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Berlin hat sich mehr als irgendeine andere Stadt in die Geschichte des
20. Jahrhunderts eingeschrieben: Für die wesentlichen Ereignisse
dieses Jahrhunderts - die Moderne der Zwanziger Jahre, Erster und Zweiter
Weltkrieg, Nationalsozialismus und Holocaust, Kalter Krieg und Zusammenbruch
des Sozialismus, Kapitalismus und Revolte - wurde die Stadt zum Schauplatz,
und zugleich haben diese Ereignisse die Stadt geformt. Als Boomtown des
19. Jahrhunderts ohne Tradition hat Berlin diese Kräfte in sich absorbiert
und ihnen Gestalt gegeben. In einem Prozeß eines automatischen Urbanismus',
durch immer wiederkehrende Zerstörung, Planung und Neubau, entwickelte
sich die Stadt zu einer Montage sich widersprechender ideologischer Fragmente.
Die Stadt ist zu einem Text geworden, der ihre Geschichte und damit zugleich
die Geschichte des 20. Jahrhunderts erzählt. Anders als andere Städte
zeichnet sich Berlin nicht durch klassische Schönheit aus, weder
durch die Komposition eines Idealplans noch durch organisches Wachstum,
sondern durch Brüche und Widersprüche, Mannigfaltigkeit und
Leere. Die Stadt ist häßlich, und doch fasziniert sie durch
ihre Intensität und ihren spezifischen Charakter.
Im völligen Widerspruch dazu hat sich nach dem Mauerfall eine Architekturpolitik
durchgesetzt, die die Fiktion einer bruchlosen preußisch-berlinischen
Geschichte zum Leitbild von Architektur und Städtebau erklärt.
Im Namen von Geschichte' verleugnet sie die Geschichte und beseitigt
ihre Spuren. Schon mit der Internationalen Bauausstellung (IBA) unter
Leitung von Josef Paul Kleihues war im Berlin der achtziger Jahre das
Konzept einer Rekonstruktion des Stadtgrundrisses des 19. Jahrhunderts
verfolgt worden. Blockrandbebauung und Korridorstraße bildeten die
Leitidee, deren Umsetzung zu einer Beseitigung der Spuren von Kriegszerstörung,
Kaltem Krieg und autogerechter Stadtplanung der fünfziger Jahre führte,
was Architekten wie Rem Koolhaas und Hans Kollhoff damals als unzeitgemäß
kritisierten. Während man bei der IBA im Rahmen des Konzepts der
sogenannten kritischen Rekonstruktion' eine liberale Architekturaufassung
vertrat und eine Vielzahl unterschiedlichster Architekten für die
Umsetzung einbezog, erhielt die Berliner Architekturdiskussion nach dem
Mauerfall im November 1989 einen radikal verschärften Ton.
Simulation von Geschichte
Nunmehr
forderten die Protagonisten - neben Josef Paul Kleihues insbesondere der
damalige Senatsbaudirektor und heutige Staatssekretär Hans Stimmann
- eine Vereinheitlichung der Architektur und die Durchsetzung eines sogenannten
berlinisch-preußischen Stils. Sie definieren diese sogenannte
Berlinische Architektur' mit: - homogener Blockrandbebauung mit 22 Metern
Traufhöhe; - zumindest optischer Parzellierung des Blocks in kleine
Hauseinheiten; - steinerner Fassade mit einer tektonischen Fassadengliederung,
stehenden Fensterformaten und einer Verkleidung aus Naturstein. Das Haus
soll monolithisch sein und Solidität verkörpern.
Diese Regeln wurden zum allgemeingültigen Prinzip erhoben und in
jeglicher Situation angewandt, ob in der historischen Mitte, am Potsdamer
Platz oder - leicht modifiziert - bei den Neubausiedlungen in der Peripherie.
Ihre Prämissen galten nicht nur für Neubauten. Nach dem gleichen
Muster sollten im Rahmen des Planwerks Innenstadt auch existierende Stadtviertel
transformiert und dem Bild einer homogenen Stadt angepaßt werden.
Freimütig bekennt Stimmann: Die Städte, die ich gut finde,
sind in sich homogen.' Für ihn soll die Architektur in Berlin
diszipliniert, preußisch, zurückhaltend in der Farbigkeit,
steinern, eher gerade als geschwungen' sein. Und so lobt Stimmann das
von Kleihues konzipierte Hofgartenprojekt, weil hier die Architekten
das machen, was früher automatisch passiert ist, [Architekten], die
sich als Berliner fühlen und nicht Amerika bauen wollen ... Es ist
eine disziplinierte Architektur.' Der Architekturkritiker Martin Kieren
spricht sogar von der Uniform als Modell' für die Berlinische
Architektur. Durchsetzen konnte Stimmann das Konzept der Berlinischen
Architektur durch seine dominierende Rolle in zahlreichen Wettbewerbsjurys,
durch die Kontrolle von Baugenehmigungen und über eine intensive
Öffentlichkeitsarbeit. Die Architekturtheoretiker Dieter Hoffmann-Axthelm
und Fritz Neumeyer entwickelten den ideologischen Unterbau, und Hans Kollhoff,
der vor 1990 noch einer zeitgemäßen und experimentellen Architektur
das Wort redete, wurde zum prononciertesten Vertreter der Neuen Berlinischen
Architektur'.
Begründet wurde die Forderung nach der Berlinischen Architektur'
und einem preußischen Stil' mit einem klassisch kulturpessimistischen
Argumentationsmuster, wie es der Historiker Fritz Stern in seinem Buch
Der Kulturpessimismus als politische Gefahr beschrieben hat: In pauschalen
Vereinfachungen werden Probleme der westlichen Zivilisation verallgemeinert
und eine idealisierte Vergangenheit heraufbeschworen, die - so der Architekturtheoretiker
Fritz Neumeyer - ent- und remythologisiert werden soll. Modernität
und Liberalismus werden bekämpft und eine Gemeinschaft herbeigesehnt.
Man ist antiamerikanisch und spricht sich gegen das Berlin-fremde' aus.
So ist es auch wenig erstaunlich, daß der Begriff vom preußischen
Stil' vom rechten Vordenker und Nationalisten Moeller van den Bruck entlehnt
ist, der unter selbigem Titel 1916 ein Buch veröffentlichte, worin
er den preußischen Stil ganz analog zur heutigen Debatte mit Begriffen
wie Tektonik, Monumentalität, Einheitlichkeit, Massivität und
Disziplin charakterisierte. Was sich in der Berliner Architekturdebatte
niederschlägt, ist ein Zeitgefühl für den wiedererstarkenden
Nationalismus Europas nach Ende des Kalten Krieges und die Sehnsucht nach
einer Normalisierung' der deutschen Geschichte. Berlin soll zu einer normalen
europäischen Stadt werden, Deutschland zu einem normalen Land, dessen
unglückselige Geschichte man mit dem Ende der Nachkriegszeit aus
dem kollektiven Gedächtnis der Stadt und der Gesellschaft tilgen
möchte. Und zugleich handelt es sich bei der Berlinischen Architektur'
um das postmoderne Konzept des dekorierten Schuppens für einen globalisierten
Immobilienmarkt, der Architektur auf das Styling des Konsumgutes Immobilie
mit Hilfe klischeehafter Bilder reduziert.
Globalisierung
Bezeichnend
für die Berliner Debatte der neunziger Jahre war, daß es vor
allem um die Durchsetzung eines konservativen Bildes der Stadt ging, während
Fragen der Infrastruktur, der Nutzung oder der Eigentumsformen keine Rolle
spielten. Während man z.B. das Areal des Potsdamer Platzes an die
Großkonzerne Daimler Benz und Sony großteils zu einem Bruchteil
ihres Marktwertes verkaufte, wurde ihnen auferlegt, formal das Bild einer
europäischen Stadt' zu generieren. Und so sagt Stimmann ganz offen:
Ich bin für die Investoren. Ich versuche sie zu ,deckeln' mit ästhetischen
Kategorien.' Und auf diese Weise wurden alle entscheidenden städtebaulichen
Fragen dem Immobilienmarkt oder Bürokraten überlassen, obwohl
in Berlin eine historische Chance bestand, die Struktur der Stadt zu gestalten:
Ein großer Teil der vakanten und zu entwickelnden Flächen in
zentraler Lage gehörten dem Staat, wesentliche Infrastrukturen wie
der Hauptbahnhof, Flughafen und einige der Hauptverkehrstrassen mußten
neu geschaffen werden. Die Stadt hatte einen enormen Nachholbedarf an
Gebäuden (pro Kopf nur ein Viertel der Bürofläche im Vergleich
zu Frankfurt, ein Drittel im Vergleich zu München) und ein neu zu
bestimmendes Verhältnis zum Umland, das aufgrund von Teilung und
Planwirtschaft noch nahezu unbesiedelt war.
Der Bauboom in Berlin fiel zusammen mit einer Neuformierung des Immobilienmarktes,
welcher aufgrund der Globalisierung der Märkte durch eine völlig
neue Bauherrenschaft geprägt wurde: An Stelle einer Bauherrenschaft,
die für ihren eigenen Bedarf baute, wie sie für die Nachkriegsökonomie
Deutschlands charakteristisch war und noch die Entwicklung der Frankfurter
Innenstadt in den achtziger Jahren geprägt hatte, traten die internationalen
Anleger der Immobilienfonds, Lebensversicherungen und Developer, die sich
aus spekulativem Interesse auf dem Immobilienmarkt engagierten und Gebäude
für Vermietung und Verkauf rein nach finanziellen Gesichtspunkten
erstellen ließen. In einer solchen Konstellation werden Architekten
zu Dienstleistern degradiert, die schnell vermarktbare Objekte in einem
engen Kosten- und Zeitrahmen zu entwickeln haben und einen Großteil
ihrer ehemaligen Befugnisse an Projektmanager und -entwickler sowie Kostenplaner
abgeben müssen.
Die Kombination von ästhetischem Reglement und ökonomisch-stadtplanerischem
Laisser-faire führte dazu, daß sich zwischen Spreebogen, Potsdamer
Platz und Friedrichstraße ein homogenes Dienstleistungszentrum und
Regierungsviertel entwickelt hat: Mit diesem neuen Business District'
vollzog sich - so Rem Koolhaas - eine Amerikanisierung extremen Ausmaßes,
mit allen Nachteilen Amerikas und ohne seine Vorteile. Es erfüllt
sich erneut, was Kurt Tucholsky 1919 formulierte: Berlin vereint
die Nachteile einer amerikanischen Großstadt mit denen einer deutschen
Provinzstadt.'
Attrappen
Architektonisch
heißt dies, daß der zeitgenössische spekulative Bürobau
mit historisierenden Fassaden verpackt wird, die zudem eine Kleinteiligkeit
simulieren. Da die Ausnutzung rechtlich nicht begrenzt, gleichzeitig aber
eine Höhenbeschränkung vorgegeben ist, entwickeln sich die Gebäude
in die Tiefe: bis zu fünf Untergeschosse wie bei den Friedrichstadtpassagen
oder bis zu 100 Meter tiefe Gebäude wie am Pariser Platz.
Sarkastisch könnte man sagen, daß sich das Berliner Reglement
durchaus als innovativ erwiesen hat, da es einen neuen Gebäudetypus
hervorbrachte. Exemplarisch dafür ist das Kontorhaus Mitte in der
Friedrichstraße: Der Block gehört einer Investorengemeinschaft,
Kleihues entwarf den gesamten Block, die Grundrisse der Gebäude,
die Treppenhäuser, den Hof, die Hoffassaden etc. Er lud drei weitere
Architekten ein, Straßenfassaden zu entwerfen, wobei ihnen die Benutzung
von Stein als Fassadenverkleidung vorgeschrieben war. Damit beschränkte
sich ihre Aufgabe darauf, einen Naturstein auszuwählen, die Fensterproportionen
zu bestimmen und die Fassade zu detaillieren. Das im Inneren homogene
Gebäude erscheint nunmehr nach außen als sechs Häuser
mit sechs unterschiedlichen Fassaden. Beim Quartier Schützenstraße
gelang dem italienischen Architekt Aldo Rossi in Zusammenarbeit mit den
Architekten Bellmann + Böhm das gleiche Resultat ohne fremde Hilfe:
Das Architektenteam entwickelte auf einem Grundstück, das einem einzigen
Investor gehört, einen im Inneren zusammenhängenden Gebäudekomplex,
der nach außen hin mit circa zwanzig unterschiedlichen Fassaden
die historische Parzellierung des Grundstücks simuliert. Weitere
Beispiele für dieses Konzept sind z.B. die Neuen Hackeschen Höfe
(1 Investor, 1 Gebäude, 12 Fassaden) oder debis am Potsdamer Platz
(1 Investor, 1 Grundstück, 6 Architekten, 18 Gebäude').
Bei der Shopping Mall am Potsdamer Platz von debis führte die Simulation
von Geschichte dazu, daß manche Gebäude von drei Architekten
gemeinsam wie bei einem surrealistischen cadavre exquis entworfen wurden:
Während das Architekturbüro Christoph Kohlbecker für die
Untergeschosse des Gesamtkomplexes verantwortlich ist, war Renzo Pianos
Büro mit dem Einkaufszentrum beauftragt, das neben einer überdachten
Galerie die ersten beiden Obergeschosse der angrenzenden Gebäude
umfaßt, während Richard Rogers Partnership die obere Hälfte
(zweites bis achtes Obergeschoß) der Gebäude zu entwerfen hatte.
Ebenso wie in der Horizontalen wurde das Projekt auch in der Vertikalen
aufgeteilt: Rogers' Büro entwarf die Parkfassade, Pianos Büro
die Fassade zur Einkaufsgalerie.
Aus den widersprüchlichen Sehnsüchten nach Homogenität
und Kleinteiligkeit erscheinen die nunmehr fertiggestellten Gebäude
mit ihren angeklebten Fassaden wie die überdimensionierten Ausstellungsmuster
von Fassadenherstellern auf einer Baufachmesse: Eine verwirrende Vielfalt
unterschiedlich gelblicher, rötlicher, gräulicher und grünlicher
Fassadenverkleidungen aus Granit, Sandstein, Travertin, Ziegel usw. bestimmen
das Bild. Parallel zu den Entwicklungen in der Innenstadt enstanden in
der Peripherie Berlins Schlafstädte auf der grünen Wiese. Exemplarisch
dafür ist die Siedlung Karow-Nord, Vorzeigeobjekt des ehemaligen
Senatsbaudirektors: Ausgangspunkt für die Planung dieses mit 5.100
Wohnungen für 15.000 Einwohner größten Wohnbauprojekts
in den neuen Bundesländern war ein starkes Bild für die
neue Vorstadt' (Stimmann), das mit Hilfe einer Gestaltungssatzung von
mehreren hundert Seiten Umfang festgelegt wurde. Insbesondere durch die
Form der Einfriedung, die Dachform, einen Sockel aus rotem Ziegelsichtmauerwerk,
stehende Fensterformate und Begrenzung der Fensterfläche auf maximal
50 Prozent sollte das Bild einer traditionellen Vorstadt festgeschrieben
werden. Völlig vernachlässigt wurden hingegen die Anbindung
an öffentliche Verkehrsmittel, die Nutzungsmischung sowie die Kostenreduzierung.
Bezeichnend ist, daß das Büro Moore, Ruble, Yudell, das den
Masterplan für Karow-Nord entwickelt hat, auch an den Planungen von
Celebration beteiligt war. Celebration ist eine von der Walt Disney Company
in den neunziger Jahren in Florida gegründete Siedlung, die nach
den Bildern des Hollywood-Kinos von einer fiktiven traditionellen'
amerikanischen Stadt erbaut wurde.
Ein anderer Umgang mit Geschichte
Während
die Berliner Baupolitik der neunziger Jahre die Simulation einer kontinuierlichen
Tradition mit Methoden der Themenparks verfolgte, hatte sich eine Reihe
von Architekten seit den siebziger Jahren mit der komplexen Geschichte
der Stadt befaßt. Neben einigen jüngeren Berlinern gehören
hierzu Rem Koolhaas, der seine Architekturkarriere mit einer Studie über
die Berliner Mauer als Architektur' ( The Berlin Wall as Architecture',
1972) begann, sowie Daniel Libeskind, der sich seit den späten achtziger
Jahren vorwiegend mit Berlin befaßt hat. Beide Architekten haben
in ihrer Auseinandersetzung mit Berlin eine Reihe von Themen entwickelt,
die nicht nur in ihrer eigenen Arbeit eine zentrale Stellung einnehmen,
sondern auch die internationale Architekturdebatte der achtziger und neunziger
Jahre wesentlich beeinflußten. Gleichwohl galt Rem Koolhaas spätestens
seit seiner Kritik an der offiziellen Baupolitik (1991) in Berlin als
eine persona non grata, während man Libeskind als Sonderling duldete
und ihm den Bau des Jüdischen Museums zugestand.
Die spezifische Eigenart Berlins in architektonisch-städtebaulicher
Hinsicht wurde erstmals 1977 in der Studie Stadt in der Stadt von Oswald
Matthias Ungers, Rem Koolhaas, Hans Kollhoff und anderen umrissen:
Die Unterschiedlichkeit und Vielfältigkeit, die sich in den historisch
gewachsenen Stadtteilen manifestiert, macht die Bedeutung Berlins und
die städtebauliche Qualität aus. Es ist eine Stadt, in der sich
gegensätzliche Elemente von jeher artikulieren und in der Versuche
der Vereinheitlichung unter einem einzigen Prinzip erfolglos blieben.'
Einige Jahre später haben Rem Koolhaas und sein Büro O.M.A.
mit ihren Entwürfen für die IBA aufgezeigt, wie dieses Spezifikum
Berlins in eine neue Art des Städtebaus überführt werden
kann. So entwickelt der Entwurf für die Südliche Friedrichstadt
die Heterogenität und Offenheit des vorgefundenen Ortes weiter und
bindet sie zugleich in ein kohärentes räumliches Gefüge.
Barocke Stadtfragmente, Mietskasernen des 19. Jahrhunderts, Elemente der
klassischen Moderne und Nachkriegsbebauung werden durch die Ergänzung
mit zwei weiteren Typologien - Hofhäuser und Wohnscheiben - zu einem
städtischen Gewebe verbunden. Rem Koolhaas stellte fest, daß
ein konzeptueller Rahmen notwendig ist, der die vorhandenen divergierenden
und gegensätzlichen Architekturen zueinander in Beziehung setzt und
eine Basis für neue Eingriffe bildet. Ein retroaktives Manifest,
das aus der existierenden Zufälligkeit einen Sinn entwickelt.'
In einer Reihe von Arbeiten verschiedenster Architekten wurde in analoger
Weise aus der Auseinandersetzung mit dem existierenden Berlin eine Reihe
von Themen entwickelt, die die Identität der Stadt konzeptuell fassen
und sie zugleich in zeitgenössische Architektur transformieren. Anhand
einiger exemplarischer Arbeiten möchte ich dieses andere Verständnis
von Berlin im folgenden beschreiben:
Leere
Das Berlin
der Nachkriegsära war von großen Brachflächen im Zentrum
der Stadt geprägt. NS-Regime, Kriegszerstörungen, Nachkriegsplanungen
sowie die Errichtung der Berliner Mauer hatten riesige Leerflächen
geschaffen, die einen neuartigen Stadtraum bildeten und einer Vielzahl
von temporären und spontanen Nutzungen Platz gaben. Rem Koolhaas
hatte das für ihn später so zentrale Thema der Leere bei seiner
Studie Die Berliner Mauer als Architektur' entdeckt. Er sah in ihnen
das Potential der Befreiung: Wo nichts ist, ist alles möglich.'
Im Gegensatz zu der funktionalen Festsetzung durch Architektur weisen
Leeräume die Qualität programmatischer Unbestimmtheit auf. Ende
der achtziger Jahre hat er dieses Thema in Projekten wie dem städtebaulichen
Entwurf für Melun-Sènart oder der Très Grande Bibliothèque
für Paris zu einem neuen Architektur- und Städtebaukonzept weiterentwickelt.
Außerhalb
von Berlin weniger bekannt sind die Arbeiten von Andreas Reidemeister,
der sich bereits 1982 dafür einsetzte, die durch die geplante Autobahntrasse
entstandene Stadtbrache in der Südlichen Friedrichstadt nicht wieder
durch Neubauten zu schließen, wie dies wenig später von der
IBA vollzogen wurde. Statt dessen schlug er vor, den durch Krieg und Abriß
geschaffenen Leerraum zu erhalten und architektonisch zu artikulieren.
Ein öffentlicher Grünraum sollte das Blockraster durchkreuzen
und durch einige begleitende Wohnbauten rhythmisiert werden. 1992 entwickelte
Reidemeister diesen Ansatz weiter und schlug vor, die Brachflächen
im Zentrum der Stadt - die ehemaligen Bahnanlagen, den Mauerstreifen und
die Uferzone der Spree - zu erhalten und durch Büro- und Wohnhochhäuser
an ihren Rändern städtebaulich zu artikulieren.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgte das holländische Architekturbüro
MVRDV mit ihrem nichtrealisierten Entwurf für die Bornholmer Straße,
der beim Europanwettbewerb 1991 mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde:
Das Gebäude ist als vertikaler Block konzipiert, der den Leerraum
des Mauerstreifens und der S-Bahn-Trasse gegenüber der Stadt markiert.
Der Ost-West orientierte Baukörper im ehemaligen Grenzbereich thematisiert
die unterschiedlichen Hälften der ehemals geteilten Stadt und macht
sie erfahrbar. Aus der Scheibe sind mehrere Leerräume herausgeschnitten,
die die gemeinschaftlichen und öffentlichen Programme aufnehmen und
zugleich die Leere architektonisch thematisieren. Die Masse des Gebäudevolumens
besteht aus einem dreidimensionalen Puzzle von Wohnungen unterschiedlicher
Kubatur, womit eine große räumliche und programmatische Vielfalt
innerhalb des Gebäudes entsteht.
Anders als die bisher erwähnten Arbeiten entwickelte Daniel Libeskind
das Thema der Leere. Für ihn charakterisiert die Leere Berlin nicht
nur physisch, sondern auch mental. Die zahlreichen kriegsbedingten Leerräume
im Zentrum wie am Postdamer Platz, dem Diplomatenviertel und dem Spreebogen
sind in seinen Augen sichtbare Zeichen für Verlust, Zerstörung
und Diskontinuität. Während Rem Koolhaas die räumlichen
und programmatischen Qualitäten dieser spezifischen Stadtlandschaft
faszinieren und inspirieren, versinnbildlichen sie für Libeskind
den Verlust des reichen jüdischen Erbes in Berlin, die gebrochene
Geschichte der Juden in Deutschland, der deutschen Juden und der Deutschen.
Eine Abwesenheit, die nicht gefüllt werden kann, ein Bruch, der nicht
zu heilen ist.' Bei seinem Entwurf für das Jüdische Museum transformierte
er die vorgefundene Leere zum strukturellen Zentrum des Gebäudes:
Eine fragmentierte und mehrfach unterbrochene Leere bildet das Rückgrat
des Museums. Das Gebäude ist um ein Zentrum aufgebaut, das abwesend
ist, eine Leere, die nicht betretbar ist und nicht gefüllt werden
kann. Das zweite zentrale Thema des Jüdischen Museums ist die Fragmentierung
und Heterogenität der Stadt. Die komplexe Form des Baukörpers
reagiert auf heterogene Elemente der Umgebung - barockes Stadtpalais,
Wohnhochhäuser der sechziger Jahre, Stadtvillen der Achtziger - und
bindet sie in ein räumliches Gefüge ein. Erst seine komplexe
Geometrie ermöglicht es, die Stadtfragmente miteinander in Beziehung
zu setzen und den Neubau in den heterogenen Kontext zu integrieren.
Fragmentierung und Heterogenität
O.M.A.'s
Entwürfe für die IBA sowie Daniel Libeskinds Entwurf für
das Jüdische Museum formulieren das Programm eines modernen Kontextualismus,
der nicht eine bestimmte Phase der Stadtgeschichte idealisiert, sondern
die Strukturen und Elemente der verschiedenen Epochen akzeptiert, die
Fragmente in ein Gesamtkonzept überführt, ihre Defizite durch
räumliche wie programmatische Erweiterungen beseitigt und die vorhandenen
Qualitäten verstärkt. Es wird weder der Status quo eingefroren
noch eine vergangene Epoche rekonstruiert, sondern mit zeitgenössischen
Mitteln das Vorhandene weiterentwickelt und mit Neuem bereichert.
Im städtischen Maßstab hat Libeskind dieses Konzept mit seinen
Wettbewerbsprojekten für den Alexanderplatz (1993, 2. Preis) weiterentwickelt:
Im Gegensatz zu dem mit dem ersten Preis ausgezeichneten Entwurf von Hans
Kollhoff schlug er vor, den existierenden Massenwohnungsbau der DDR zu
erhalten und um kommerzielle wie kulturelle Funktionen zu ergänzen.
Die neuen Baukörper nehmen Bezug auf die verschiedenen Ordnungsstrukturen
der Umgebung. Auf der Basis einer multiplen Ordnung wird das Bestehende
transformiert, weiterentwickelt und verdichtet.
Das Büro Lèon + Wohlhage verfolgt bei seiner Auseinandersetzung
mit dem fragmentierten Berliner Stadtraum ein Konzept mehrdeutiger Gebäude,
die in ihrer doppelten Lesbarkeit zwischen solitärem Objekt und Integration
in die städtische Textur changieren und damit eine Ambivalenz von
Autonomie und Unterordnung zum Ausdruck bringen. Exemplarisch hierfür
sind neben ihren Entwürfen für das World Trade Center Berlin
(1991-93) und das Bürohaus am Halensee (1990-96) das Wohnhaus in
der Schlesischen Straße (1992-94). Das Gebäude definiert einerseits
die Blockecke und ist zugleich ein Solitär, der den Blick auf die
umgebenden Brandwände freigibt und die den historischen Stadtgrundriß
negierende Nachkriegsbebauung in eine freie Ordnung integriert.
Auf einem analogen Konzept basiert auch der Entwurf von Sauerbruch/Hutton
für die GSW-Hauptverwaltung (1991-99) in der Kochstraße: Der
Neubau bindet das existierende Fünfziger-Jahre-Hochhaus der GSW in
den städtischen Kontext des barocken Stadtgrundrisses ein und stellt
zugleich Bezüge zu den übrigen Hochhäusern der Umgebung
her. Die Heterogenität der existierenden Stadt wird akzeptiert, durch
punktuelle Intervention in eine multiple Ordnung integriert und räumlich
strukturiert.
Großsiedlungen
Anders
als in den älteren Stadtteilen Berlins zeichnen sich die Großsiedlungen
im Osten der Stadt durch funktionale Monotonie und eine nur mangelhaft
artikulierte Räumlichkeit aus. Doch aufgrund der schon rein quantitativ
überwältigenden Präsenz der Plattenbauten scheidet auch
hier eine Neustrukturierung auf Basis von Ergänzungsbauten aus. So
basiert die Studie für die Falkenberger Chaussee in Hohenschönhausen
von Irene Keil und Jörg Pampe auf der Idee eines modernen Kontextualismus,
der das Vorhandene akzeptiert und ihm zugleich durch eine Transformation
neue Qualitäten verleiht. Durch eine Sequenz freistehender, straßenbegleitender
Baukörper wird die spezifische Räumlichkeit des DDR-Städtebaus
kompositorisch überhöht, rhythmisiert und verdichtet, womit
der Straßenraum zugleich räumlich gefaßt wird.
Ein anderer Ansatzpunkt bot sich den Amsterdamer Landschaftsarchitekten
B+B bei ihrem Wettbewerbsentwurf für den Hellersdorfer Graben (1994),
der mit dem ersten Preis ausgezeichnet wurde: Die existierende künstliche
Topographie wurde genutzt, um die Koexistenz von intensiv genutztem Park
und unberührtem Naturraum zu ermöglichen. Der heute als offene
U-Bahn-Trasse genutzte ehemalige Entwässerungsgraben wird weiter
vertieft und durch Initialpflanzungen zu einem sich selbst regulierenden
Waldbiotop entwickelt, der als grüner Fluß den ganzen Stadtteil
durchzieht und ihn mit dem Umland verbindet. Eine Reihe von topographischen
Inseln auf dem Höhenniveau der umgebenden Stadtteile bildet eine
intensiv genutzte Parkschicht, die mit diesen durch Brücken verbunden
ist.
Multiplizität
Auf der
Ebene der Gesamtstadt hatte der Berliner Architekt Christoph Langhof mit
dem Projekt Delta-Stadt' (1991) ein Konzept entwickelt, das aus
dem Berliner Spezifikum der Duplizität eine neue Qualität entwickelt:
Statt die zwei Stadthälften Ost- und West-Berlins in einer Wiedervereinigung'
zu verschmelzen, schlägt er die Gründung einer dritten Stadt
im Südraum von Berlin vor, welche die dort vorhandene Infrastruktur
(Flughafen, ICE-Trasse, Autobahn) nutzt und zugleich als Bindeglied zwischen
Ost und West dient. Die Parellelität der drei Städte fördert
den Wettbewerb innerhalb der Metropole, verstärkt die Polyzentralität
und erlaubt eine experimentelle und offene Stadtentwicklung, die durch
Steuererleichterungen und eine vereinfachte Verwaltung gefördert
werden soll.
Temporär
Ein weiteres
zentrales Berliner Thema ist die temporäre, spontane, oft illegale
Nutzung von Stadtbrachen oder leerstehenden Bauten. Berlin hat in diesem
Jahrhundert den Untergang von vier deutschen Staaten erlebt. Die Zeiten
des Umbruchs, die Zerstörungen des Krieges, die schwache Ökonomie
und ungeklärte Rechtsverhältnisse führten immer wieder
zu spontanen Aneignungen und Aktivitäten, die sich durch geringe
finanzielle Mittel und hohe Kreativität auszeichneten. Diese Aktivitäten
sind instabil und transitorisch und reagieren äußerst flexibel
auf eine Veränderung der Rahmenbedingungen. Sie haben die spezifische
Urbanität von Berlin mitgeprägt. Charakteristisch dafür
sind die Hausbesetzerszene und Polenmärkte ebenso wie die nach der
Wende entstandene Club- und Barszene in Berlin-Mitte.
Ein legendäres Beispiel hierfür ist der WMF-Club, dessen abwechslungsreiche
Geschichte durch die temporäre Nutzung einer Reihe von zentralen
und zugleich sehr spezifischen Orten der Berliner Geschichte geprägt
ist. Der Club wurde 1990/91 mit der Besetzung von Räumen der ehemaligen
Hauptverwaltung der Württembergischen Metallwarenfabrik in der Leipziger
Straße gegründet. Nach der Vertreibung durch den Eigentümer
legten die Initiatoren ohne Genehmigung das geflutete Pissoir des ehemaligen
Kaufhauses Wertheim am Potsdamer Platz trocken, um dort für ein dreiviertel
Jahr den Club zu betreiben. Darauf folgte eine legalisierte Interimsnutzung
in der Burgstraße, deren Räumlichkeiten der Künstler Fred
Rubin gestaltete. Die von ihm aus dem Palast der Republik demontierte
und transformierte Bowling-Bar wurde dort in neuem Kontext installiert.
Bei dem neuerlichen Umzug des WMF in das ehemalige Gästehaus des
Ministerrats der DDR in der Johannisstraße wurde das Konzept weiterentwickelt
und das Interieur mit Versatzstücken aus dem ehemaligen Ministerium
für Auswärtige Angelegenheiten und dem ehemaligen Zentralkomitee
der SED gestaltet, wie z.B. dem Arbeitszimmer von Erich Honecker aus weißem
Leder.
Ein weiteres aktuelles Beispiel für die temporäre Nutzung eines
charakteristischen Ortes ist die Kunsthalle in der Chausseestraße,
bei der ein ehemaliger DDR-Supermarkt für Ausstellungszwecke umfunktioniert
wurde.
Wie die beschriebenen Beispiele zeigen, sind in den letzten Jahren abseits
des offiziellen Architekturdiskurses eine Reihe von Projekten entstanden,
die sich mit der sehr spezifischen Geschichte Berlins befassen und aus
dieser Arbeit eine zeitgenössische Architektur entwickeln. Die zentralen
Themen der Stadt wie Leere, Fragmentierung, Heterogenität, Multiplizität,
Temporalität, Formlosigkeit und Subversion weisen ein hohes Innovationspotential
auf. Es bleibt zu hoffen, daß die Stadt trotz aller restaurativen
Tendenzen und dem ökonomischen Verwertungsdruck sich nicht völlig
normalisiert, sondern ihre spezifische Identität behält und
aus ihr ein zukunftsweisendes Potential entwickelt.
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