Philipp Oswalt | 1998
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   Berlin, Stadt des 20. Jahrhunderts

Berlin hat sich mehr als irgendeine andere Stadt in die Geschichte des 20. Jahrhunderts eingeschrieben: Für die wesentlichen Ereignisse dieses Jahrhunderts - die Moderne der Zwanziger Jahre, Erster und Zweiter Weltkrieg, Nationalsozialismus und Holocaust, Kalter Krieg und Zusammenbruch des Sozialismus, Kapitalismus und Revolte - wurde die Stadt zum Schauplatz, und zugleich haben diese Ereignisse die Stadt geformt. Als Boomtown des 19. Jahrhunderts ohne Tradition hat Berlin diese Kräfte in sich absorbiert und ihnen Gestalt gegeben. In einem Prozeß eines automatischen Urbanismus', durch immer wiederkehrende Zerstörung, Planung und Neubau, entwickelte sich die Stadt zu einer Montage sich widersprechender ideologischer Fragmente. Die Stadt ist zu einem Text geworden, der ihre Geschichte und damit zugleich die Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Anders als andere Städte zeichnet sich Berlin nicht durch klassische Schönheit aus, weder durch die Komposition eines Idealplans noch durch organisches Wachstum, sondern durch Brüche und Widersprüche, Mannigfaltigkeit und Leere. Die Stadt ist häßlich, und doch fasziniert sie durch ihre Intensität und ihren spezifischen Charakter.

Im völligen Widerspruch dazu hat sich nach dem Mauerfall eine Architekturpolitik durchgesetzt, die die Fiktion einer bruchlosen preußisch-berlinischen Geschichte zum Leitbild von Architektur und Städtebau erklärt. Im Namen von  Geschichte' verleugnet sie die Geschichte und beseitigt ihre Spuren. Schon mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) unter Leitung von Josef Paul Kleihues war im Berlin der achtziger Jahre das Konzept einer Rekonstruktion des Stadtgrundrisses des 19. Jahrhunderts verfolgt worden. Blockrandbebauung und Korridorstraße bildeten die Leitidee, deren Umsetzung zu einer Beseitigung der Spuren von Kriegszerstörung, Kaltem Krieg und autogerechter Stadtplanung der fünfziger Jahre führte, was Architekten wie Rem Koolhaas und Hans Kollhoff damals als unzeitgemäß kritisierten. Während man bei der IBA im Rahmen des Konzepts der sogenannten  kritischen Rekonstruktion' eine liberale Architekturaufassung vertrat und eine Vielzahl unterschiedlichster Architekten für die Umsetzung einbezog, erhielt die Berliner Architekturdiskussion nach dem Mauerfall im November 1989 einen radikal verschärften Ton.

Simulation von Geschichte

Nunmehr forderten die Protagonisten - neben Josef Paul Kleihues insbesondere der damalige Senatsbaudirektor und heutige Staatssekretär Hans Stimmann - eine Vereinheitlichung der Architektur und die Durchsetzung eines sogenannten berlinisch-preußischen Stils. Sie definieren diese sogenannte  Berlinische Architektur' mit: - homogener Blockrandbebauung mit 22 Metern Traufhöhe; - zumindest optischer Parzellierung des Blocks in kleine Hauseinheiten; - steinerner Fassade mit einer tektonischen Fassadengliederung, stehenden Fensterformaten und einer Verkleidung aus Naturstein. Das Haus soll monolithisch sein und Solidität verkörpern.

Diese Regeln wurden zum allgemeingültigen Prinzip erhoben und in jeglicher Situation angewandt, ob in der historischen Mitte, am Potsdamer Platz oder - leicht modifiziert - bei den Neubausiedlungen in der Peripherie. Ihre Prämissen galten nicht nur für Neubauten. Nach dem gleichen Muster sollten im Rahmen des Planwerks Innenstadt auch existierende Stadtviertel transformiert und dem Bild einer homogenen Stadt angepaßt werden. Freimütig bekennt Stimmann:  Die Städte, die ich gut finde, sind in sich homogen.' Für ihn soll die Architektur in Berlin  diszipliniert, preußisch, zurückhaltend in der Farbigkeit, steinern, eher gerade als geschwungen' sein. Und so lobt Stimmann das von Kleihues konzipierte Hofgartenprojekt, weil hier die  Architekten das machen, was früher automatisch passiert ist, [Architekten], die sich als Berliner fühlen und nicht Amerika bauen wollen ... Es ist eine disziplinierte Architektur.' Der Architekturkritiker Martin Kieren spricht sogar von der  Uniform als Modell' für die Berlinische Architektur. Durchsetzen konnte Stimmann das Konzept der Berlinischen Architektur durch seine dominierende Rolle in zahlreichen Wettbewerbsjurys, durch die Kontrolle von Baugenehmigungen und über eine intensive Öffentlichkeitsarbeit. Die Architekturtheoretiker Dieter Hoffmann-Axthelm und Fritz Neumeyer entwickelten den ideologischen Unterbau, und Hans Kollhoff, der vor 1990 noch einer zeitgemäßen und experimentellen Architektur das Wort redete, wurde zum prononciertesten Vertreter der Neuen Berlinischen Architektur'.

Begründet wurde die Forderung nach der  Berlinischen Architektur' und einem  preußischen Stil' mit einem klassisch kulturpessimistischen Argumentationsmuster, wie es der Historiker Fritz Stern in seinem Buch Der Kulturpessimismus als politische Gefahr beschrieben hat: In pauschalen Vereinfachungen werden Probleme der westlichen Zivilisation verallgemeinert und eine idealisierte Vergangenheit heraufbeschworen, die - so der Architekturtheoretiker Fritz Neumeyer - ent- und remythologisiert werden soll. Modernität und Liberalismus werden bekämpft und eine Gemeinschaft herbeigesehnt. Man ist antiamerikanisch und spricht sich gegen das Berlin-fremde' aus. So ist es auch wenig erstaunlich, daß der Begriff vom preußischen Stil' vom rechten Vordenker und Nationalisten Moeller van den Bruck entlehnt ist, der unter selbigem Titel 1916 ein Buch veröffentlichte, worin er den preußischen Stil ganz analog zur heutigen Debatte mit Begriffen wie Tektonik, Monumentalität, Einheitlichkeit, Massivität und Disziplin charakterisierte. Was sich in der Berliner Architekturdebatte niederschlägt, ist ein Zeitgefühl für den wiedererstarkenden Nationalismus Europas nach Ende des Kalten Krieges und die Sehnsucht nach einer Normalisierung' der deutschen Geschichte. Berlin soll zu einer normalen europäischen Stadt werden, Deutschland zu einem normalen Land, dessen unglückselige Geschichte man mit dem Ende der Nachkriegszeit aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadt und der Gesellschaft tilgen möchte. Und zugleich handelt es sich bei der  Berlinischen Architektur' um das postmoderne Konzept des dekorierten Schuppens für einen globalisierten Immobilienmarkt, der Architektur auf das Styling des Konsumgutes Immobilie mit Hilfe klischeehafter Bilder reduziert.

Globalisierung

Bezeichnend für die Berliner Debatte der neunziger Jahre war, daß es vor allem um die Durchsetzung eines konservativen Bildes der Stadt ging, während Fragen der Infrastruktur, der Nutzung oder der Eigentumsformen keine Rolle spielten. Während man z.B. das Areal des Potsdamer Platzes an die Großkonzerne Daimler Benz und Sony großteils zu einem Bruchteil ihres Marktwertes verkaufte, wurde ihnen auferlegt, formal das Bild einer europäischen Stadt' zu generieren. Und so sagt Stimmann ganz offen:  Ich bin für die Investoren. Ich versuche sie zu ,deckeln' mit ästhetischen Kategorien.' Und auf diese Weise wurden alle entscheidenden städtebaulichen Fragen dem Immobilienmarkt oder Bürokraten überlassen, obwohl in Berlin eine historische Chance bestand, die Struktur der Stadt zu gestalten: Ein großer Teil der vakanten und zu entwickelnden Flächen in zentraler Lage gehörten dem Staat, wesentliche Infrastrukturen wie der Hauptbahnhof, Flughafen und einige der Hauptverkehrstrassen mußten neu geschaffen werden. Die Stadt hatte einen enormen Nachholbedarf an Gebäuden (pro Kopf nur ein Viertel der Bürofläche im Vergleich zu Frankfurt, ein Drittel im Vergleich zu München) und ein neu zu bestimmendes Verhältnis zum Umland, das aufgrund von Teilung und Planwirtschaft noch nahezu unbesiedelt war.

Der Bauboom in Berlin fiel zusammen mit einer Neuformierung des Immobilienmarktes, welcher aufgrund der Globalisierung der Märkte durch eine völlig neue Bauherrenschaft geprägt wurde: An Stelle einer Bauherrenschaft, die für ihren eigenen Bedarf baute, wie sie für die Nachkriegsökonomie Deutschlands charakteristisch war und noch die Entwicklung der Frankfurter Innenstadt in den achtziger Jahren geprägt hatte, traten die internationalen Anleger der Immobilienfonds, Lebensversicherungen und Developer, die sich aus spekulativem Interesse auf dem Immobilienmarkt engagierten und Gebäude für Vermietung und Verkauf rein nach finanziellen Gesichtspunkten erstellen ließen. In einer solchen Konstellation werden Architekten zu Dienstleistern degradiert, die schnell vermarktbare Objekte in einem engen Kosten- und Zeitrahmen zu entwickeln haben und einen Großteil ihrer ehemaligen Befugnisse an Projektmanager und -entwickler sowie Kostenplaner abgeben müssen.

Die Kombination von ästhetischem Reglement und ökonomisch-stadtplanerischem Laisser-faire führte dazu, daß sich zwischen Spreebogen, Potsdamer Platz und Friedrichstraße ein homogenes Dienstleistungszentrum und Regierungsviertel entwickelt hat: Mit diesem neuen  Business District' vollzog sich - so Rem Koolhaas - eine Amerikanisierung extremen Ausmaßes, mit allen Nachteilen Amerikas und ohne seine Vorteile. Es erfüllt sich erneut, was Kurt Tucholsky 1919 formulierte:  Berlin vereint die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen Provinzstadt.'

Attrappen

Architektonisch heißt dies, daß der zeitgenössische spekulative Bürobau mit historisierenden Fassaden verpackt wird, die zudem eine Kleinteiligkeit simulieren. Da die Ausnutzung rechtlich nicht begrenzt, gleichzeitig aber eine Höhenbeschränkung vorgegeben ist, entwickeln sich die Gebäude in die Tiefe: bis zu fünf Untergeschosse wie bei den Friedrichstadtpassagen oder bis zu 100 Meter tiefe Gebäude wie am Pariser Platz.

Sarkastisch könnte man sagen, daß sich das Berliner Reglement durchaus als innovativ erwiesen hat, da es einen neuen Gebäudetypus hervorbrachte. Exemplarisch dafür ist das Kontorhaus Mitte in der Friedrichstraße: Der Block gehört einer Investorengemeinschaft, Kleihues entwarf den gesamten Block, die Grundrisse der Gebäude, die Treppenhäuser, den Hof, die Hoffassaden etc. Er lud drei weitere Architekten ein, Straßenfassaden zu entwerfen, wobei ihnen die Benutzung von Stein als Fassadenverkleidung vorgeschrieben war. Damit beschränkte sich ihre Aufgabe darauf, einen Naturstein auszuwählen, die Fensterproportionen zu bestimmen und die Fassade zu detaillieren. Das im Inneren homogene Gebäude erscheint nunmehr nach außen als sechs Häuser mit sechs unterschiedlichen Fassaden. Beim Quartier Schützenstraße gelang dem italienischen Architekt Aldo Rossi in Zusammenarbeit mit den Architekten Bellmann + Böhm das gleiche Resultat ohne fremde Hilfe: Das Architektenteam entwickelte auf einem Grundstück, das einem einzigen Investor gehört, einen im Inneren zusammenhängenden Gebäudekomplex, der nach außen hin mit circa zwanzig unterschiedlichen Fassaden die historische Parzellierung des Grundstücks simuliert. Weitere Beispiele für dieses Konzept sind z.B. die Neuen Hackeschen Höfe (1 Investor, 1 Gebäude, 12 Fassaden) oder debis am Potsdamer Platz (1 Investor, 1 Grundstück, 6 Architekten, 18  Gebäude'). Bei der Shopping Mall am Potsdamer Platz von debis führte die Simulation von Geschichte dazu, daß manche Gebäude von drei Architekten gemeinsam wie bei einem surrealistischen cadavre exquis entworfen wurden: Während das Architekturbüro Christoph Kohlbecker für die Untergeschosse des Gesamtkomplexes verantwortlich ist, war Renzo Pianos Büro mit dem Einkaufszentrum beauftragt, das neben einer überdachten Galerie die ersten beiden Obergeschosse der angrenzenden Gebäude umfaßt, während Richard Rogers Partnership die obere Hälfte (zweites bis achtes Obergeschoß) der Gebäude zu entwerfen hatte. Ebenso wie in der Horizontalen wurde das Projekt auch in der Vertikalen aufgeteilt: Rogers' Büro entwarf die Parkfassade, Pianos Büro die Fassade zur Einkaufsgalerie.

Aus den widersprüchlichen Sehnsüchten nach Homogenität und Kleinteiligkeit erscheinen die nunmehr fertiggestellten Gebäude mit ihren angeklebten Fassaden wie die überdimensionierten Ausstellungsmuster von Fassadenherstellern auf einer Baufachmesse: Eine verwirrende Vielfalt unterschiedlich gelblicher, rötlicher, gräulicher und grünlicher Fassadenverkleidungen aus Granit, Sandstein, Travertin, Ziegel usw. bestimmen das Bild. Parallel zu den Entwicklungen in der Innenstadt enstanden in der Peripherie Berlins Schlafstädte auf der grünen Wiese. Exemplarisch dafür ist die Siedlung Karow-Nord, Vorzeigeobjekt des ehemaligen Senatsbaudirektors: Ausgangspunkt für die Planung dieses mit 5.100 Wohnungen für 15.000 Einwohner größten Wohnbauprojekts in den neuen Bundesländern war ein  starkes Bild für die neue Vorstadt' (Stimmann), das mit Hilfe einer Gestaltungssatzung von mehreren hundert Seiten Umfang festgelegt wurde. Insbesondere durch die Form der Einfriedung, die Dachform, einen Sockel aus rotem Ziegelsichtmauerwerk, stehende Fensterformate und Begrenzung der Fensterfläche auf maximal 50 Prozent sollte das Bild einer traditionellen Vorstadt festgeschrieben werden. Völlig vernachlässigt wurden hingegen die Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel, die Nutzungsmischung sowie die Kostenreduzierung. Bezeichnend ist, daß das Büro Moore, Ruble, Yudell, das den Masterplan für Karow-Nord entwickelt hat, auch an den Planungen von Celebration beteiligt war. Celebration ist eine von der Walt Disney Company in den neunziger Jahren in Florida gegründete Siedlung, die nach den Bildern des Hollywood-Kinos von einer fiktiven  traditionellen' amerikanischen Stadt erbaut wurde.

Ein anderer Umgang mit Geschichte

Während die Berliner Baupolitik der neunziger Jahre die Simulation einer kontinuierlichen Tradition mit Methoden der Themenparks verfolgte, hatte sich eine Reihe von Architekten seit den siebziger Jahren mit der komplexen Geschichte der Stadt befaßt. Neben einigen jüngeren Berlinern gehören hierzu Rem Koolhaas, der seine Architekturkarriere mit einer Studie über die  Berliner Mauer als Architektur' ( The Berlin Wall as Architecture', 1972) begann, sowie Daniel Libeskind, der sich seit den späten achtziger Jahren vorwiegend mit Berlin befaßt hat. Beide Architekten haben in ihrer Auseinandersetzung mit Berlin eine Reihe von Themen entwickelt, die nicht nur in ihrer eigenen Arbeit eine zentrale Stellung einnehmen, sondern auch die internationale Architekturdebatte der achtziger und neunziger Jahre wesentlich beeinflußten. Gleichwohl galt Rem Koolhaas spätestens seit seiner Kritik an der offiziellen Baupolitik (1991) in Berlin als eine persona non grata, während man Libeskind als Sonderling duldete und ihm den Bau des Jüdischen Museums zugestand.

Die spezifische Eigenart Berlins in architektonisch-städtebaulicher Hinsicht wurde erstmals 1977 in der Studie Stadt in der Stadt von Oswald Matthias Ungers, Rem Koolhaas, Hans Kollhoff und anderen umrissen:  Die Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit, die sich in den historisch gewachsenen Stadtteilen manifestiert, macht die Bedeutung Berlins und die städtebauliche Qualität aus. Es ist eine Stadt, in der sich gegensätzliche Elemente von jeher artikulieren und in der Versuche der Vereinheitlichung unter einem einzigen Prinzip erfolglos blieben.' Einige Jahre später haben Rem Koolhaas und sein Büro O.M.A. mit ihren Entwürfen für die IBA aufgezeigt, wie dieses Spezifikum Berlins in eine neue Art des Städtebaus überführt werden kann. So entwickelt der Entwurf für die Südliche Friedrichstadt die Heterogenität und Offenheit des vorgefundenen Ortes weiter und bindet sie zugleich in ein kohärentes räumliches Gefüge. Barocke Stadtfragmente, Mietskasernen des 19. Jahrhunderts, Elemente der klassischen Moderne und Nachkriegsbebauung werden durch die Ergänzung mit zwei weiteren Typologien - Hofhäuser und Wohnscheiben - zu einem städtischen Gewebe verbunden. Rem Koolhaas stellte fest, daß ein konzeptueller Rahmen notwendig ist, der die vorhandenen divergierenden und gegensätzlichen Architekturen zueinander in Beziehung setzt und eine Basis für neue Eingriffe bildet. Ein retroaktives Manifest, das aus der existierenden Zufälligkeit einen Sinn entwickelt.'

In einer Reihe von Arbeiten verschiedenster Architekten wurde in analoger Weise aus der Auseinandersetzung mit dem existierenden Berlin eine Reihe von Themen entwickelt, die die Identität der Stadt konzeptuell fassen und sie zugleich in zeitgenössische Architektur transformieren. Anhand einiger exemplarischer Arbeiten möchte ich dieses andere Verständnis von Berlin im folgenden beschreiben:

Leere

Das Berlin der Nachkriegsära war von großen Brachflächen im Zentrum der Stadt geprägt. NS-Regime, Kriegszerstörungen, Nachkriegsplanungen sowie die Errichtung der Berliner Mauer hatten riesige Leerflächen geschaffen, die einen neuartigen Stadtraum bildeten und einer Vielzahl von temporären und spontanen Nutzungen Platz gaben. Rem Koolhaas hatte das für ihn später so zentrale Thema der Leere bei seiner Studie  Die Berliner Mauer als Architektur' entdeckt. Er sah in ihnen das Potential der Befreiung:  Wo nichts ist, ist alles möglich.' Im Gegensatz zu der funktionalen Festsetzung durch Architektur weisen Leeräume die Qualität programmatischer Unbestimmtheit auf. Ende der achtziger Jahre hat er dieses Thema in Projekten wie dem städtebaulichen Entwurf für Melun-SÈnart oder der TrËs Grande BibliothËque für Paris zu einem neuen Architektur- und Städtebaukonzept weiterentwickelt.

Außerhalb von Berlin weniger bekannt sind die Arbeiten von Andreas Reidemeister, der sich bereits 1982 dafür einsetzte, die durch die geplante Autobahntrasse entstandene Stadtbrache in der Südlichen Friedrichstadt nicht wieder durch Neubauten zu schließen, wie dies wenig später von der IBA vollzogen wurde. Statt dessen schlug er vor, den durch Krieg und Abriß geschaffenen Leerraum zu erhalten und architektonisch zu artikulieren. Ein öffentlicher Grünraum sollte das Blockraster durchkreuzen und durch einige begleitende Wohnbauten rhythmisiert werden. 1992 entwickelte Reidemeister diesen Ansatz weiter und schlug vor, die Brachflächen im Zentrum der Stadt - die ehemaligen Bahnanlagen, den Mauerstreifen und die Uferzone der Spree - zu erhalten und durch Büro- und Wohnhochhäuser an ihren Rändern städtebaulich zu artikulieren.

Einen ähnlichen Ansatz verfolgte das holländische Architekturbüro MVRDV mit ihrem nichtrealisierten Entwurf für die Bornholmer Straße, der beim Europanwettbewerb 1991 mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde: Das Gebäude ist als vertikaler Block konzipiert, der den Leerraum des Mauerstreifens und der S-Bahn-Trasse gegenüber der Stadt markiert. Der Ost-West orientierte Baukörper im ehemaligen Grenzbereich thematisiert die unterschiedlichen Hälften der ehemals geteilten Stadt und macht sie erfahrbar. Aus der Scheibe sind mehrere Leerräume herausgeschnitten, die die gemeinschaftlichen und öffentlichen Programme aufnehmen und zugleich die Leere architektonisch thematisieren. Die Masse des Gebäudevolumens besteht aus einem dreidimensionalen Puzzle von Wohnungen unterschiedlicher Kubatur, womit eine große räumliche und programmatische Vielfalt innerhalb des Gebäudes entsteht.

Anders als die bisher erwähnten Arbeiten entwickelte Daniel Libeskind das Thema der Leere. Für ihn charakterisiert die Leere Berlin nicht nur physisch, sondern auch mental. Die zahlreichen kriegsbedingten Leerräume im Zentrum wie am Postdamer Platz, dem Diplomatenviertel und dem Spreebogen sind in seinen Augen sichtbare Zeichen für Verlust, Zerstörung und Diskontinuität. Während Rem Koolhaas die räumlichen und programmatischen Qualitäten dieser spezifischen Stadtlandschaft faszinieren und inspirieren, versinnbildlichen sie für Libeskind den Verlust des reichen jüdischen Erbes in Berlin, die gebrochene Geschichte der Juden in Deutschland, der deutschen Juden und der Deutschen.  Eine Abwesenheit, die nicht gefüllt werden kann, ein Bruch, der nicht zu heilen ist.' Bei seinem Entwurf für das Jüdische Museum transformierte er die vorgefundene Leere zum strukturellen Zentrum des Gebäudes: Eine fragmentierte und mehrfach unterbrochene Leere bildet das Rückgrat des Museums. Das Gebäude ist um ein Zentrum aufgebaut, das abwesend ist, eine Leere, die nicht betretbar ist und nicht gefüllt werden kann. Das zweite zentrale Thema des Jüdischen Museums ist die Fragmentierung und Heterogenität der Stadt. Die komplexe Form des Baukörpers reagiert auf heterogene Elemente der Umgebung - barockes Stadtpalais, Wohnhochhäuser der sechziger Jahre, Stadtvillen der Achtziger - und bindet sie in ein räumliches Gefüge ein. Erst seine komplexe Geometrie ermöglicht es, die Stadtfragmente miteinander in Beziehung zu setzen und den Neubau in den heterogenen Kontext zu integrieren.

Fragmentierung und Heterogenität

O.M.A.'s Entwürfe für die IBA sowie Daniel Libeskinds Entwurf für das Jüdische Museum formulieren das Programm eines modernen Kontextualismus, der nicht eine bestimmte Phase der Stadtgeschichte idealisiert, sondern die Strukturen und Elemente der verschiedenen Epochen akzeptiert, die Fragmente in ein Gesamtkonzept überführt, ihre Defizite durch räumliche wie programmatische Erweiterungen beseitigt und die vorhandenen Qualitäten verstärkt. Es wird weder der Status quo eingefroren noch eine vergangene Epoche rekonstruiert, sondern mit zeitgenössischen Mitteln das Vorhandene weiterentwickelt und mit Neuem bereichert.

Im städtischen Maßstab hat Libeskind dieses Konzept mit seinen Wettbewerbsprojekten für den Alexanderplatz (1993, 2. Preis) weiterentwickelt: Im Gegensatz zu dem mit dem ersten Preis ausgezeichneten Entwurf von Hans Kollhoff schlug er vor, den existierenden Massenwohnungsbau der DDR zu erhalten und um kommerzielle wie kulturelle Funktionen zu ergänzen. Die neuen Baukörper nehmen Bezug auf die verschiedenen Ordnungsstrukturen der Umgebung. Auf der Basis einer multiplen Ordnung wird das Bestehende transformiert, weiterentwickelt und verdichtet.

Das Büro Lèon + Wohlhage verfolgt bei seiner Auseinandersetzung mit dem fragmentierten Berliner Stadtraum ein Konzept mehrdeutiger Gebäude, die in ihrer doppelten Lesbarkeit zwischen solitärem Objekt und Integration in die städtische Textur changieren und damit eine Ambivalenz von Autonomie und Unterordnung zum Ausdruck bringen. Exemplarisch hierfür sind neben ihren Entwürfen für das World Trade Center Berlin (1991-93) und das Bürohaus am Halensee (1990-96) das Wohnhaus in der Schlesischen Straße (1992-94). Das Gebäude definiert einerseits die Blockecke und ist zugleich ein Solitär, der den Blick auf die umgebenden Brandwände freigibt und die den historischen Stadtgrundriß negierende Nachkriegsbebauung in eine freie Ordnung integriert.

Auf einem analogen Konzept basiert auch der Entwurf von Sauerbruch/Hutton für die GSW-Hauptverwaltung (1991-99) in der Kochstraße: Der Neubau bindet das existierende Fünfziger-Jahre-Hochhaus der GSW in den städtischen Kontext des barocken Stadtgrundrisses ein und stellt zugleich Bezüge zu den übrigen Hochhäusern der Umgebung her. Die Heterogenität der existierenden Stadt wird akzeptiert, durch punktuelle Intervention in eine multiple Ordnung integriert und räumlich strukturiert.

Großsiedlungen

Anders als in den älteren Stadtteilen Berlins zeichnen sich die Großsiedlungen im Osten der Stadt durch funktionale Monotonie und eine nur mangelhaft artikulierte Räumlichkeit aus. Doch aufgrund der schon rein quantitativ überwältigenden Präsenz der Plattenbauten scheidet auch hier eine Neustrukturierung auf Basis von Ergänzungsbauten aus. So basiert die Studie für die Falkenberger Chaussee in Hohenschönhausen von Irene Keil und Jörg Pampe auf der Idee eines modernen Kontextualismus, der das Vorhandene akzeptiert und ihm zugleich durch eine Transformation neue Qualitäten verleiht. Durch eine Sequenz freistehender, straßenbegleitender Baukörper wird die spezifische Räumlichkeit des DDR-Städtebaus kompositorisch überhöht, rhythmisiert und verdichtet, womit der Straßenraum zugleich räumlich gefaßt wird.

Ein anderer Ansatzpunkt bot sich den Amsterdamer Landschaftsarchitekten B+B bei ihrem Wettbewerbsentwurf für den Hellersdorfer Graben (1994), der mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde: Die existierende künstliche Topographie wurde genutzt, um die Koexistenz von intensiv genutztem Park und unberührtem Naturraum zu ermöglichen. Der heute als offene U-Bahn-Trasse genutzte ehemalige Entwässerungsgraben wird weiter vertieft und durch Initialpflanzungen zu einem sich selbst regulierenden Waldbiotop entwickelt, der als grüner Fluß den ganzen Stadtteil durchzieht und ihn mit dem Umland verbindet. Eine Reihe von topographischen Inseln auf dem Höhenniveau der umgebenden Stadtteile bildet eine intensiv genutzte Parkschicht, die mit diesen durch Brücken verbunden ist.

Multiplizität

Auf der Ebene der Gesamtstadt hatte der Berliner Architekt Christoph Langhof mit dem Projekt  Delta-Stadt' (1991) ein Konzept entwickelt, das aus dem Berliner Spezifikum der Duplizität eine neue Qualität entwickelt: Statt die zwei Stadthälften Ost- und West-Berlins in einer Wiedervereinigung' zu verschmelzen, schlägt er die Gründung einer dritten Stadt im Südraum von Berlin vor, welche die dort vorhandene Infrastruktur (Flughafen, ICE-Trasse, Autobahn) nutzt und zugleich als Bindeglied zwischen Ost und West dient. Die Parellelität der drei Städte fördert den Wettbewerb innerhalb der Metropole, verstärkt die Polyzentralität und erlaubt eine experimentelle und offene Stadtentwicklung, die durch Steuererleichterungen und eine vereinfachte Verwaltung gefördert werden soll.

Temporär

Ein weiteres zentrales Berliner Thema ist die temporäre, spontane, oft illegale Nutzung von Stadtbrachen oder leerstehenden Bauten. Berlin hat in diesem Jahrhundert den Untergang von vier deutschen Staaten erlebt. Die Zeiten des Umbruchs, die Zerstörungen des Krieges, die schwache Ökonomie und ungeklärte Rechtsverhältnisse führten immer wieder zu spontanen Aneignungen und Aktivitäten, die sich durch geringe finanzielle Mittel und hohe Kreativität auszeichneten. Diese Aktivitäten sind instabil und transitorisch und reagieren äußerst flexibel auf eine Veränderung der Rahmenbedingungen. Sie haben die spezifische Urbanität von Berlin mitgeprägt. Charakteristisch dafür sind die Hausbesetzerszene und Polenmärkte ebenso wie die nach der Wende entstandene Club- und Barszene in Berlin-Mitte.

Ein legendäres Beispiel hierfür ist der WMF-Club, dessen abwechslungsreiche Geschichte durch die temporäre Nutzung einer Reihe von zentralen und zugleich sehr spezifischen Orten der Berliner Geschichte geprägt ist. Der Club wurde 1990/91 mit der Besetzung von Räumen der ehemaligen Hauptverwaltung der Württembergischen Metallwarenfabrik in der Leipziger Straße gegründet. Nach der Vertreibung durch den Eigentümer legten die Initiatoren ohne Genehmigung das geflutete Pissoir des ehemaligen Kaufhauses Wertheim am Potsdamer Platz trocken, um dort für ein dreiviertel Jahr den Club zu betreiben. Darauf folgte eine legalisierte Interimsnutzung in der Burgstraße, deren Räumlichkeiten der Künstler Fred Rubin gestaltete. Die von ihm aus dem Palast der Republik demontierte und transformierte Bowling-Bar wurde dort in neuem Kontext installiert. Bei dem neuerlichen Umzug des WMF in das ehemalige Gästehaus des Ministerrats der DDR in der Johannisstraße wurde das Konzept weiterentwickelt und das Interieur mit Versatzstücken aus dem ehemaligen Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten und dem ehemaligen Zentralkomitee der SED gestaltet, wie z.B. dem Arbeitszimmer von Erich Honecker aus weißem Leder.

Ein weiteres aktuelles Beispiel für die temporäre Nutzung eines charakteristischen Ortes ist die Kunsthalle in der Chausseestraße, bei der ein ehemaliger DDR-Supermarkt für Ausstellungszwecke umfunktioniert wurde.

Wie die beschriebenen Beispiele zeigen, sind in den letzten Jahren abseits des offiziellen Architekturdiskurses eine Reihe von Projekten entstanden, die sich mit der sehr spezifischen Geschichte Berlins befassen und aus dieser Arbeit eine zeitgenössische Architektur entwickeln. Die zentralen Themen der Stadt wie Leere, Fragmentierung, Heterogenität, Multiplizität, Temporalität, Formlosigkeit und Subversion weisen ein hohes Innovationspotential auf. Es bleibt zu hoffen, daß die Stadt trotz aller restaurativen Tendenzen und dem ökonomischen Verwertungsdruck sich nicht völlig normalisiert, sondern ihre spezifische Identität behält und aus ihr ein zukunftsweisendes Potential entwickelt.


Ich danke Stefan Rethfeld für die intensive Mitarbeit bei der Recherche.

erschienen in: Berlin / Berlin, Katalog zur Berlin Biennale | Hrsg. von Miriam Wiesel | Berlin | 1998
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