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Arch+:
Eines der wichtigsten Ziele heutiger Stadtplanung ist es in Abgrenzung
vom Städtebau der klassischen Moderne, eine möglichst große
Durchmischung unterschiedlicher Aktivitäten zu erreichen. Dabei
denken die Planer und Architekten vor allem an die historischen Städte.
Doch wenn man die heutigen Städte betrachtet, so entdeckt man in
den Peripherien der städtischen Regionen eine neue Art der Nutzungsmischung,
die nicht mehr auf einer kleinteiligen Parzellierung hochverdichteter
Innenstädte beruht, sondern durch eine großflächige
Erschließung ganzer Regionen hergestellt wird.
Cedric
Price: Die Suburbs sind eher in der Lage auf neue menschliche Wünsche
zu reagieren und sich diesen anzupassen. Die Innenstädte werden
zweifellos als Disneylands enden, wenn Sie es nicht bereits schon sind.
Und zwar nicht für die Touristen aus dem Ausland, sondern für
die Leute in den Vorstädten, die nicht im Zentrum von London leben
wollen, aber das Zentrum sehen möchten.
Unglücklicherweise beruhen auch die Gebäudetypologien in den
Vorstädten und Peripherien auf der selben Nutzungstrennung wie
die alten Gebäude in den Innenstädten. Auch wenn viele Leute
denken, daß ein großes Einkaufszentrum am Stadtrand etwas
völlig anderes sei als ein Laden in einem Dorf oder einer Stadt,
muß man in beiden Fällen hineingehen um einzukaufen und beim
Herausgehen seine Ware mitnehmen. Genauso altmodisch sind auch die vorstädtischen
Schulen und Büchereien.
Andererseits gibt es bereits neue Gebäudetypen, aber wir nehmen
Sie nicht wahr. Die Art wie Leute ihre Wohnung benützen gibt einen
ersten Hinweis: War bislang die elektronische Ausstattung hauptsächlich
in der Küche, so finden wir sie heute vor allem in den Schlafzimmern.
Diese werden oft wie ein Arbeitsplatz oder eine Bibliothek genutzt,
aber die Architektur zeigt eine solche Nutzungsänderung nicht so
schnell.
Sie meinen
also, daß durch die Verlagerung von Aktivitäten aus dem öffentlichen
Raum in die Wohnung dort eine Mischung verschiedener Funktionen entstanden
ist?
Ja, in
vielen Fällen. Das legt natürlich nahe, daß Architektur
vielleicht noch anonymer sein soll, daß Architektur noch mehr
in der Lage sein soll, sich dem Verlangen der Nutzer anzupassen. Das
findet man bei alten Gebäuden. In London werden alte Lagerhäuser
für eine Vielzahl von Dingen genutzt. Das weist darauf hin, daß
für die Leute Architektur vielleicht nicht mehr das naheliegendste
Mittel ist, um ihre Vorstellungen umzusetzen. Es sind heute eher andere
Dinge wie das elektronische Gerät, mit dem wir das Interview aufzeichnen.
Man kann es einfach auf einen Tisch in einem hundert Jahre alten Haus
stellen und es arbeitet perfekt, während man früher für
den privaten Genuß von Musik einen großen Klavierflügel
brauchte, der eine große architektonische Aufmerksamkeit erforderte.
Gibt
es nicht einen großen Unterschied zwischen früheren und heutigen
Formen von Nutzungsmischungen? Im Mittelalter lebte und arbeitete ein
Handwerker in ein und dem selben Haus. Das war eine aus dem Lebenszusammenhang
sich ergebende Verbindung unterschiedlicher Aktivitäten. Heute
sind die einzelnen Aktivitäten voneinander getrennt und folgen
jeweils ihrer eigenen Logik. Das Leben eines jeden Menschen ist eine
individuelle Collage autonomer Elemente, ausgewählt aus einer breiten
Palette von Möglichkeiten.
Ihre
Vorstellung von der heutigen Lebensweise ist antiquiert. Tatsächlich
beschreiben Sie das Leben zu Ende des 19.Jh. und Beginn des 20.Jh..
Mit dem Beginn der Urbanisierung, den ersten Eisenbahnen und Bibliotheken,
dem Beginn des öffentlichen Gesundheits- und Schulwesens zu Ende
des 19.Jh. fragmentierten sich die Tätigkeiten und Nutzungen. Bücher
waren leichter verfügbar, wenn sie zentral aufbewahrt wurden. Markthallen
wurden in mitten der Städte gebaut, also nicht dort, wo die Nahrungsmittel
erzeugt, sondern wo sie verzehrt wurden.
Diese Fragmentierung von Nutzungen in einzelne Gebäude hat sich
bereits in gewisser Weise umgedreht. Wenn man z.B. in Betracht zieht,
was alles in einem Auto unabhängig von der Fortbewegung geschieht
-Träume, Musik, Familientreffen, Geschäftsgespräche usw.-,
dann halte ich das Auto für eines der menschlichsten Gehäuse.
Heutzutage kommt die Familie nur im Auto zusammen und spricht miteinander,
während zu Hause die Familienmitglieder sich in ihre Schlafzimmer
zurückziehen, verschiedene Fernsehprogramme anschauen und auch
nicht miteinander essen.
Wenn
Ihrer Meinung nach die Architektur anonym sein soll, um sich dem Wandel
der Nutzungen anpassen zu können, dann ist die Mischung unterschiedlicher
Aktivitäten etwas, was nicht geplant werden kann, sondern was sich
mit der Zeit von selbst entwickelt.
Ja, wobei
architektonische Entscheidungen nach wie vor wichtig sein können.
Kommen wir nochmal auf das Beispiel der Neuorganisation des Wohnens
zurück. Heutige Bungalows und Einfamilienhäuser könnten
wesentlich verbessert werden, wenn sie statt einer Haustür drei
oder vier Haustüren hätten. Dann hätte jeder seine eigene
Eingangstür, man würde das Haus durch sein eigenes Zimmer
betreten. Nur wenn man wollte, ginge man weiter in die Küche oder
das Eßzimmer, um den Rest der Famile zu sehen.
Im Bereich
der Stadtplanung haben Sie und Reyner Banham mit dem Projekt 'Non-Plan'
Ende der 60er Jahre die Idee der Selbstorganisation eingeführt.
Wir schlugen
vor, eine Reihe von staatlichen Regelungen abzuschaffen. Der Staat und
die Planer meinen zu wissen, was gut für die Gesellschaft ist und
sie versuchen alles gleich zu machen. Wir wollten die Ungleichheit verstärken.
Die Stadtregion wird fragmentarisch, der Begriff 'unterschiedlich' wird
die Begriffe 'gut' und 'schlecht' ersetzen. Non-Plan erlaubt kontinuierlichen
Wandel und ständige Weiterentwicklung. Durch die Abschaffung jeglicher
Bodennutzungsbeschränkungen werden Tätigkeiten und Lebensweisen
am jeweils geeignesten Ort zur günstigsten Zeit ermöglicht.
Gegensätzliche Funktionen werden miteinander konfrontiert und örtlich,
organisatorisch wie ökonomisch durchmischt. Hybride Aktivitäten
und Flächennutzungen sind die Folge.
Als Gebiet für dieses Experiment in Nichtplanung wählten wir
unter anderem ein Gebiet in East Midland aus, dessen gute Erschließung
ein gleichmäßiges Wachstum entlang der Straßen erlaubte.
Die Gebiete zwischen den bestehenden Dörfern und Städten würden
zuwachsen und vielleicht in Zukunft zu den neuen Zentren werden. Die
Stadtentwicklung wäre weniger geometrisch als es die Planer wollen,
doch würde sie den Anforderungen einer mobilen Gesellschaft Rechnung
tragen.
Wegen diesem Projekt wurde ich von meinen engsten Freunden der politischen
Linken beschuldigt, politisch rechts oder anarchistisch zu sein. Doch
ich bezweifle sehr den Sinn staatlicher Maßregelung und Subventionen.
Ich bin auch gegen Subventionierung von Kunst. Die Beatels wurden niemals
subventioniert, Hunderennen und Stierkämpfe werden meines Erachtens
nicht subventioniert, und auch wenn ich es selber nicht mag, es gibt
Leute, die das gerne haben.
Die Unfähigkeit
des Staates, neue Entwicklungen zu erkennen, ist ein sehr interessantes
Phänomen. Demgegenüber reagieren private Investoren sehr viel
aufmerksamer auf gesellschaftliche Veränderungen, weil sie ihre
Gebäude vermieten müssen. So ist der spekulative Wohnungsbau
des 19.Jh. immer noch brauchbar, da er flexibel ist. Er ist ein gutes
Beispiel für eine im guten Sinne anonyme Architektur. Hingegen
sind die Sozialbauwohnungen in den Vorstädten der 60er Jahre oft
so unbrauchbar, daß sie schon jetzt abgerissen werden müssen.
Der Staat
dachte, er weiß was gut für die Gesellschaft ist. Aber es
war sehr schnell veraltet.
Ist die
Durchmischung unterschiedlicher Aktivitäten nicht auch eine Frage
der Zeit? Die Nutzungsvielfalt in alten Stadtzentren und in den Suburbs
ist mit der Zeit entstanden und hat sich kontinuierlich verändert.
Selbstorganisation braucht Zeit und die Möglichkeit zu Nutzungsveränderung.
Das ist
völlig richtig. Und die Veränderung gebauter Strukturen und
noch mehr die Veränderung ihrer visuellen Erscheinung beschleunigt
sich immer mehr. Man kann Geschichte nur dort spüren, wo der Kontrast
zwischen Alt und Neu zu sehen ist. Wenn keine Veränderung gezeigt
wird, wenn man ein Schloß so konserviert wie es gebaut wurde,
wird die Geschichte getötet.
Die verschiedenen Elemente haben unterschiedliche Zeitmaßstäbe.
In den Stadtzentren beruht die kurze Lebensdauer der Bauten auf ihrem
ökonomischen Wert. In ehemals attraktiven Londoner Stadtvierteln
sind inzwischen zahlreiche Verkaufschilder für die Immobilien zu
sehen. Die Leute ziehen aus. Ich habe auch enorme Veränderungen
in dem hiesigen Stadtteil beobachtet. Die Fenster sind die gleichen
geblieben, doch was früher Kneipen, Gemüseläden, chemische
Reinigungen waren sind heute Reiseagenturen für Studenten, Versicherungsbüros
und Schnelldruckereien.
Im Gegensatz
zu den Gebäuden hat die Infrastruktur eine eher lange Lebensdauer.
Ja, das
gilt sogar für die vermeintlich unsichtbare Infrastruktur. Zwar
sind Radiowellen eigentlich flexibel, aber wir können die Sendemäste
nicht verschieben. Und da die Radiowellen sich in geraden Linien ausbreiten,
dürfen keine Gebäude im Wege stehen, so daß z.B. der
Londoner Fernmeldeturm ganze Avenuen unentwickelten Raums quer über
das Land festgelegt hat. Es gibt also große Korridore ähnlich
den Luftverkehrsstraßen, die durch die unsichtbare Kommunikation
verursacht sind, die noch immer statisch ist.
Und das andere wesentliche Element in London ist unterirdisch. Noch
tiefer als die U-Bahn-Tunnels liegt eine neue Wasserleitung. Ihre Fertigstellung
Ende nächsten Jahres wird große Auswirkungen haben auf die
bunten Auswüchse, die wir Gebäude nennen, diese kleinen aus
dem Boden herausragenden Teile. Die Leute meinen, sie sind eine Frage
des umgebenden Stadtteils und seiner Architektur, jedoch ist es lediglich
das billige Leitungswasser, das das ganze Netzwerk am Leben hält.
Architekten müssen darüber nachdenken, aber sie vergessen
zumeist die dritte Dimension, das, was über und unter der Erde
ist. Die Erde ist nicht flach, es gibt Kohlenkeller, Wasserleitungen,
Verkehrstunnel, Radiowellen, Hochspannungsleitungen und Ausblicke.
Das Denken
in Zeitmaßstäben heißt auch, daß man sich die
Stadt nicht mehr als etwas endgültiges vorstellt. Im Barock und
ebenso in der Moderne wie z.B. bei Le Corbusier stellte man sich einen
idealen Zustand vor, den eine Stadt irgendwann erreichen sollte. Sie
hingegen arbeiten bei Ihren Projekten mit Phasenplänen, mit denen
Sie versuchen, ein mögliches Szenario der zukünftigen Stadtentwicklung
zu beschreiben.
Es gibt
niemals einen Endpunkt und das ist die Schwierigkeit. Ich bekam einmal
die unmögliche Aufgabe gestellt, die Stadt der Zukunft zu entwerfen.
Das einzige, was ich entwickeln konnte, war eine Reihe von fragmentarischen
Ideen und widersprüchlichen Trends, aber keine Gebäude. Doch
nicht nur Architekten, auch Politiker und Verwaltungsbeamte -ob in Demokratien
oder Diktaturen- denken, daß es in der Architektur große
Pläne geben muß, die eines Tages realisiert werden. Sie wollen
einen Plan, ein System, eine Methode, die jederzeit angewendet werden
kann.
Architekten sollten darüber nachdenken, ob Gebäude überhaupt
notwendig sind und für wie lange. Und wenn sie irgendeinen Zweifel
an der Dauerhaftigkeit des funktionellen Vergnügens an einem Gebäude
haben, dann sollten sie als wirklich intelligente Gestalter sicherstellen,
daß das Gebäude nicht zu lange erhalten bleibt. Und sie sollten
etwas Raum auf dem Grundstück frei lassen, daß jemand noch
etwas anderes dort machen kann.
Nutzungsmischung
ist ein nahes Nebeneinander widersprüchlicher Aktivitäten.
Doch heute ist für die Nähe nicht mehr die räumliche
Entfernung, sondern die zeitliche Distanz entscheidend. In den Perpherien
hat die Geschwindigkeit der Fortbewegung die städtische Dichte
ersetzt.
Nähe
ist eine Frage von Zeit, Geschwindigkeit und Austausch.
Und unterschiedliche
Geschwindigkeiten und Arten der Fortbewegung haben unterschiedliche
Nutzungsmischungen zur Folge.
Besonders
interessant sind die Orte der Geschwindigkeitswechsel, weil diese extreme
Verhältnisse verursachen. Ein Flugzeug bewegt sich mit 900 km/h
und wenn es auf einem Flughafen gelandet ist, kommen Menschen heraus,
die sich mit 5 km/h fortbewegen. Diese extremen Umstände erfordern
eine spezielle Umgebung und zum größten Teil gebaute Maßnahmen
wie Landebahnen und Taxistände.
Bei Ihrem
Projekt Potteries Thinkbelt haben Sie drei solcher Umsteigestationen
entworfen. Im Wesentlichen beruht der Entwurf auf einem regionalen Verkehrsnetz,
daß mit diesen drei Stationen an die überregionale Infrastruktur
angebunden ist.
Jede
dieser Stationen war eine Verbindung zwischen dem eher absonderlichen
regionalen Verkehrsnetz und einem jeweils anderen nationalen oder internationalen
Verkehrsmittel - Straße, Schiene oder Luft. Jeweils nur eins dieser
Verkehrsmittel, weil ich fand, daß dies genug Konzentration an
einem Ort ist. Das regionale Verkehrsnetz basierte vorallem auf Eisenbahnlinien,
die zugleich Bibliotheken sein sollten, sodaß man während
dem Fahren lernen und sich informieren konnte.
An den drei Umsteigepunkte sollten lustige Dinge geschehen. Zu der Funktion
des Geschwindigkeitswechsel kamen andere Aktivitäten hinzu. Bei
der Eisenbahnstation waren es Schwermaschinenbau und langfristige Forschungsvorhaben.
Direkt am Bahnhof konnten Laborversuche an schweren Güter vorgenommen
werden. Die Autostation war vorallem eine Massierung von Menschen und
so gab es dort mehrere Hotels. Und der Flughafen diente der Hochtechnologie.
Er war der Ort für die Dinge und Menschen, die man nicht lange
dabehalten konnte - irgendwelche Spezialisten und besonders wertvolle
Untersuchungsgegenstände. Vor dem Weiterflug konnten sie im Flughafengebäude
getestet werden und für genauere Untersuchungen standen Labors
auf Eisenbahnwaggons zur Verfügung.
Diese
Verkehrsknoten geben der verstreut besiedelten Region Struktur und Gestalt.
Sie ziehen
Interessengruppen an. Und mit dem polyzentrischen Verkehrsnetz lagen
plötzlich die Sozialbauwohnungen am Stadtrand verkehrsgünstiger
als die Innenstädte. Die geplante Universität wurde auf mehrere
Standorte verteilt und war dadurch mit den anderen Lebensbereichen wie
Wohnen und Arbeiten aufs engste verknüpft. Mit Absicht ließen
wir Freiräume als Reserve für zukünftige Entwicklungen.
Auch bei meinem Projekt für Straßburg-Kehl sind die Bewegungsstrukturen
die eigentlichen Formgeber. Sie bilden Entwicklungskorridore. Die verschiedenen
Verkehrserschließungen sind der Schlüssel für die zukünftige
Nutzbarkeit und die zukünftigen Möglichkeiten. Die Synenergie
von Bewegung und Standort ersetzt Grenzen und Territorien.
Wenn
ein Planer oder Architekt eine Mischung von Nutzungen erreichen will,
sollte er nicht konkrete Aktivitäten planen, sondern eher verscheidene
Orte miteinander verbinden, Infrastrukturen für Autos, Eisenbahnen,
...
... und
Ideen entwerfen. Man muß das betonen, weil es immer noch ignoriert
wird. Die Aufgabe von Architekten ist es zur Zeit, die Ungleichheit
auszubalancieren, weil andere darüber nicht nachdenken.
Um die
Ungleichheit einzuebnen oder zu verstärken?
Um die
Wahlmöglichkeiten zu vergrößern, was weder das eine
noch das andere ist. Es geht darum, allen gleichermaßen eine große
Wahlfreiheit anzubieten, um es damit den Individuen zu ermöglichen,
unterschiedlich zu leben. Es ist nichts Böses dabei, in einem Schloß
zu wohnen, doch sollte es nicht nur reichen Leuten vorbehalten sein.
Man soll nicht alles gleichmachen, sondern das Alphabet der Wahlmöglichkeiten
erweitern.
Architekten sollten großzügig sein, sich nicht als Problemlöser
oder Notärzte verstehen. Denn wenn man ein Problem benennen kann,
dann gibt es bereits seit einiger Zeit ein Leiden. Architektur ist zu
langsam, um Probleme zu lösen. All das Geschwätz über
Computer, die Architekten helfen Probleme zu lösen, ist Quatsch.
Andere Dinge wie eine Menge mehr Geld, die Verwandlung von Raketen in
Gummibärchen, Drogen oder was auch immer können Probleme lösen.
Aber da die Herstellung von Architektur langsam vor sich geht, müssen
Architekten sehr großzügig sein und sollten vorausdenken.
Architekten sollten Formen gesellschaftlichen Wohlergehens erfinden,
die man bisher für unmöglich gehalten hat. Sie haben kein
Recht, den Leuten vorzuschreiben, wie sie zu leben haben, sondern die
Pflicht ihnen zu sagen, daß sie dies oder jenes noch nicht ausprobiert
haben und daß sie es ihnen möglich machen können.
Architekten sollten nicht nur reagieren. Sie sollten neue Peripherien
entdecken. Eine der faszinierensten Peripherien in England ist für
mich das Watt, dieses Stück Land zwischen Ebbe und Flut rings um
die Küste. Es ist eine ständig sich verändernde Grenze
und je nach der Zeit kann die Gezeitenzone entweder vom Land oder vom
Wasser aus betreten und unterscheidlich genutzt werden.
Die Küstenlinie
ist überhaupt ein spannendes Beispiel. Ihre Linie ist so aufgefächert,
daß eine relativ kleine Fläche von einer sehr langen Umrißlinie
umschlossen wird, ein typisches Charakteristikum einer fraktalen Geometrie.
Solche Formen findet man auch in den städtischen Peripherien wieder,
denn es scheint außerordentlich begehrenswert zu sein, auf der
Grenze zwischen zwei verschiedenen Gebieten zu leben. Die Leute wollen
sowohl in der Stadt als auf dem Land sein.
Formen
für solche Gegenüberstellung und Verbindung widersprüchlicher
Lebensweisen können auch mit Hilfe zeitlicher Organisation gefunden
werden, wenn man bedenkt, daß Gebäude nicht etwas Dauerhaftes
sein müssen. In Indien z.B. gab es Tempel, die von einem heiligen
Mann auf einem Karren durch die Dörfer gezogen wurden. Die Dorfbewohner
wußten, daß an einem bestimmten Tag der Tempel da ist und
sie dann die Möglichkeit haben, mit ihren Göttern zu sprechen.
Das war bevor sie sich es leisten konnten, in jedem Dorf ein Tempel
zu bauen. Ebenso kann man sich vorstellen, daß man einen alten
Kahn zu einem Einkaufszentrum umbaut, der sich mit Ebbe und Flut auf-
und abwärts bewegt. Er hätte keinen festen Standort, aber
wir wüßten, um 9 Uhr morgens am Donnerstag ist es da, ein
Einkausfzentrum, eine Oper oder was auch immer. Für uns ist es
egal, wie schwierig es für den Sänger Pavarotti ist nach London
zu kommen. Hauptsache ist, daß er bei seiner Tournee im Hyde Park
auftritt.
Auch beim Tunnel unter dem érmelkanal ist das Ankommen auf der
anderen Seite nicht das eigentlich Interessante. Philipp de Rothschild
war gegen den Tunnel und entwarf eine Brücke. Er sagte, die Brücke
braucht mindestens eine Stütze, so gibt es eine Insel. Aber es
ist töricht eine Insel zu haben, die lediglich eine Brücke
abstützt. Wir könnten meinen Wein verkaufen, ein Casino betreiben
und das alles steuerfrei, weil es weder zu England noch zu Frankreich
gehört. Die Insel wuchs und wuchs und schließlich kamen wir
beide auf die Idee, daß es gar nicht nötig ist, die beiden
Brückenhälften miteinander zu verbinden, so daß es lediglich
jeweils eine Brücke von England und eine von Frankreich zur Insel
gibt. Das Ganze war mehr als ein Spaß. Wir stellten uns die Frage,
wie viel müssen wir mit anderen Menschen zusammentreffen. Wir wissen
z.B., daß wir dem Mann, der unserem Supermarkt mit Lebensmittel
beliefert, nicht treffen müssen. Ich werde die Frage jetzt nicht
beantworten, aber es sind genau diese Fragen, die für die Gestaltung
von Gebäuden wesentlich sind.
Wenn
Sie meinen, daß es eine Aufgabe des Architekten ist, allen Menschen
gleichermaßen eine große Breite von Wahlmöglichkeiten
zu eröffnen, dann ist das Problem der Peripherie, daß man
ein Auto braucht und daß es Menschen gibt, die kein Auto fahren
können - Alte und Kinder. In dieser Weise ist die Peripherie selektiv,
sie schränkt die Freiheiten bestimmter Bevölkerungsgruppen
ein.
Das ist
nicht notwendiger Weise so. Sie können sich nur nicht vorstellen,
was eine Peripherie sein kann. Alle Arten von Kommunikation und Austausch
sind möglich, man braucht nicht unbedingt ein Auto. Ich stelle
mir nicht einen motorisierten Suburb vor.
Es ist
sehr wichtig, daß es eine Wahl zwischen unterschiedlichen Transport-
und Kommunikationsarten gibt.
Vor 25
Jahren gab es noch recht wenige Autos und gleichwohl hatten wir sie
in unserem Entwurf für Potteries Thinkbelt einbezogen. Wir hatten
dort Eisenbahnen, Straßen, Telefonanlagen, Fußgängerwege
und sogar ein Kanalsystem vorgesehen. Ihr Einwand ist richtig, aber
ein Architekt muß sich nicht auf ein Mittel der Kommunikation
und des Austausch beschränken. Das Problem ist, daß die Architekten
die Frage der Bewegung bisher ignorieren, ob nun die Bewegung von Ideen,
Energie, Kräften, Materialien oder was auch immer. Das ist der
blinde Fleck.
Doch ist es kein Argument gegen die Peripherie und witziger Weise auch
nicht gegen das überfüllte Zentrum einer mittelalterlichen
Stadt, denn die Leute akzeptieren die Langsamkeit dessen, was sie für
wesentlich halten. Niemand beschwert sich in London darüber, daß
die Taxis langsam sind, weil es Telefonverbindungen und Glasfaserkabel
gibt. Die Leute gehen zu Fuß, wenn sie pünktlich sein wollen.
Und wenn es schnell gehen muß, dann ruft man an oder schickt ein
Fax.
Der große
Vorteil der Peripherie gegenüber den alten Stadtzentren ist, daß
sie sich verändern können.
Um zu
existieren muß die Peripherie wachsen, schrumpfen und sich kontinuierlich
in Größe und Gestalt verändern. Das beste Beispiel für
diesen kontinuierlichen Wandlungsprozeß, das ich geben kann, ist
eine Kunstinstallation. Vor einigen Jahren durchleuchteten Künstler
einen zwischen zwei Glasscheiben eingeschlossenen ôlfilm mit polarisiertem
Licht. Die im ôlfilm verteilten Kristalle begannen sich mit der
Erwärmung an verschiedenen Stellen zu konzentrieren, wuchsen zu
Monstern und dann splitterten sie sich auf und das Innere drehte sich
nach außen. Die heißen Ränder wurden kalt und eine
kurze Zeit lang geschah nichts, bis sich die Kristalle wieder aufeinander
zubewegten. Das ist ein gutes Bild für den Wandlungsprozeß
von Städten. Der Wachstumsprozeß schlägt um, wenn die
Konzentration zu groß ist. Plötzlich findet man erfrischende
Leerräume im Stadtzentrum und die eigentliche Konzentration ist
dort, wo zuvor die Besiedlung am dünnsten war.
Das ist keinesweg etwas Neues. Zur Zeit der großen Pest starben
in England binnen 30 Jahre ein Drittel der Bevölkerung und ebenso
starben hunderte von Städten und Dörfern, die jetzt verschwunden
sind.
Ein anderes
Beispiel ist New York, wo die South Bronx immer dichter besiedelt wurde,
verslumte und man die Gebäude schließlich abriß. Inzwischen
sind dort Einfamilienhäuser gebaut worden, es ist eine innerstädtische
Peripherie entstanden. In Ihren Projekte für Glasgow, Hamburg und
Straßburg-Kehl haben Sie innerstädtische Brachen und Agrarflächen
vorgeschlagen, um eine zu große Konzentration und Verdichtung
zu vermeiden.
Das ist
so, wie wenn man früher die Leute mit Blutegeln zur Ader ließ,
wenn der Blutdruck zu hoch war. Doch veringert man den Druck nicht,
wenn man lediglich ein Stück Land abräumt, umzäunt und
sagt, eines Tages wird man ein Opernhaus bauen.
Man findet
heute vorstädtische Brachen in der Innenstadt und innerstädtische
Verdichtungen in der Peripherie. Man findet die verschiedensten Gebäudetypen
gleichermaßen im Zentrum wie in der Peripherie - ob Einfamilienhäuser,
Wohnhochhäuser oder Reihenhäuser, ob Einzelhandel oder Supermarkt.
öberall gibt es die gleiche Bandbreite von Möglichkeiten.
Das ist
wahr, außer daß man an den Rand kommen muß, um die
Wahl zwischen Etwas und Nichts zu haben. Und das ist die Ursache für
die Peripherie. öberall in der Stadt gibt es Gesundheitsfürsorge,
Polizei, Ausbildungsstätten usw., aber irgendwo ist der Rand und
dahinter ist nichts mehr.
Es gibt eine sehr gute Zigeunerkultur in Europa, obgleich sie immer
ignoriert wurde. Die Lebensweise der Zigeuner ist ein Schlüssel
zu dem, was Peripherie ist. Irgendwann sagt ein Zigeuner plötzlich:
'Das ist alles in Ordnung, ich kenn all die Möglichkeiten hier.
Aber da jenseits des Zauns ist nichts und dieses Nichts, das gefällt
mir. Dort gehe ich hin.' Oder stellen sie sich einen Mann mit einer
halben Millionen Dollar Jahreseinkommen vor, der mit einem Fuß
aus allem heraustreten möchte. Es geht um diese andere Wahl, um
die Möglichkeit, mit einem Fuß aus allem herauszutreten.
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