, seine Situation zu beeinflussen, in dem er sich
in unterschiedliche Raumzustände begibt.
Die Bewegung im Raum eröffnet gerade dann neue Raumerlebnisse,
wenn die einzelnen Sinneserlebnisse unabhängig voneinander gestaltet
werden. Wenn jemand einen Walkman aufhat und durch die Stadt läuft,kann
sich das auf den Menschen nicht nur bedröhnend, sondern auch stimulierend
auswirken. Die normalen Sinnzusammenhänge, die übereinstimmung
zwischen optischer und akustischer Wirklichkeit werden destruiert. Ein
optisches Ereignis wird mit einem völlig unabhängigen akustischen
Ereignis überlagert, so dass der Mensch neue Sinnzusammenhänge
konstituieren muss. So werden die projektiven Fähigkeiten des Menschen
aktiviert, obgleich die akustische Welt für sich völlig determiniert
ist.
Joachim
Krausse: Durch seine Bewegung im Raum hat er es selber in der Hand,
Ton- und Bildspur zu komponieren. Er sitzt sozusagen am Schneidetisch.
Das ist ein sehr schönes Beispiel für den nichtsimultanen
Raum. Die Nichtsmultanität ist die Haupteigenschaft des modernen
Raumbegriffs. Das ist lange Zeit nicht verstanden worden, obgleich Einstein
die Nichtsimultanität des Universums entdeckt hat. So schreibt
Giedeon in seinem Buch 'Raum, Zeit, Architektur' in einem völligen
Missverständnis Einsteins von der Entdeckung des simultanen Raumes
durch diemoderne Physik.
Arch+:
Warum ist der Einsteinsche Raum nichtsimultan?
Joachim
Krausse: Der Einsteinsche Raum ist nichtsimultan, weil sich in der Raumzeit
die Ereignisse nur teilweise überlappen. Bei dem Blick in den Sternenhimmel
siehst du das, was eigentlich existiert, nicht. Du siehst Dinge zusammen,
die nie gleichzeitig existiert haben und auch nicht mehr existiren.
Was du siehst, kann nur von deinem Standpunkt und in diesem Moment gesehen
werden. Von Simultanität kann keine Rede mehr sein. Die Herausforderung
für die Architekten heute ist die Auseinandersetzung mit dem nichtsimultanen
Raum.
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