Philipp Oswalt im Gespräch mit Cedric Price | 1991
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Das Ungewisse - Die Freude am Unbekannten

Arch+: Eines der wichtigsten Ziele heutiger Stadtplanung ist es in Abgrenzung vom Städtebau der klassischen Moderne, eine möglichst große Durchmischung unterschiedlicher Aktivitäten zu erreichen. Dabei denken die Planer und Architekten vor allem an die historischen Städte. Doch wenn man die heutigen Städte betrachtet, so entdeckt man in den Peripherien der städtischen Regionen eine neue Art der Nutzungsmischung, die nicht mehr auf einer kleinteiligen Parzellierung hochverdichteter Innenstädte beruht, sondern durch eine großflächige Erschließung ganzer Regionen hergestellt wird.
Cedric Price: Die Suburbs sind eher in der Lage auf neue menschliche Wünsche zu reagieren und sich diesen anzupassen. Die Innenstädte werden zweifellos als Disneylands enden, wenn Sie es nicht bereits schon sind. Und zwar nicht für die Touristen aus dem Ausland, sondern für die Leute in den Vorstädten, die nicht im Zentrum von London leben wollen, aber das Zentrum sehen möchten.
Unglücklicherweise beruhen auch die Gebäudetypologien in den Vorstädten und Peripherien auf der selben Nutzungstrennung wie die alten Gebäude in den Innenstädten. Auch wenn viele Leute denken, daß ein großes Einkaufszentrum am Stadtrand etwas völlig anderes sei als ein Laden in einem Dorf oder einer Stadt, muß man in beiden Fällen hineingehen um einzukaufen und beim Herausgehen seine Ware mitnehmen. Genauso altmodisch sind auch die vorstädtischen Schulen und Büchereien.
Andererseits gibt es bereits neue Gebäudetypen, aber wir nehmen Sie nicht wahr. Die Art wie Leute ihre Wohnung benützen gibt einen ersten Hinweis: War bislang die elektronische Ausstattung hauptsächlich in der Küche, so finden wir sie heute vor allem in den Schlafzimmern. Diese werden oft wie ein Arbeitsplatz oder eine Bibliothek genutzt, aber die Architektur zeigt eine solche Nutzungsänderung nicht so schnell.

Sie meinen also, daß durch die Verlagerung von Aktivitäten aus dem öffentlichen Raum in die Wohnung dort eine Mischung verschiedener Funktionen entstanden ist?
Ja, in vielen Fällen. Das legt natürlich nahe, daß Architektur vielleicht noch anonymer sein soll, daß Architektur noch mehr in der Lage sein soll, sich dem Verlangen der Nutzer anzupassen. Das findet man bei alten Gebäuden. In London werden alte Lagerhäuser für eine Vielzahl von Dingen genutzt. Das weist darauf hin, daß für die Leute Architektur vielleicht nicht mehr das naheliegendste Mittel ist, um ihre Vorstellungen umzusetzen. Es sind heute eher andere Dinge wie das elektronische Gerät, mit dem wir das Interview aufzeichnen. Man kann es einfach auf einen Tisch in einem hundert Jahre alten Haus stellen und es arbeitet perfekt, während man früher für den privaten Genuß von Musik einen großen Klavierflügel brauchte, der eine große architektonische Aufmerksamkeit erforderte.

Gibt es nicht einen großen Unterschied zwischen früheren und heutigen Formen von Nutzungsmischungen? Im Mittelalter lebte und arbeitete ein Handwerker in ein und dem selben Haus. Das war eine aus dem Lebenszusammenhang sich ergebende Verbindung unterschiedlicher Aktivitäten. Heute sind die einzelnen Aktivitäten voneinander getrennt und folgen jeweils ihrer eigenen Logik. Das Leben eines jeden Menschen ist eine individuelle Collage autonomer Elemente, ausgewählt aus einer breiten Palette von Möglichkeiten.
Ihre Vorstellung von der heutigen Lebensweise ist antiquiert. Tatsächlich beschreiben Sie das Leben zu Ende des 19.Jh. und Beginn des 20.Jh.. Mit dem Beginn der Urbanisierung, den ersten Eisenbahnen und Bibliotheken, dem Beginn des öffentlichen Gesundheits- und Schulwesens zu Ende des 19.Jh. fragmentierten sich die Tätigkeiten und Nutzungen. Bücher waren leichter verfügbar, wenn sie zentral aufbewahrt wurden. Markthallen wurden in mitten der Städte gebaut, also nicht dort, wo die Nahrungsmittel erzeugt, sondern wo sie verzehrt wurden.
Diese Fragmentierung von Nutzungen in einzelne Gebäude hat sich bereits in gewisser Weise umgedreht. Wenn man z.B. in Betracht zieht, was alles in einem Auto unabhängig von der Fortbewegung geschieht -Träume, Musik, Familientreffen, Geschäftsgespräche usw.-, dann halte ich das Auto für eines der menschlichsten Gehäuse. Heutzutage kommt die Familie nur im Auto zusammen und spricht miteinander, während zu Hause die Familienmitglieder sich in ihre Schlafzimmer zurückziehen, verschiedene Fernsehprogramme anschauen und auch nicht miteinander essen.

Wenn Ihrer Meinung nach die Architektur anonym sein soll, um sich dem Wandel der Nutzungen anpassen zu können, dann ist die Mischung unterschiedlicher Aktivitäten etwas, was nicht geplant werden kann, sondern was sich mit der Zeit von selbst entwickelt.
Ja, wobei architektonische Entscheidungen nach wie vor wichtig sein können. Kommen wir nochmal auf das Beispiel der Neuorganisation des Wohnens zurück. Heutige Bungalows und Einfamilienhäuser könnten wesentlich verbessert werden, wenn sie statt einer Haustür drei oder vier Haustüren hätten. Dann hätte jeder seine eigene Eingangstür, man würde das Haus durch sein eigenes Zimmer betreten. Nur wenn man wollte, ginge man weiter in die Küche oder das Eßzimmer, um den Rest der Famile zu sehen.

Im Bereich der Stadtplanung haben Sie und Reyner Banham mit dem Projekt 'Non-Plan' Ende der 60er Jahre die Idee der Selbstorganisation eingeführt.
Wir schlugen vor, eine Reihe von staatlichen Regelungen abzuschaffen. Der Staat und die Planer meinen zu wissen, was gut für die Gesellschaft ist und sie versuchen alles gleich zu machen. Wir wollten die Ungleichheit verstärken. Die Stadtregion wird fragmentarisch, der Begriff 'unterschiedlich' wird die Begriffe 'gut' und 'schlecht' ersetzen. Non-Plan erlaubt kontinuierlichen Wandel und ständige Weiterentwicklung. Durch die Abschaffung jeglicher Bodennutzungsbeschränkungen werden Tätigkeiten und Lebensweisen am jeweils geeignesten Ort zur günstigsten Zeit ermöglicht. Gegensätzliche Funktionen werden miteinander konfrontiert und örtlich, organisatorisch wie ökonomisch durchmischt. Hybride Aktivitäten und Flächennutzungen sind die Folge.
Als Gebiet für dieses Experiment in Nichtplanung wählten wir unter anderem ein Gebiet in East Midland aus, dessen gute Erschließung ein gleichmäßiges Wachstum entlang der Straßen erlaubte. Die Gebiete zwischen den bestehenden Dörfern und Städten würden zuwachsen und vielleicht in Zukunft zu den neuen Zentren werden. Die Stadtentwicklung wäre weniger geometrisch als es die Planer wollen, doch würde sie den Anforderungen einer mobilen Gesellschaft Rechnung tragen.
Wegen diesem Projekt wurde ich von meinen engsten Freunden der politischen Linken beschuldigt, politisch rechts oder anarchistisch zu sein. Doch ich bezweifle sehr den Sinn staatlicher Maßregelung und Subventionen. Ich bin auch gegen Subventionierung von Kunst. Die Beatels wurden niemals subventioniert, Hunderennen und Stierkämpfe werden meines Erachtens nicht subventioniert, und auch wenn ich es selber nicht mag, es gibt Leute, die das gerne haben.

Die Unfähigkeit des Staates, neue Entwicklungen zu erkennen, ist ein sehr interessantes Phänomen. Demgegenüber reagieren private Investoren sehr viel aufmerksamer auf gesellschaftliche Veränderungen, weil sie ihre Gebäude vermieten müssen. So ist der spekulative Wohnungsbau des 19.Jh. immer noch brauchbar, da er flexibel ist. Er ist ein gutes Beispiel für eine im guten Sinne anonyme Architektur. Hingegen sind die Sozialbauwohnungen in den Vorstädten der 60er Jahre oft so unbrauchbar, daß sie schon jetzt abgerissen werden müssen.
Der Staat dachte, er weiß was gut für die Gesellschaft ist. Aber es war sehr schnell veraltet.

Ist die Durchmischung unterschiedlicher Aktivitäten nicht auch eine Frage der Zeit? Die Nutzungsvielfalt in alten Stadtzentren und in den Suburbs ist mit der Zeit entstanden und hat sich kontinuierlich verändert. Selbstorganisation braucht Zeit und die Möglichkeit zu Nutzungsveränderung.
Das ist völlig richtig. Und die Veränderung gebauter Strukturen und noch mehr die Veränderung ihrer visuellen Erscheinung beschleunigt sich immer mehr. Man kann Geschichte nur dort spüren, wo der Kontrast zwischen Alt und Neu zu sehen ist. Wenn keine Veränderung gezeigt wird, wenn man ein Schloß so konserviert wie es gebaut wurde, wird die Geschichte getötet.
Die verschiedenen Elemente haben unterschiedliche Zeitmaßstäbe. In den Stadtzentren beruht die kurze Lebensdauer der Bauten auf ihrem ökonomischen Wert. In ehemals attraktiven Londoner Stadtvierteln sind inzwischen zahlreiche Verkaufschilder für die Immobilien zu sehen. Die Leute ziehen aus. Ich habe auch enorme Veränderungen in dem hiesigen Stadtteil beobachtet. Die Fenster sind die gleichen geblieben, doch was früher Kneipen, Gemüseläden, chemische Reinigungen waren sind heute Reiseagenturen für Studenten, Versicherungsbüros und Schnelldruckereien.

Im Gegensatz zu den Gebäuden hat die Infrastruktur eine eher lange Lebensdauer.
Ja, das gilt sogar für die vermeintlich unsichtbare Infrastruktur. Zwar sind Radiowellen eigentlich flexibel, aber wir können die Sendemäste nicht verschieben. Und da die Radiowellen sich in geraden Linien ausbreiten, dürfen keine Gebäude im Wege stehen, so daß z.B. der Londoner Fernmeldeturm ganze Avenuen unentwickelten Raums quer über das Land festgelegt hat. Es gibt also große Korridore ähnlich den Luftverkehrsstraßen, die durch die unsichtbare Kommunikation verursacht sind, die noch immer statisch ist.
Und das andere wesentliche Element in London ist unterirdisch. Noch tiefer als die U-Bahn-Tunnels liegt eine neue Wasserleitung. Ihre Fertigstellung Ende nächsten Jahres wird große Auswirkungen haben auf die bunten Auswüchse, die wir Gebäude nennen, diese kleinen aus dem Boden herausragenden Teile. Die Leute meinen, sie sind eine Frage des umgebenden Stadtteils und seiner Architektur, jedoch ist es lediglich das billige Leitungswasser, das das ganze Netzwerk am Leben hält.
Architekten müssen darüber nachdenken, aber sie vergessen zumeist die dritte Dimension, das, was über und unter der Erde ist. Die Erde ist nicht flach, es gibt Kohlenkeller, Wasserleitungen, Verkehrstunnel, Radiowellen, Hochspannungsleitungen und Ausblicke.

Das Denken in Zeitmaßstäben heißt auch, daß man sich die Stadt nicht mehr als etwas endgültiges vorstellt. Im Barock und ebenso in der Moderne wie z.B. bei Le Corbusier stellte man sich einen idealen Zustand vor, den eine Stadt irgendwann erreichen sollte. Sie hingegen arbeiten bei Ihren Projekten mit Phasenplänen, mit denen Sie versuchen, ein mögliches Szenario der zukünftigen Stadtentwicklung zu beschreiben.
Es gibt niemals einen Endpunkt und das ist die Schwierigkeit. Ich bekam einmal die unmögliche Aufgabe gestellt, die Stadt der Zukunft zu entwerfen. Das einzige, was ich entwickeln konnte, war eine Reihe von fragmentarischen Ideen und widersprüchlichen Trends, aber keine Gebäude. Doch nicht nur Architekten, auch Politiker und Verwaltungsbeamte -ob in Demokratien oder Diktaturen- denken, daß es in der Architektur große Pläne geben muß, die eines Tages realisiert werden. Sie wollen einen Plan, ein System, eine Methode, die jederzeit angewendet werden kann.
Architekten sollten darüber nachdenken, ob Gebäude überhaupt notwendig sind und für wie lange. Und wenn sie irgendeinen Zweifel an der Dauerhaftigkeit des funktionellen Vergnügens an einem Gebäude haben, dann sollten sie als wirklich intelligente Gestalter sicherstellen, daß das Gebäude nicht zu lange erhalten bleibt. Und sie sollten etwas Raum auf dem Grundstück frei lassen, daß jemand noch etwas anderes dort machen kann.

Nutzungsmischung ist ein nahes Nebeneinander widersprüchlicher Aktivitäten. Doch heute ist für die Nähe nicht mehr die räumliche Entfernung, sondern die zeitliche Distanz entscheidend. In den Perpherien hat die Geschwindigkeit der Fortbewegung die städtische Dichte ersetzt.
Nähe ist eine Frage von Zeit, Geschwindigkeit und Austausch.

Und unterschiedliche Geschwindigkeiten und Arten der Fortbewegung haben unterschiedliche Nutzungsmischungen zur Folge.
Besonders interessant sind die Orte der Geschwindigkeitswechsel, weil diese extreme Verhältnisse verursachen. Ein Flugzeug bewegt sich mit 900 km/h und wenn es auf einem Flughafen gelandet ist, kommen Menschen heraus, die sich mit 5 km/h fortbewegen. Diese extremen Umstände erfordern eine spezielle Umgebung und zum größten Teil gebaute Maßnahmen wie Landebahnen und Taxistände.

Bei Ihrem Projekt Potteries Thinkbelt haben Sie drei solcher Umsteigestationen entworfen. Im Wesentlichen beruht der Entwurf auf einem regionalen Verkehrsnetz, daß mit diesen drei Stationen an die überregionale Infrastruktur angebunden ist.
Jede dieser Stationen war eine Verbindung zwischen dem eher absonderlichen regionalen Verkehrsnetz und einem jeweils anderen nationalen oder internationalen Verkehrsmittel - Straße, Schiene oder Luft. Jeweils nur eins dieser Verkehrsmittel, weil ich fand, daß dies genug Konzentration an einem Ort ist. Das regionale Verkehrsnetz basierte vorallem auf Eisenbahnlinien, die zugleich Bibliotheken sein sollten, sodaß man während dem Fahren lernen und sich informieren konnte.
An den drei Umsteigepunkte sollten lustige Dinge geschehen. Zu der Funktion des Geschwindigkeitswechsel kamen andere Aktivitäten hinzu. Bei der Eisenbahnstation waren es Schwermaschinenbau und langfristige Forschungsvorhaben. Direkt am Bahnhof konnten Laborversuche an schweren Güter vorgenommen werden. Die Autostation war vorallem eine Massierung von Menschen und so gab es dort mehrere Hotels. Und der Flughafen diente der Hochtechnologie. Er war der Ort für die Dinge und Menschen, die man nicht lange dabehalten konnte - irgendwelche Spezialisten und besonders wertvolle Untersuchungsgegenstände. Vor dem Weiterflug konnten sie im Flughafengebäude getestet werden und für genauere Untersuchungen standen Labors auf Eisenbahnwaggons zur Verfügung.

Diese Verkehrsknoten geben der verstreut besiedelten Region Struktur und Gestalt.
Sie ziehen Interessengruppen an. Und mit dem polyzentrischen Verkehrsnetz lagen plötzlich die Sozialbauwohnungen am Stadtrand verkehrsgünstiger als die Innenstädte. Die geplante Universität wurde auf mehrere Standorte verteilt und war dadurch mit den anderen Lebensbereichen wie Wohnen und Arbeiten aufs engste verknüpft. Mit Absicht ließen wir Freiräume als Reserve für zukünftige Entwicklungen.
Auch bei meinem Projekt für Straßburg-Kehl sind die Bewegungsstrukturen die eigentlichen Formgeber. Sie bilden Entwicklungskorridore. Die verschiedenen Verkehrserschließungen sind der Schlüssel für die zukünftige Nutzbarkeit und die zukünftigen Möglichkeiten. Die Synenergie von Bewegung und Standort ersetzt Grenzen und Territorien.

Wenn ein Planer oder Architekt eine Mischung von Nutzungen erreichen will, sollte er nicht konkrete Aktivitäten planen, sondern eher verscheidene Orte miteinander verbinden, Infrastrukturen für Autos, Eisenbahnen, ...
... und Ideen entwerfen. Man muß das betonen, weil es immer noch ignoriert wird. Die Aufgabe von Architekten ist es zur Zeit, die Ungleichheit auszubalancieren, weil andere darüber nicht nachdenken.

Um die Ungleichheit einzuebnen oder zu verstärken?
Um die Wahlmöglichkeiten zu vergrößern, was weder das eine noch das andere ist. Es geht darum, allen gleichermaßen eine große Wahlfreiheit anzubieten, um es damit den Individuen zu ermöglichen, unterschiedlich zu leben. Es ist nichts Böses dabei, in einem Schloß zu wohnen, doch sollte es nicht nur reichen Leuten vorbehalten sein. Man soll nicht alles gleichmachen, sondern das Alphabet der Wahlmöglichkeiten erweitern.
Architekten sollten großzügig sein, sich nicht als Problemlöser oder Notärzte verstehen. Denn wenn man ein Problem benennen kann, dann gibt es bereits seit einiger Zeit ein Leiden. Architektur ist zu langsam, um Probleme zu lösen. All das Geschwätz über Computer, die Architekten helfen Probleme zu lösen, ist Quatsch. Andere Dinge wie eine Menge mehr Geld, die Verwandlung von Raketen in Gummibärchen, Drogen oder was auch immer können Probleme lösen. Aber da die Herstellung von Architektur langsam vor sich geht, müssen Architekten sehr großzügig sein und sollten vorausdenken. Architekten sollten Formen gesellschaftlichen Wohlergehens erfinden, die man bisher für unmöglich gehalten hat. Sie haben kein Recht, den Leuten vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, sondern die Pflicht ihnen zu sagen, daß sie dies oder jenes noch nicht ausprobiert haben und daß sie es ihnen möglich machen können.
Architekten sollten nicht nur reagieren. Sie sollten neue Peripherien entdecken. Eine der faszinierensten Peripherien in England ist für mich das Watt, dieses Stück Land zwischen Ebbe und Flut rings um die Küste. Es ist eine ständig sich verändernde Grenze und je nach der Zeit kann die Gezeitenzone entweder vom Land oder vom Wasser aus betreten und unterscheidlich genutzt werden.

Die Küstenlinie ist überhaupt ein spannendes Beispiel. Ihre Linie ist so aufgefächert, daß eine relativ kleine Fläche von einer sehr langen Umrißlinie umschlossen wird, ein typisches Charakteristikum einer fraktalen Geometrie. Solche Formen findet man auch in den städtischen Peripherien wieder, denn es scheint außerordentlich begehrenswert zu sein, auf der Grenze zwischen zwei verschiedenen Gebieten zu leben. Die Leute wollen sowohl in der Stadt als auf dem Land sein.
Formen für solche Gegenüberstellung und Verbindung widersprüchlicher Lebensweisen können auch mit Hilfe zeitlicher Organisation gefunden werden, wenn man bedenkt, daß Gebäude nicht etwas Dauerhaftes sein müssen. In Indien z.B. gab es Tempel, die von einem heiligen Mann auf einem Karren durch die Dörfer gezogen wurden. Die Dorfbewohner wußten, daß an einem bestimmten Tag der Tempel da ist und sie dann die Möglichkeit haben, mit ihren Göttern zu sprechen. Das war bevor sie sich es leisten konnten, in jedem Dorf ein Tempel zu bauen. Ebenso kann man sich vorstellen, daß man einen alten Kahn zu einem Einkaufszentrum umbaut, der sich mit Ebbe und Flut auf- und abwärts bewegt. Er hätte keinen festen Standort, aber wir wüßten, um 9 Uhr morgens am Donnerstag ist es da, ein Einkausfzentrum, eine Oper oder was auch immer. Für uns ist es egal, wie schwierig es für den Sänger Pavarotti ist nach London zu kommen. Hauptsache ist, daß er bei seiner Tournee im Hyde Park auftritt.
Auch beim Tunnel unter dem érmelkanal ist das Ankommen auf der anderen Seite nicht das eigentlich Interessante. Philipp de Rothschild war gegen den Tunnel und entwarf eine Brücke. Er sagte, die Brücke braucht mindestens eine Stütze, so gibt es eine Insel. Aber es ist töricht eine Insel zu haben, die lediglich eine Brücke abstützt. Wir könnten meinen Wein verkaufen, ein Casino betreiben und das alles steuerfrei, weil es weder zu England noch zu Frankreich gehört. Die Insel wuchs und wuchs und schließlich kamen wir beide auf die Idee, daß es gar nicht nötig ist, die beiden Brückenhälften miteinander zu verbinden, so daß es lediglich jeweils eine Brücke von England und eine von Frankreich zur Insel gibt. Das Ganze war mehr als ein Spaß. Wir stellten uns die Frage, wie viel müssen wir mit anderen Menschen zusammentreffen. Wir wissen z.B., daß wir dem Mann, der unserem Supermarkt mit Lebensmittel beliefert, nicht treffen müssen. Ich werde die Frage jetzt nicht beantworten, aber es sind genau diese Fragen, die für die Gestaltung von Gebäuden wesentlich sind.

Wenn Sie meinen, daß es eine Aufgabe des Architekten ist, allen Menschen gleichermaßen eine große Breite von Wahlmöglichkeiten zu eröffnen, dann ist das Problem der Peripherie, daß man ein Auto braucht und daß es Menschen gibt, die kein Auto fahren können - Alte und Kinder. In dieser Weise ist die Peripherie selektiv, sie schränkt die Freiheiten bestimmter Bevölkerungsgruppen ein.
Das ist nicht notwendiger Weise so. Sie können sich nur nicht vorstellen, was eine Peripherie sein kann. Alle Arten von Kommunikation und Austausch sind möglich, man braucht nicht unbedingt ein Auto. Ich stelle mir nicht einen motorisierten Suburb vor.

Es ist sehr wichtig, daß es eine Wahl zwischen unterschiedlichen Transport- und Kommunikationsarten gibt.
Vor 25 Jahren gab es noch recht wenige Autos und gleichwohl hatten wir sie in unserem Entwurf für Potteries Thinkbelt einbezogen. Wir hatten dort Eisenbahnen, Straßen, Telefonanlagen, Fußgängerwege und sogar ein Kanalsystem vorgesehen. Ihr Einwand ist richtig, aber ein Architekt muß sich nicht auf ein Mittel der Kommunikation und des Austausch beschränken. Das Problem ist, daß die Architekten die Frage der Bewegung bisher ignorieren, ob nun die Bewegung von Ideen, Energie, Kräften, Materialien oder was auch immer. Das ist der blinde Fleck.
Doch ist es kein Argument gegen die Peripherie und witziger Weise auch nicht gegen das überfüllte Zentrum einer mittelalterlichen Stadt, denn die Leute akzeptieren die Langsamkeit dessen, was sie für wesentlich halten. Niemand beschwert sich in London darüber, daß die Taxis langsam sind, weil es Telefonverbindungen und Glasfaserkabel gibt. Die Leute gehen zu Fuß, wenn sie pünktlich sein wollen. Und wenn es schnell gehen muß, dann ruft man an oder schickt ein Fax.

Der große Vorteil der Peripherie gegenüber den alten Stadtzentren ist, daß sie sich verändern können.
Um zu existieren muß die Peripherie wachsen, schrumpfen und sich kontinuierlich in Größe und Gestalt verändern. Das beste Beispiel für diesen kontinuierlichen Wandlungsprozeß, das ich geben kann, ist eine Kunstinstallation. Vor einigen Jahren durchleuchteten Künstler einen zwischen zwei Glasscheiben eingeschlossenen ôlfilm mit polarisiertem Licht. Die im ôlfilm verteilten Kristalle begannen sich mit der Erwärmung an verschiedenen Stellen zu konzentrieren, wuchsen zu Monstern und dann splitterten sie sich auf und das Innere drehte sich nach außen. Die heißen Ränder wurden kalt und eine kurze Zeit lang geschah nichts, bis sich die Kristalle wieder aufeinander zubewegten. Das ist ein gutes Bild für den Wandlungsprozeß von Städten. Der Wachstumsprozeß schlägt um, wenn die Konzentration zu groß ist. Plötzlich findet man erfrischende Leerräume im Stadtzentrum und die eigentliche Konzentration ist dort, wo zuvor die Besiedlung am dünnsten war.
Das ist keinesweg etwas Neues. Zur Zeit der großen Pest starben in England binnen 30 Jahre ein Drittel der Bevölkerung und ebenso starben hunderte von Städten und Dörfern, die jetzt verschwunden sind.

Ein anderes Beispiel ist New York, wo die South Bronx immer dichter besiedelt wurde, verslumte und man die Gebäude schließlich abriß. Inzwischen sind dort Einfamilienhäuser gebaut worden, es ist eine innerstädtische Peripherie entstanden. In Ihren Projekte für Glasgow, Hamburg und Straßburg-Kehl haben Sie innerstädtische Brachen und Agrarflächen vorgeschlagen, um eine zu große Konzentration und Verdichtung zu vermeiden.
Das ist so, wie wenn man früher die Leute mit Blutegeln zur Ader ließ, wenn der Blutdruck zu hoch war. Doch veringert man den Druck nicht, wenn man lediglich ein Stück Land abräumt, umzäunt und sagt, eines Tages wird man ein Opernhaus bauen.

Man findet heute vorstädtische Brachen in der Innenstadt und innerstädtische Verdichtungen in der Peripherie. Man findet die verschiedensten Gebäudetypen gleichermaßen im Zentrum wie in der Peripherie - ob Einfamilienhäuser, Wohnhochhäuser oder Reihenhäuser, ob Einzelhandel oder Supermarkt. öberall gibt es die gleiche Bandbreite von Möglichkeiten.
Das ist wahr, außer daß man an den Rand kommen muß, um die Wahl zwischen Etwas und Nichts zu haben. Und das ist die Ursache für die Peripherie. öberall in der Stadt gibt es Gesundheitsfürsorge, Polizei, Ausbildungsstätten usw., aber irgendwo ist der Rand und dahinter ist nichts mehr.
Es gibt eine sehr gute Zigeunerkultur in Europa, obgleich sie immer ignoriert wurde. Die Lebensweise der Zigeuner ist ein Schlüssel zu dem, was Peripherie ist. Irgendwann sagt ein Zigeuner plötzlich: 'Das ist alles in Ordnung, ich kenn all die Möglichkeiten hier. Aber da jenseits des Zauns ist nichts und dieses Nichts, das gefällt mir. Dort gehe ich hin.' Oder stellen sie sich einen Mann mit einer halben Millionen Dollar Jahreseinkommen vor, der mit einem Fuß aus allem heraustreten möchte. Es geht um diese andere Wahl, um die Möglichkeit, mit einem Fuß aus allem herauszutreten.

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Philipp Oswalt im Gespräch mit Cedric Price

erschienen in : Arch+ 109 / 110 | Aachen | 1991
Quelle : http://www.oswalt.de/de/text/interviews/o_price_p.html