Adelbert Reif in Gespräch mit Philipp Oswalt | 2001
 
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   Konservative Revolution und Hyperkapitalismus

'Berlin - Stadt ohne Form' lautet der Titel eines kürzlich im Prestel Verlag, München, erschienenen Buches des Architekten und Planers Philipp Oswalt. Vehement wendet sich der Autor darin gegen die aktuelle Berliner Stadtplanungspolitik, wie sie sich insbesondere am 'Planwerk Innenstadt' manifestiert. Im folgenden Gespräch erläutert Philipp Oswalt seine sowohl historisch wie auch ökonomisch begründete Kritik und zeigt für die alte neue deutsche Hauptstadt 'Strategien einer anderen Architektur' auf.

Herr Oswalt, der Architekturhistoriker Leonardo Benevolo fand in seiner berühmten 'Geschichte der Stadt' Berlin nicht einmal der Erwähnung wert. Worin unterscheidet sich Berlin von anderen Weltstädten Europas?

Oswalt: Berlin befand sich lange Zeit am Rande der kulturellen und politischen Entwicklung Zentraleuropas. Schon der Architekt Karl Scheffler hob 1910 in seinem Buch 'Berlin - ein Städteschicksal' die periphere Lage Berlins hervor.

Bis 1870 war die Stadt relativ klein. Sie war im Barock die Hauptstadt Preußens geworden. Aber anders als Metropolen wie London, Paris, Rom oder Barcelona verfügte sie über keine lange Tradition und war auch in die wesentlichen politischen Entwicklungen des Deutschen Reiches und des übrigen Europas nicht eingebunden.

Mit der Industrialisierung um 1850 setzte allerdings ein enormer Entwicklungsschub ein. Die Stadt explodierte in ähnlicher Weise, wie wir das heute bei den chinesischen Städten erleben. Innerhalb weniger Jahrzehnte verfünffachte sich die Stadt. Insofern ist Berlin eine Stadt der Moderne, nicht im Sinne eines architektonischen Stils, sondern im Sinne einer Epoche, die die Stadt prägte, ihr europäische und internationale Bedeutung verlieh und die Grundlage für das Berlin legte, wie wir es heute kennen.

Wie spiegelt sich diese Entwicklung im architektonischen Stadtbild?

Oswalt: Aufgrund der Tatsache, dass Berlin kein großes Bürgertum besaß und nur eine schwache kulturelle Tradition aufwies - was es an preußischer Kultur gab, wurde von diesem extrem schnellen Boom überrollt -, war die Stadt sehr offen für das Neue. Sie absorbierte auch viele Einflüsse. Bezeichnenderweise hieß es, der typische Berliner sei der Zugereiste. Das heißt, die Stadt wuchs nicht aus sich heraus, sondern durch die Menschen, die nach Berlin kamen, seien es die Hugenotten zur Zeit Friedrichs des Großen oder die Ostjuden, Pommer und Schlesier zur Zeit der Industrialisierung, die in Berlin eine Chance suchten, sich wirtschaftlich zu entwickeln. Dieser ständige Zuzug gab der Stadt etwas Unfertiges. Sie befand sich immer im Aufbruch und das schlug sich auch in der städtebaulichen Entwicklung nieder.

Anders als viele Metropolen ist Berlin weder von einem Idealplan noch von einem organischen Anwachsen geprägt. In Barcelona zum Beispiel gab es die Planung eines Rasters, der bis heute den zentralen Bereich der Stadt prägt. Der historische Kern von Amsterdam hingegen ist exemplarisch für ein konzentrisches, organisches Wachstum. Aber selbst Städte wie Paris oder London, die ebenfalls eine komplexe Geschichte durchlebten, weisen doch eine kontinuierliche Entwicklung auf. Im Fall von Paris wurde durch einen entscheidenden Eingriff von Haussmann dann das Gewachsene noch einmal strukturiert. Zwar gab es auch in Berlin immer wieder solche Versuche, die Stadt neu zu strukturieren. Doch blieben diese bereits in ihren Ansätzen stecken.

Worin sehen Sie die Ursache für dieses Scheitern?

Oswalt: Vielfach an der utopischen Radikalität der Pläne, vorallem aber am schnellen Wechsel der Ideologien und gesellschaftlichen Verhältnisse. Bevor sich eine Konzeption entfalten konnte, wurde sie von einer neuen abgelößt. Der schnellen Folgen von Plänen und Eingriffen gelang es nie, einen konsistenten Stadtkörper zu entwickeln. So entstand über die Zeit ein seltsames Konglomerat verschiedener Fragmente.

Es gibt das mittelalterliche Berlin. Dann setzte sich das barocke Berlin daneben, ohne einen Bezug zu dieser mittelalterlichen Stadt aufzubauen. Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte der Landschaftsarchitekt Peter Joseph Lenné die infolge der Industrialisierung entstandene ungeplante und unbeabsichtigte Zersiedelung gestalterisch zu fassen, scheiterte jedoch. Nur Fragmente seiner Planung wurden umgesetzt. In einem sehr pragmatischen Ansatz erarbeitete in der Folge Baumeister James Hobrecht einen Bebauungsplan, indem er einfach neues Terrain erschloss. Eine neue Form verlieh er der Stadt damit nicht.

Auch im 20. Jahrhundert gab es wiederholt Anläufe, des Neue zu strukturieren, die aber nur partiell realisiert und dann aufgegeben wurden. Man muss bedenken, dass Berlin als Hauptstadt gerade in den letzten hundert Jahren extreme politische Turbulenzen durchmachte. Es erlebte den Niedergang von vier deutschen Staaten. So ist es in gewisser Weise auch die Hauptstadt der Ideologien, die sich jeweils in ihren städtebaulichen Konzepten niederschlugen. Mit jedem Ideologiewechsel setzte ein neuer Versuch ein. Nach der Speerschen Planung zur Zeit des Nationalsozialismus kam in den fünfziger Jahren die Autobahnplanung, gefolgt von der Planung der Großsiedlungen in den sechziger und siebziger Jahren.

Welchen Stellenwert nimmt Berlin im internationalen Diskurs von Stadtentwicklungen und architektonischen Konzepten heute ein?

Oswalt: In der internationalen Debatte fällt Berlin zur Zeit eine sehr seltsame Sonderrolle zu. Indem eben doch wieder der Versuch unternommen wurde, eine Art Masterplan zu entwerfen, bleiben viele aktuelle Entwicklungen außen vor. Das 'Planwerk Innenstadt' etwa ist bereits von seinem Verständnis her einem klassisch modernen Denken verpflichtet, einem Planungspositivismus mit der Vorstellung, urbane Entwicklungen total kontrollieren zu können. Ein solches Konzept mutet nach den Erfahrung mit Stadtplanung in den letzten hundert Jahren unglaublich naiv an. Das Planwerk geht davon aus, ein ideales Bild von Stadt zu kennen und versucht, das mit aller Macht umzusetzen. Entwicklungen neuer stadtplanerischer Strategien, wie sie zum Beispiel in Barcelona umgesetzt wurden, wo man die Planung für die Olympiade 1992 zum Anlass nahm, die bestehende Stadt mittels gezielter Interventionen weiterzuentwickeln, wurden nicht aufgegriffen.

Verleiht aber nicht gerade dieses Festhalten am Überkommenen der Stadt ihr charakteristisches Gepräge?

Oswalt: In der Tat stellt der Berlinische Konventionalismus eine markante eigenständige Entwicklung dar. Er beinhaltet durchaus konzeptionelle und intellektuelle Qualitäten. Und obwohl das Konzept in der internationalen Debatte auf manche eine Faszination des Grauens ausübt, wird es durchaus ernstgenommen. Bestehen bleibt aber diese Ignoranz gegenüber wichtigen Fragen der Stadtentwicklung.

Wir haben es hier mit einer Art Generationenkonflikt zu tun. Die Generation, die nach wie vor die Baupolitik und die architektonische Entwicklung in Berlin prägt, stammt zum größten Teil aus dem Westberlin der siebziger und achtziger Jahre und hat da ihre gedankliche und kulturelle Prägung erfahren. Man denke etwa an Hans Stimmann als Senatsbaudirektor oder an die Architekten Hans Kollhoff, Josef Paul Kleihues und Jürgen Sawade. Daneben gibt es aber durchaus Berliner Architekten, die ihre prägende Zeit im Ausland verbrachten und nicht so sehr den alten Wahrnehmungen verhaftet sind. Sie haben einen anderen Blick auf die Stadt und ich denke, dass diese neue Perspektive sich mittelfristig durchsetzen wird. Die alten Strukturen sind aber doch noch sehr etabliert.

Sie werden also die städtebauliche Entwicklung, die sich in Berlin seit der Wiedervereinigung vollzog, insgesamt kritisch beurteilen?

Oswalt: Im Wesentlichen ging es um eine nachholende Entwicklung. Sowohl Ost- wie Westberlin waren sehr spezifische Orte: Westberlin, ein fast sozialistisches Gebilde im Sinne eines nicht funktionierenden Kapitalismus, das als Schaufenster des freien Westens durch starke Subventionen am Leben erhalten wurde und keine normale kapitalistische Entwicklung vollzog. Und Ostberlin als Verwaltungswasserkopf der DDR.

In beiden Stadtteilen bestand ein großes Defizit, was die zeitgenössischen Bedürfnisse des privaten Lebens und Wirtschaftens betrifft. Die Entwicklung vollzog sich in zwei Richtungen. Zum einen konnte man eine extreme Suburbanisierung beobachten, wie wir das aus allen westlichen Städten kennen. Am Berliner Stadtrand entstanden etwa 100 000 Eigenheime, eine Entwicklung, die von niemandem geplant wurde, keinerlei steuernde Eingriffe erfuhr und aus meiner Sicht sehr problematisch ist. Zum anderen ging es vor allem im Ostteil der Stadt um eine nachholende Modernisierung im Sinne von Dienstleistungsangeboten für Büroflächen sowie modernen Formen des Einkaufens und Amüsierens.

Während das europäische Modell an sich immer das Ziel verfolgte, privatwirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen in ein Gleichgewicht zu bringen, fand eine solche Ausbalancierung in Berlin nicht statt, sondern es kam im Zuge einer Hypermodernisierung zu einer Art Amerikanisierung. Was die Mauer als antikapitalistischer Schutzwall verhindern sollte, prägte sich nach dem Mauerfall extrem aus. Heute gibt es am Berliner Stadtrand und auch in Ostberliner Innenstadtbereichen diese Megamalls und Multiplexkinos, also große introvertierte kommerzielle Funktionen, die nicht mehr in den Stadtkörper eingebunden sind.

Wie hätte man Ihrer Auffassung nach mit der baulichen Hinterlassenschaft der DDR im Ostteil Berlins verfahren sollen?

Oswalt: Seit 1989 wird in Berlin eine Politik umgesetzt, die im Sinne der klassischen Moderne tabula rasa veranstaltet. Das ganze Ostberliner Zentrum unterliegt einem radikalen Umgestaltungsprozess, der auch so weitergehen wird, wenn man sich die Planung des Alexanderplatzes ansieht, die demnächst umgesetzt wird. Auch hier soll durch einen Totalabriss und Neuaufbau völlig neu gestaltet werden.

Ich halte ein solches Vorgehen für sehr problematisch. Im Grunde handelt es sich dabei um eine symbolische Politik des für Berlin sehr typischen kontinuierlichen Vatermordes. Mit unheimlicher Emotionalisierung wird alles, was die vorhergehende Generation schuf, abgelehnt und ausradiert. Was die Hauptstadt der DDR ausmachte, wird innerhalb weniger Jahre im Stadtgebiet nicht mehr erfahrbar sein. Diese Haltung ist äußerst fragwürdig, ginge es doch vielmehr darum, sich mit der eigenen Geschichte und Identität auseinanderzusetzen. Auch sind die neuen Bebauungen qualitativ keineswegs immer besser als die alten. Geradezu komisch mutet es an, das in Namen von Geschichte das geschichtlich hergebrachte der Simulation eines fiktiven historischen Bildes weichen muß. Es gibt also nicht die Vision von Zukunft, sondern die Vision einer anderen Vergangenheit, die man durch diesen Eingriff erzeugen will.

Ich denke, dass sehr wohl Möglichkeiten vorhanden sind, eine Stadt zu modernisieren und weiterzuentwickeln, ohne den alten Baubestand, der auch architektonische Qualitäten besitzt, völlig zu zerstören. Man kann Vorhandenes weiterentwickeln und nachhaltig neue Programme einbringen, die ein komplexes städtisches Gefüge erzeugen und den Stadtbereich beleben. Der Entwurf des Architekten Daniel Libeskind für den Um- und Weiterbau des Alexanderplatzes, der im Planungswettbewerb allerdings nur den zweiten Platz belegte und daher nicht realisiert wird, zeigt auf eindrückliche Weise, wie man interessant und intelligent mit Vorgefundenem umgehen kann, auch wenn es eine schwierige Geschichte repräsentiert.

Welche Auswirkungen zeitigt die Spekulation auf die Stadtentwicklung Berlins?

Oswalt: Berlin ist mit der Spekulation groß geworden. Das starke Wachstum während der Industrialisierung war eine hochspekulative Entwicklung, wo man die Immobilie als Geldanlage ansah, ohne auf die Interessen der eigentlichen Bewohner zu achten. Damals war das eine sehr problematische Entwicklung, langfristig aber muss Spekulation sich nicht negativ auswirken.

Was das aktuelle Berlin betrifft, ist der erwartete Boom aber ausgeblieben. Es gibt Enklavenbildung, soziale Segmentierung, das Abwandern von Bevölkerung, Stadtteile, die zu verslumen drohen usw. Diese Gefahren sind aber nicht spezifisch für Berlin, sondern charakteristisch für jede urbane Entwicklung.

Daneben vollzog sich in Berlin jedoch noch eine andere interessante Entwicklung. Gerade durch die Abwesenheit marktwirtschaftlicher Strukturen in der Nachkriegszeit gab es viele Bereiche in der Stadt, die brachlagen, wo die Immobilien keinen ökonomischen Wert hatten und die deshalb als vakanter Raum für wenig Geld in Anspruch genommen werden konnten. Darin liegt ein interessantes Potenzial von Berlin, dass sich über ein solches Raumangebot neue Kulturen und auch neue Ökonomien entfalten könnten. Die gesamte Kulturentwicklung der neunziger Jahre in Berlin-Mitte basierte auf solchen brachliegenden Bauten. Insofern könnte man diskutieren - und wir beginnen an der TU-Berlin gerade ein Forschungsprojekt zu diesem Thema -, wie es möglich ist, solche vakanten Räume für eine Stadtentwicklung einzusetzen, die sich nicht nur auf das Investment von oben stützt, sondern auch andere Gruppen einbezieht.

Nun erwies sich Berlin in der Vergangenheit als besonders geeignet für Versuche einer Realisierung extrem utopischer Entwürfe. Ist dieses utopische Denken aus den heutigen Vorhaben verschwunden?

Oswalt: Ironisch könnte man sagen, dass die jetzige Stadtplanungspolitik einen solchen utopischen Versuch darstellt. Grundlegende Idee ist eine Blockbebauung, die als Berlinische Architektur bezeichnet wird und nun auf jede Situation, ob es sich um einen mehr oder weniger vorhandenen Block handelt, eine Zeilenbebauung aus den Fünfziger Jahren oder eine heterogene Brache, in gleicher Weise zur Anwendung kommt. Das heißt, es wird ein sehr simples und im Wesentlichen nur ästhetisch gesetztes Bild formuliert.

Diese komische Gleichzeitigkeit von ästhetischer Reglementierung einerseits und ökonomischem laisser-faire andererseits zeigt exemplarisch die Geschichte des Potsdamer Platzes. Ein großes städtisches Areal wurde unter Marktpreisen an drei Großkonzerne verkauft, die dafür das Programm eines Entertainment-Centers entwickelten. Der Einfluss der Stadt richtete sich nun nicht auf das Konzept, kommerzielle Formen, die bisher eher an der Peripherie zu finden waren, in die Innenstadt zu verpflanzen, sondern einzig auf das ästhetische Erscheinungsbild. Durch die Umsetzung einer Blockstruktur soll das Bild einer europäischen Stadt geschaffen werden. Ähnliches findet man an vielen Orten, insbesondere im Ostteil der Stadt.

Aus meiner Sicht ist es absurd, dass man zwar architektonisch formell das Erscheinungsbild reglementiert, dass man aber die Dinge, die für ein städtisches Leben entscheidend sind, dem freien Spiel der Marktkräfte überlässt. In gewissem Sinne könnte man von einer konservativen Revolution sprechen, einer Utopie, die versucht, sich durch Geschichte zu legitimieren.

Befindet sich Berlin auf der Suche nach einer Pseudohistorie?

Oswalt: Dieses Bedürfnis nach Geschichte hat zwei Aspekte. Zum einen geht es wie in allen Großstädten darum, im Sinne von Stadtmarketing Images zu entwickeln, die Touristen anziehen. Mit der Globalisierung der Wirtschaft hat das Benutzen von Geschichte als Vermarktungsvorteil zunehmend an Bedeutung gewonnen. Das Spektrum reicht von der Aufwertung historischer Orte durch deren Rekonstruktion bis hin zu fiktiven Gebilden.

Zum anderen reflektiert Berlin als Brennpunkt der deutschen Geschichte natürlich auch das Selbstverständnis der Deutschen. Und was mich an der städtebaulichen Diskussion vor allem befremdet, das ist der explizite Versuch, die Geschichte des 20. Jahrhunderts auszublenden und direkt an das 19. Jahrhundert anzuknüpfen. Zwar mag die radikale Verdrängung angesichts der Problematik der deutschen Geschichte verständlich sein, ein angemessener Umgang ist es aber nicht.

Wilhelm von Boddien als Schlossbefürworter formulierte es sehr deutlich, als er sagte, wir bräuchten das Schloss, um Berlin seine Identität zurückzugeben. Nicht nur dass Berlin auch heute schon eine sehr starke Identität besitzt, unglaublich intensiv und charaktervoll ist, mutet die Idee, Berlin seine Identität zurückgeben zu wollen, noch in anderer Hinsicht seltsam an. Boddien will die Identität, die sich im 20. Jahrhundert entwickelt hat, tilgen und zur Überblendung die Geschichte eines heilen Berlins von 1900 produzieren. Als besonderes Kuriosum kommt hinzu, dass all die Befürworter des Schlossaufbaus, die sich verhalten, als ginge es um den Wiederaufbau ihres eigenen Elternhauses, das Schloss nie gekannt hatten. Es wurde 1950 abgerissen und ist ihnen daher nur medial vermittelt.

Würden Sie sagen, dass Berlin in besonderem Maße dem Wahn absoluter Machbarkeit in Planung und Architektur verfallen ist?

Oswalt: Für mich ist Berlin ein Prototyp, an dem bestimmte Fragestellungen des Städtebaus besonders deutlich werden. Wie kaum eine andere Stadt bündelt es die unterschiedlichen Facetten der Moderne und bringt damit auch diesen positivistischen Glauben zum Ausdruck, die Gesellschaft nach einem Idealbild konstruieren zu können.

Heute wissen wir aus den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts, zu welchen fatalen Folgen die Vorstellung von einer besseren Welt führte. Diese Naivität, einen Idealplan verwirklichen zu wollen, können wir vor diesem Hintergrund nicht mehr aufrechterhalten. Eine Auseinandersetzung mit Berlin führt daher unweigerlich zu einem neuen Planungsverständnis, das sich aber in der Bauplanung bisher noch nicht niedergeschlagen hat.

Wie müsste dieses neue Verständnis aussehen?

Oswalt: Grundsätzlich brauchen wir ein anderes Entwurfsverständnis, das versucht, die Prämissen der klassischen Moderne aufzubrechen. Man spricht auch von einer zweiten Moderne, das heißt von einer Phase, wo die Modernisierung sich selbst reflektiert. Für die Stadtplanung geht es damit nicht mehr um das naive 'ich entwerfe', sondern um eine Reflexion dessen, was stattgefunden hat.

Wenn man sich Berlin ansieht, muss man feststellen, dass vieles von dem, was die Qualität der Stadt ausmacht, gar nicht intendiert war. Auf dieses Unbeabsichtigte muss man sich als Stadtplaner einlassen und darf solche Entwicklungen nicht immer nur als Scheitern werten. Nicht der ideale Neuentwurf ist es, was die Stadt braucht, sondern eine Planung, die sich offen zeigt gegenüber dem Gegebenen und in der Lage ist, auch auf Unvorhergesehenes und Nichtintendiertes einzugehen und dem eine städtebauliche Qualität einzuschreiben.

Das bedeutet nicht, dass man nicht dennoch strategisch vorausschauend Einfluss nehmen kann. In der viel verschrieenen klassischen Moderne gab es zum Beispiel durchaus interessante Ansätze von Regionalplanung. Denken Sie nur an die Sicherung des Tegler Forstes, des Köpenicker Forstes und des Grunewaldes. Diese drei großen städtischen Grüngebiete von Bebauung freizuhalten, war eine der wichtigsten stadtplanerischen Entscheidungen des letzten Jahrhunderts. Ein solches vorausschauendes Denken wäre auch heute wünschenswert.

erschienen in : Universitas, Orientierung in der Wissenswelt | Heft 658 | Stuttgart | 2001
 
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