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Die fortschreitende Entschlüsselung der Konstruktionsprinzipien
des Lebendigen macht es dem Menschen möglich, in den Bauplan von
Lebewesen gezielt einzugreifen, vorhandene Lebewesen nach eigenen Vorstellungen
zu verändern und - zumindest theoretisch - neue Lebewesen zu konzipieren.
Gleichzeitig erhalten technische Konstruktionen des Menschen zunehmend
Eigenschaften, die bisher dem Lebendigen vorbehalten waren. Dazu gehören
Selbstreperatur, Selbststeuerung, Lernfähigkeit, Selbstreproduktion
und künstliche Evolution. Durch diese Entwicklungen verschwimmen
die Grenzen zwischen 'Natürlichem' und 'Künstlichem'. Beide
Sphären beginnen sich zu durchdringen und miteinander zu verschmelzen
(was nicht heißt, daß sich zugleich jegliche Widersprüche
auflösen oder Probleme vermindert würden). Natur ist heute
meist nicht mehr etwas Gegebenes, sondern etwas Gemachtes.
Dieser kulturelle Prozeß bildet den Hintergrund, vor dem 'Natur'
in der zeitgenössischen Architektur auf neue Weise thematisiert wird
- wie in den Arbeiten von Jean Nouvel, Francis Soler, Francois & Lewis,
O.M.A., MVRDV und Herzog & deMeuron. In einer Vielzahl von Projekten
der letzten Jahre ist 'Natur' ein konstituierendes Element. Es kommt zu
einer Verschmelzung von Naturelementen und Architektur, der keine nostalgische
Haltung eines 'Zurück zur Natur', sondern vielmehr ein radikal modernes
Verständis zugrundeliegt.
Natur wird als gleichermaßen künstliches wie künstlerisches
Element verstanden. Diese Ideen und erste Entwürfe dazu entstanden
in der frühen Postmoderne. Exemplarisch dafür ist das Projekt
No-Stop-City von Archizoom Associati von 1970: In einem endlosen, künstlich
klimatisierten Innenraum befinden sich zeltende Camper zwischen Felsbrocken.
Ein analoges Konzept für den Außenraum verfolgten Haus Rucker
& Co mit ihrem Projekt für die Braunschweiger Innenstadt: Sie
sahen vor, in den öffentlichen Raum der Stadt Rekonstruktionen von
Bergen und Bergspitzen zu implantieren, die mit Seilen am Boden festgezurrt
sind: 'Die Berge als Inbegriff des Ewigen und Unverrückbaren waren
beweglich geworden und die vermeintlich wegräumbaren Baulichkeiten
in die Rolle der Berge getreten. Stürzen Berge, so stürzt auch
die Wahrnehmung, die sie als Fixpunkte einer dauerhaften Ordnung hatte.'
[ 1 ]
Bereits in der Nachkriegsmoderne Kaliforniens gab es frühe Beispiele
für die Integration von Naturelementen in das Innere des Gebäudes.
Am radikalsten ist das eigene Wohnhaus von Albert Frey aus den Jahren
1963/64. Ein großer Felsbrocken bildet das Zentrum des Gebäudes:
Er liegt im Schnittpunkt von Schlaf-, Wohn - und Eßbereich; zugleich
durchdringt er die Fassade und verbindet somit Innen und Außen.[ 2 ]
Basierend auf einem radikalen Gebrauchsdenken, dem experimentellen Umgang
mit Technologie und der Idee des fließenden Raums wurden hier eine
Vielzahl tradierter Architekturkategorien überwunden, doch die Idee
von Natur blieb gleichwohl konventionell: Sie galt als etwas Gegebenes,
das vorgefunden wurde und in die Arbeit integriert wird.
Dekontextualisierung
Demgegenüber
thematisieren die heutigen Arbeiten die Künstlichkeit von Natur und
damit die Möglichkeit, Natur manipulieren, transformieren und an
jeglichem Ort reproduzieren zu können. Die Reproduzierbarkeit ermöglicht
es unter anderem, daß Natur und Vegetation - ursprünglich ebenso
wie die Architektur an den Erdboden gebunden - sich von diesem emanzipieren
und Autonomie gewinnen. Le Corbusier verfolgte diesen Ansatz bereits bei
seiner Idee des Dachgartens,[ 3 ]
wobei er das Dach noch als eine Reproduktion des ursprünglichen Grundstücks
ansah. Eine Reihe von Architekturphantasien setzen das Potential der Reproduktion
und Vervielfältigung von Natur konsequent um. So schildert Rem Koolhaas
in seinem Buch 'Delirious New York' einen Entwurf von 1907, bei dem ein
ganzes Hochaus lediglich aus der Stapelung von Gärten mit Landhäusern
besteht. [ 4 ]
Die gleiche Idee verfolgten auch SITE mit 'Highrise of Homes' (1981),
Gaetano Pesce mit einem Projekt für einen Zwillingturms
in San Paolo (1987-89), West 8 mit dem Projekt eines 'Vertikalen Parks'
für das Seagram Building (1996) und MVRDV mit ihrem Niederländischen
Pavillon für die Expo 2000 in Hannover, wobei letzteres das erste
Projekt dieser Art sein dürfte, das auch ausgeführt werden soll.
Der Pavillon besteht aus einer Stapelung niederländischer Landschaften,
die von 'natürlich' (Meer, Wald) bis vollkommen 'synthetisch' (Tomatenplantage,
Multi-Media-Kino) reichen.
In letzter Konsequenz führt die Autonomie der Vegetation vom Boden
auch zur Infragestellung der Horizontalität von Vegetation und Landschaft.
Der französische Botaniker Patrick Blanc, der auch als Berater bei
Jean Nouvels französischer Botschaft für Berlin mitgearbeitet
hat, entwickelte in den letzten Jahren ein System für senkrechte
Gärten - von ihm 'vegetal walls' genannt -, bei dem Pflanzen ohne
Bodensubstrat, lediglich durch eine zirkulierende Nährflüssigkeit
versorgt, auf senkrechten Flächen wachsen. Diese vorfabrizierbaren
und transportablen 'Wände' können in jeder Neigung angebracht
werden - selbst über Kopf. Eine ähnliche Idee verfolgte O.M.A.
bei dem Projekt für die Modernisierung des Kaufhauses Breuninger
in Stuttgart: Eine der Fassaden soll als ein vertikaler, begehbarer Park
ausgebildet werden. Die Idee des Gartens oder Parks löst sich völlig
von einer Vorstellung von 'Boden' und ebenso scheint Gravitation keine
Rolle mehr zu spielen. Vegetation wird zu einem 'Material', das dekontextualisiert
und in verfremdeter Weise in der Architektur eingesetzt wird.
Andere Natursubstanzen wie Gestein und tote Pflanzenteile werden von de
Architekten Herzog & deMeuron und Francois & Lewis verwendet.
Herausgelöst aus seinem ursprünglichen Kontext soll das unbearbeitete
Naturmaterial in neuer Weise wahrgenommen werden. Konventionelle Wahrnehmungsmuster
werden in Frage gestellt und neue Qualitäten als Möglichkeiten
des Materials entdeckt. Exemplarisch dafür ist Herzog & de Meurons
Dominus Weingut im Nappa Valley (1995/97): Die Wände sind aus Drahtkörben
gebildet, die mit Geröll in unterschiedlicher Dichte gefüllt
sind. Trotz ihrer Schwere sind diese Wände transparent und lassen
Licht in das Innere. Bei dem Projekt für die Renovierung eines Bürogebäudes
in Rouen (1995) von Francois & Lewis werden in den Zwischenraum der
Doppelverglasung Kiefernnadeln aus dem umgebenden Kieferwald geschüttet.
Bei diesen
Projekten wird Material vor allem in Hinblick auf seine visuelle Erscheinung
und Wahrnehmung eingesetzt. Dabei spielt es keine Rolle, ob es natürlich
oder künstlich ist. So haben Herzog & de Meuron industrielle
Produkte in gleicher Weise eingesetzt - man denke an die Kupferbänder
des Stellwerks in Basel oder die Gußeisenelemente für das Wohnhaus
Schützenstraße in Basel. Charakteristisch ist vielmehr, daß
ein vorhandenes Material aufgegriffen und in einem neuen Kontext verwendet
wird, wobei es neue Qualitäten gewinnt. Natur verkörpert hier
kein Ideal, sondern eine Gegebenheit wie auch die technische Zivilisation.
Es ist vollkommen gleichgültig und zuweilen unentscheidbar, ob das
Material natürlich oder künstlich ist. Die einzige Differenz
mag darin bestehen, das die 'natürlichen' Materialien zumeist ein
anderes Vokabular in Hinsicht auf Taktilität, Form und Geruch bilden.
Intensivierung
Während
die zuletzt genannten Beispiele das Potential von Naturmaterial vor allem
in neuartigen Plazierungen (und Kontexten) ästhetisch erkunden, eröffnet
die konzeptionelle Einbeziehung von Natur in Architektur ein weites
Feld von Möglichkeiten. So lag MVRDVs Projekt für den niederländischen
Pavillon die Frage zugrunde, auf welche Weise Natur komprimiert werden,
und wie ihre Gebrauchs- und Erlebnisqualität intensiviert werden
kann. Das Büro entwickelte dieses Thema in mehrerer Weise:
1. Das
Gebäude besteht aus einer Stapelung völlig unterschiedlicher
Landschaften. Diese Heterogenität wird durch die Veränderbarkeit
einiger Landschaften maximiert. Durch ihre Unabhängigkeit vom 'Boden'
sind die 'Regenetage' und das Stockwerk mit der Tomatenplantage mobil
und können jederzeit neu konfiguriert werden.
2. Die
Landschaftselemente haben nicht nur gestalterische Aufgaben, sondern sind
zugleich funktional eingebunden: Pflanzen gewinnen Biomasse als Treibstoff,
Pflanzen erzeugen Lebensmittel, Pflanzen reinigen Wasser. In ihrer Gesamtheit
bilden die verschiedenen Biotope ein künstliches Ökosystem.
Sie sind in einen Wasser- und Energiekreislauf integriert und werden damit
zur Haustechnik des Gebäudes.
3. Programm
und Landschaft werden miteinander fusioniert: Das Wassergeschoß
dient der Filmvorführung, die Waldetage wird für Büros
und Ausstellungszwecke genutzt und in der Gemüseplantage befinden
sich Konferenz- und VIP-Räume.
Bereits
bei dem Bürogebäude VPRO in Hilversum verknüpfte MVRDV
Landschaft und Programm: Der Dachgarten ist Teil der Bürolandschaft,
hier gibt es eine Stromversorgung und Anschlüsse ans Computernetzwerk
und die Telekommunikation. Die Landschaft wird zum 'setting' für
verscheidenste Programme wie Büros, Bibliothek, Konferenzraum etc.,
die gewöhnlich nur im Innenraum unter Ausschluß von 'Natur'
existieren.
Eine analoge Verdichtung von Landschaft sowie ihre Fusion mit Programm
hat sich in der Freizeitindustrie mit den 'Center Parcs' ausgebildet.
Bei diesem neuen Gebäudetypus für den Kurzurlaub unter Glas
finden sich auf kleinstem Raum eine Vielzahl künstlicher Landschaften:
Dschungel, Felsen, Wildwasserbahn, Kletterwand, Bambuswald, Skipiste,
Meer mit Sandstrand und Palmen, Lagunen und Korallenriffs.[ 5 ] Zur Intensivierung des Erlebnisses sind
in diese 'Natur' Attraktionen wie Riesenrutschen, finnische Sauna, türkisches
Dampfbad, Rebirthing, Kräuterbad, Whirlpools und Beauty Center
integriert. Die Landschaft ist komprimiert und intensiviert. Center Parcs
scheinen damit der äußeren Natur überlegen zu sein. So
heißt es in einem Pressebericht: 'So viel Spaß wie bei Center
Parcs können Sie Ihren Kindern im heimischen Wald niemals bieten.'[
6 ] An die Stelle von Authenzität und Ursprünglichkeit tritt
der Wunsch nach maximaler Erlebnisintensität.
Verschwinden von Authenzität
Künstliche
Natur ist überall verfügbar, wetterunabhängig, komfortabel
und sicher. So wurden in den letzten Jahrzehnten eine Unzahl von Wellenbädern,
Indoor-Skipisten und Kletterhallen errichtet, um eine von Standort und
Jahreszeit unabhängige Ausübung landschaftbezogener Sportarten
zu ermöglichen. Die künstlichen Landschaften sind nicht nur
sicherer und komfortabler als ihre natürlichen Vorbilder. Sie sind
auch veränderbar: So kann z.B. in Kletterhallen die Neigung der Wänden
(und damit der Schwierigkeitsgrad) hydraulisch variiert werden und durch
die Veränderung der Paneelkonfiguration eine Vielzahl unterschiedlicher
Kletterrouten auf kleinstem Raum generiert werden (ganz analog zu den
Rekonfigurationsmöglichkeiten der Etagen im niederländischen
Pavillon).
Künstlichen Landschaften sind aufgrund ihrer guten Erreichbarkeit
sowie ihres maximierten Gebrauchswerts zu sozialen Orten geworden, wo
sich insbesondere Jugendliche treffen. Im deutschprachigen Raum gibt es
bereits ca. 500 Kletterhallen, die nicht mehr nur zur Vorbereitung des
Kletterns in den Bergen aufgesucht werden, sondern zu einem eigenständigen
Freizeitprogramm geworden sind.
In der Tourismusforschung hat man festgestellt, daß sich die Erwartungshaltung
der Konsumenten verändert und sich ein neuer Typus des Touristen
entwickelt hat. Der sogenannte 'Post-Tourist' 'weiß, daß Tourismus
ein Spiel oder eine Serie von Spielen ist, in dem es keine Authenzitätsvorgaben
gibt. Der Post-Tourist ist selbstbewußter Teilnehmer an diesem Spiel
(....). Er hat die Naivität des nach authentischer Erfahrung suchenden
Touristen abgelegt, der enttäuscht ist, wenn er Inauthenzität
vorfindet. Las Vegas, Disney World oder die postmoderne Shopping Mall
werden den nach Authenzität fahndenden Touristen enttäuschen,
während sie für den Post-Touristen höchst attraktiv sein
können.'[ 7 ]
Das Verschwinden der Authenzität hat auch der Ausstellungsmacher
Jeffrey Deitch anläßlich einer Ausstellung über 'Artificial
Nature' thematisiert : 'Wahrheit ist heute obsolet geworden. Über
Jahrhunderte hinweg - in Kunst, Philosophie, Poesie - war die Suche nach
'Wahrheit' essentiel, sowohl moralisch wie ästhetisch. (...) Heute,
wo sich die Naturwissenschaften der Erschaffung künstlichen Lebens
widmen, und Computer virtuelle Realitäten erzeugen, wo es mehr um
Image als um Substanz geht und wo alles vermarktet wird - vom Automobil
bis zum Politiker - , ist die Suche nach Wahrheit vielleicht obsolet geworden.
Es gibt keine absolute Realität mehr, aber die Möglichkeit von
multiplen Realitäten, jede von diesen so 'real' oder künstlich
wie die anderen. Es gibt nicht mehr die absolute Wahrheit der Natur. Das
Ende der Moderne trifft nicht nur zusammen mit dem Ende der 'Natur', sondern
auch mit dem Ende der Wahrheit.'[ 8 ]
Diese Entwicklung hat dazu geführt, daß in einer Reihe von
architektonischen Projekten die Künstlichkeit von Natur nicht verschleiert,
sondern bewußt thematisiert wird. So immitierte O.M.A. Natursteinmauerwerk
mit schwarz gefärbtem Beton bei der Congexpo in Lille sowie dem Wohnungsbau
in Fukuoka. Bei Herzog & deMeurons Projekten der Spitalapotheke in
Basel sowie der Tate Gallery in London werden Teile der Fassade bzw. Vordächer
aus einem Gemisch von Plastikpflanzen und lebenden Pflanzen gebildet.
Analog zum 'tissue engineering' bildet dabei das Kunststoffefeu das Stützgewebe
für die Efeupflanzen. Bei MVRDVS Bürogebäude RVU in Hilversum
sind einige der Lavasteine des Steingartens aus Kunststoff gegossen, von
innen beleuchtet und scheinen somit vor Hitze zu glühen.
Diese bewußten Artikulationen von Nichtauthenzität gehen über
ein postmodern-ironisches Spiel mit Imitation und Fälschung hinaus.
Es kommt zu einer Fusion von Natur und Künstlichkeit.
Hybridisierung
Natur und
Technik werden heute nicht mehr als Gegensätze aufgefaßt. In
Science Fictions gibt es bereits seit Jahrzehnten mit der Figur des Cyborgs
die Idee einer Synthese von Natur und Technik. In der Medizin hat sich
die schon seit Jahrhunderten verfolgte Substitution von Körperfunktionen
durch technische Hilfsmittel (Prothesen, Pharmazeutika) in den letzten
Jahren rasant weiterentwickelt. Inzwischen werden nicht nur ganze Organe
durch mechanische Apparate, wie das künstliche Herz, nachgebildet.
Es wurden bereits erste elektronische Bauteile wie das künstliche
Ohr erfolgreich in das menschliche Nervensystem integriert.[
9 ] Auch in anderen Gebieten vollzieht sich eine Synthese von Natur
und Technik. Die in den 70er Jahren enstandene 'Industrielle Ökologie'
verfolgt das Ziel, die vom Menschen generierten Stoff- und Energieströme
in die natürlichen Kreisläufe einzufügen. Dabei geht es
nicht um eine möglichst naturnahe Produktion, sondern um die Idee,
technische Zivilisation und Natur in ein Gesamtsystem zu integrieren.
[ 10 ]
Diese Fusion von Biologie und Technik beschreibt der Amerikaner Kevin
Kelly in seinem Buch 'Out of Control': 'Die Sphäre des Geborenen
- alles, was Natur ist - und die Späre des Gemachten - alles was
vom Menschen konstruiert ist - werden eins. Maschinen werden biologisch
und das Biologische wird zur technischen Konstruktion."[
11 ]
Bei der Einführung von Natürlichem in die Architektur kommt
es zu einer wechselseitigen Durchdringung und Verschmelzung der beiden
Bereiche; die Gegensätze von Stadt und Landschaft, von Architektur
und Natur lösen sich auf. So verstehen auch Jacques Herzog und Pierre
deMeuron ihre Arbeit mit Natur: 'Wir sehen künstliche und natürliche
Prozesse als eine Einheit, als ein Kontinuum. Wir glauben nicht mehr,
daß Natur und Gesellschaft, Natur und Stadt dialektisch gegenüberstehen.'[ 12 ] Und weiter heißt es: 'Wir glauben,
daß Architektur mit dem Leben verschmelzen sollte, das Künstliche
mit dem Natürlichen, das Mechanischen mit dem Biologischen.' Ihre
Absicht ist es daher, in der architektonischen Forschung 'Techniken zu
entdecken oder zu erfinden, um Architektur lebendig zu machen (...), um
die künstlichen und natürlichen Prozesse in unserem Leben zusammenzubringen
und miteinander zu verschmelzen.' [
13 ] So entwickeln Herzog & deMeuron Pflanzenvorhänge für
die Projekte der Hypo-Passagen in München und dem neuen Bürogebäude
für Ricola in Laufen. Die Pflanzenschleier definieren Räume.
Der architektonische Raum entsteht gleichermaßen aus pflanzlichen
Elementen wie klassischen architektonischen Mitteln (wie z.B. massive
Wände und Decken). Der ehemalige Gegensatz von Totem und Lebendigen,
Technischen wie Natürlichem löst sich in dieser völligen
Synthese auf.
Verlandschaftlichung
Die Fusion
von Landschaft und Architektur erfolgt in der zeitgenössischen Architektur
auf vielfältige Weise. Neben dem unmittelbaren Einbeziehen organischer
und lebendiger 'Materialien' gibt es seit einigen Jahren eine Tendenz
zur Verlandschaftlichung von Gebäuden, wie sie sich in den Arbeiten
von O.M.A. (Projekte wie Kongreßzentrum Agadir 1990, Bibliotheken
Jussieu 1993), MVRDV (z.B. Sloterparkbad Amsterdam 1994 und das bereits
erwähnte Bürogebäude VPRO 1993-97), FOA (Fährterminal
Yokohama 1994) Peter Kulka/Ulrich Königs (Sportstadium Chemnitz 1995)
oder Enric Miralles (Eurythmiezentrum Alicante 1993/94) abzeichnet.[ 14 ] Intention dabei ist es, die für Landschaft charakteristische
Qualität eines kontinuierlichen und zugleich in sich heterogenen
Raumes in Architektur umzusetzen. Durch Krümmung, Faltung und Verformung
der Bodenplatte entsteht ein kontinuierlicher Raum mit lokal differierenden
Qualitäten - wie in einer natürlichen Landschaft, die mit ihren
Hügeln und Tälern, mit Bewaldung und Wasser einen kontinuierlichen,
doch lokal äußerst unterschiedliche Raum bildet. Während
der fließende Raum der klassischen Moderne neutral und homogen gedacht
war, wird heute mittels künstlicher Topographie ein heterogenes Kontinuum
gebildet.
Exemplarisch dafür ist O.M.A.s Projekt für ein Kongreßzentrum
in Agadir, bei dem die Dünenlandschaft der umgebenden Wüste
mit architektonischen Mitteln im Gebäude fortgesetzt wird. Die topographisch
verformten Boden- und Deckenplatten des offenen Erdgeschoß' bilden
einen heterogenen Raum, der bruchlos in die Umgebung übergeht. Mendes
de Rocha hatte bereits für den brasilianischen Pavillon auf der Expo
in Osaka 1970 ein anaolges Konzept verfolgt und umgesetzt. Der Pavillon,
der eine Synthese von Natur und Artefakt verkörpern sollte, bestand
aus einem wellenförmigen Betonboden, der eine künstliche Topographie
bildete, mit einem darüberschwebenden Dach, das Schatten spendete.
So entstand ein Raum ohne definierte Grenzen, in dem innen und außen
ineinander fließen und der in sich vielfältig ist. Für
Rem Koolhaas besteht die Qualität eines solchen Raums darin, daß
"auf diese Weise programmatische Elemente in einer architektonischen
Landschaft ohne Umfassung oder konventionelle Definition frei positioniert
werden können.'[ 15 ]
Das Gebäude ist kaum mehr als ein Terrain, das zu besiedeln ist.
Durch seine topographische Ausbildung erhält das Terrain eine Vielfalt
unterschiedlicher Bereiche, die den Raum diversifizieren und 'settings'
für verschiedene Programme bilden. Die für 'Natur' typische
Abwesenheit von hermetischen Grenzen und Klassifizierungen sowie ihre
charakteristische Mannigfaltigkeit und Dynamik werden somit in die Architektur
übertragen.[ 16 ]
Inversion
Durch die
Verlandschaftlichung des Innenraums wird die klassische Vorstellung von
innen und außen unterlaufen. Noch deutlicher wird dies in Arbeiten
der 'Land Art', die Erdmaterialien in Innenräumen einsetzen, womit
es zu einer Inversion von Innen- und Außenraum kommt: Walter de
Marias verteilte für seinen 'Erdraum' von 1968 45 Kubikmeter frischer
Erde in den Räumen der Galerie Heiner Friedrich, München. Für
die Ausstellung 'Earth Art' an der Cornell University (1969) schüttete
Hans Haacke in einem Raum ein etwa ein Meter hohen Biotop auf, in das
er schnellwachsendes Gras säte. Günther Ueckers Installation
bestand aus eineinhalb Tonnen Sand, aus dem zwei Stahlplatten emporragten,
die - von einem nicht sichtbaren Motor angetrieben - langsam rotierten.[ 17 ]
All diese Arbeiten - ob es sich nun um Erde, Sand oder Gras handelt -
implantieren Landschaft, also Außenraum, in den Innenraum.
Auf noch komplexere Weise stellt der niederländische Pavillon von
MVRDV unser klassisches Verständnis von innen und außen in
Frage: Der Pavillon ist eine gestapelte Landschaft. Der Außenraum
wird zum Innenraum. Zugleich sind klassische Innenraumaktivitäten
- wie z.B. Bibliothek, Konferenzräume oder Büros - in die Landschaft
integriert: Innenraum wird zu Außenraum.
Die Naturelemente verweisen auf eine außerhalb des Gebäudes
liegende Realität. Sie stellen die Abgeschlossenheit und Vollständigkeit
des Raums in Frage, erweitern ihn nach außen. Der amerikanische
'land art'-Künstler Robert Smithson hat diese Idee in seiner Konzeption
von Sites/ Non-Sites Ende der 60er Jahre entwickelt: 'Site' ist für
Smithson ein vorhandener Freiraum, eine weiträumige Landschaft, während
'Non-Site' eine künstlerische Darstellung, Repräsentation oder
Kartierung eines solchen 'Site' in einer Galerie oder einem Museum
meint.[ 18 ] Die in den 'Sites' vorgefundenen Materialien
wurden von Smithson seit 1968 in einer Reihe von 'Non-Sites' organisiert.
Dabei werden die unbearbeiteten Naturmaterialien wie z.B. Stein oder Sand
in den Ausstellungsräumen aufgeschüttet oder in offene Behälter
gefüllt. Sie verweisen damit auf einen außerhalb des Raumes
liegenden anderen Raum. Diese Sites-Nonsites können vielleicht im
Sinne von Michel Foucault als 'Heterotopie' gelesen werden, als (im Gegensatz
zu Utopien) reale Räume, die dennoch den kulturellen Setzungen widersprechen:
'... wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet
sind, sozusagen Gegenplazierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte
Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig
repräsentiert, bestritten und gewendet sind...'.[
19 ]
Formlosigkeit
Die Fusion
von Architektur und Natur - sei es durch Einbeziehen von Material aus
der Natur, sei es durch die Übersetzung landschaftlicher Qualitäten
in Architektur - markiert die Abwendung vom mechanischen Zeitalter, das
die Architektur der klassischen Moderne geprägt hat. Diese Abkehr
von der Architektur einer 'Neuen Sachlichkeit' geht weit über die
Gegenentwürfe einer organischen Architektur (wie F.L.Wright, Hugo
Häring oder Hans Scharoun) oder einer dekonstruktivistischen Architektur
(wie Daniel Libeskind oder Peter Eisenman) hinaus: Die Einführung
von Natur stellt nicht nur das Exakte, Rechtwinklige, Standardisierte
und Homogene in Frage, sondern ebenso das Hygienische, Harte, Glatte,
Feste und Konstruierte. Sie entdeckt das Amorphe, Weiche, Feuchte, Lebendige,
Unberechenbare, Dreckige, Rauhe und Formlose für die Architektur.
Es kommt
zu einer Ausweitung des programmatischen, thematischen wie formalen Kanons,
der heute ebenso durch technische Konstruktionen - man denke nur an 'Artificial
Life', fraktale Geometrien oder Smart Materials - wie durch 'natürliche'
Substanzen realisiert werden kann.
Bereits in der Architektur des Barocks und Manierismus wurde ein etablierter
Kanon durch die Einführung von Naturelementen aufgebrochen, wie z.B.
bei der Fontana di Trevi in Rom mit ihren Felsbrocken oder den Wucherung
des Dekors im spanisch-lateinamerikanischen Barock.[
20 ] Damals wie heute vollzieht sich in der Architektur eine antiklassische
Wendung, eine Infragestellung des Ewigen und Absoluten, der Abgrenzung
und Kontrolle.
Ähnliche Entwicklungen lassen sich auch in der zeitgenössischen
Kunst feststellen, wie sie Rosalind Krauss und Yve-Alain Bois mit der
Ausstellung 'L'inform' am Centre Pompidou 1996 aufgezeigt haben. Ausgehend
von Georges Batailles Artikel 'L'inform' stellten sie Methoden der Deklassierung
und Entklassifizierung in der Kunst da. Im Katalog wird Batailles Idee
des Formlosen am anschaulichsten in einer Passage von Michel Leiris erläutert:
'Ausgehend von der Tatsache, daß Sprache und Speichel die identische
Quelle haben (das Organ Mund), kann jeder philosophische Diskurs legitimer
Weise mit dem Bild des spuckenden Redners vorgestellt werden. Spucke ist
durch ihre Inkonsistenz, ihre unbestimmte Kontur, die relative Ungenauigkeit
ihrer Farbe und ihrer Feuchtigkeit schlechthin das Symbol des Formlosen,
des Nicht-Beweisbaren, des Nichthierarchischen.'[
21 ] Spucke ist nicht nur in Hinsicht auf ihre Materialität eine
Metapher des Formlosen, sondern vor allem auch, weil sie sich der philosophischen
Rede entzieht, sich also nicht mit unseren überkommenen Begriffen
fassen läßt.
Die in der Ausstellung gezeigten Arbeiten wie Robert Rauschenbergs 'Dirt
Painting' (1953), Andy Warhols 'Oxidation Painting' (1978) oder Joseph
Beuyss 'Fettstuhl' (1964) zeichnen sich meist durch die Verwendung organischer
Materialien wie Erde, Pflanzen, verkohltes Holz, Öl, Vaseline, Milch,
Honig oder Seifenschaum aus. Noch charakteristischer ist jedoch, daß
die Werke nicht komponiert und konstruiert sind, sondern aus Prozessen
hervorgehen. Methoden des Verrührens, Auslaufens und Vermischens
werden ebenso eingesetzt wie Prozesse des Verwitterns, Verrostens, Schimmelns
und Verwesens. Die konkrete Form der Arbeiten entzieht sich der
Kontrolle des Künstlers und bei einigen Arbeiten gibt es nicht einmal
mehr ein Werk als fertiges, unveränderbares Objekt.
Arbeitsweisen
In der
heutigen Architektur gibt es verschiedene Ansätze, den Entwurf nicht
als Konstruktion aufzufassen, sondern ihn aus Prozessen zu entwickeln,
die Eigenschaften des Formlosen aufweisen bzw. Elemente des Formlosen
einbeziehen.[ 22 ] So basiert z.B. der Prozeß
der Faltung, wie er zur Generierung von Landschaftsgebäuden eingesetzt
wird, nicht auf präzisen Festsetzungen, sondern stellt ein Verfahren
dar, bei dem die Form aus einem flexiblen Reagieren auf lokale Besonderheiten
hervorgeht - sei es der Umgebung oder des Programms.
Bei anderen Arbeiten kommen Methoden des Ausschachtens, Aushöhlens
oder Ausgrabens zur Anwendung. So ist O.M.A.s H-Projekt (Center for Social
Studies & Research, Seoul, 1996/97) ein weitgehend unterirdischer
Bau, bei dem das Gebäude aus dem vorhandenen Felsen ausgeschnitten
wird, wobei der Fels zugleich das 'Finish' von Boden und Wänden bildet.
Jean Nouvels Museum in Salzburg (Wettbewerbsprojekt 1989) ist ein in einen
Berg gehauenes Labyrinth unterirdischer Gänge, wobei zumindest in
den Verbindungsgängen der Fels roh belassen wird und seine natürliche
Unebenheit Teil der Architektur wird.
Bereits zuvor wurden die Arbeiten von Herzog/deMeuron und Francois &
Lewis erwähnt, die auf der Schüttung rohbelassener Naturmaterialien
basieren. Die Methode des Schüttens ist hierbei wesentlich, um die
Formlosigkeit des Materials zu bewahren bzw. zu intensivieren.
In anderen Arbeiten werden Elemente des Formlosen als 'objets trouvés'
einbezogen. Während diese Projekte in ihrer Gesamtheit durchaus konstruiert
und komponiert sind, sind einige Teile in der Natur vorgefunden und werden
unverändert in das Gebäude integriert. Ihre spezifische Form
ist nicht entworfen, sondern geht aus Prozessen hervor, die sich der Kontrolle
des Architekten entziehen. Exemplarisch für ein solches Vorgehen
sind die roh belassenen Baumstämme, die die Stützen in der unteren
Ausstellungshalle der Rotterdamer Kunsthalle von O.M.A. bilden. Bei dem
zur Zeit in Bau befindlichen SNU-Museum in Seoul (1996-99) will O.M.A.
einen großen Findling als Stütze für das schwebende Ausstellungsgeschoß
verwenden. Die Integration solcher 'objets trouvés' oder
Readymades in die Architektur bricht die Homogenität des Gebäudes
auf. Die Objekte verweisen auf etwas Anderes, etwas außerhalb des
Gebäudes (und der Architektur). Die abgeschlossene Ganzheit des Projekts
wird zerstört.
Die aufgeführten Arbeitsweisen ermöglichen es, Naturelemente
in die Arbeit einzubeziehen und zugleich ihre Formlosigkeit zu bewahren.
Doch werden diese Prozesse nach wie vor vom Entwerfenden kontrolliert,
der damit auch die endgültige Erscheinungsform des Gebäudes
bestimmt. Einige der zuvor genannten künstlerischen Arbeiten und
Techniken - wie z.B. Andy Warhols Oxidation Painting oder Robert Smithons
Arbeiten mit Enthropie - sind in ihrem Ansatz radikaler, da sie Prozesse
in die Arbeit integrieren, die sich ihrer Kontrolle entziehen und diese
kontinuierlich verändern.
Einem solchen Konzept des Formlosen kommt die Arbeit von Herzog &
de Meuron mit Regenwasser am nächsten. Bei ihrem Fabrikgebäude
für Ricola in Mulhouse-Brunstatt (1992/93) ebenso wie bei dem Projekt
für die Kunstkiste in Bonn läuft das Regenwasser an Betonwänden
hinunter, wobei sich Moose und Flechten bilden und der Beton sich durch
die Verunreinigungen des Regenwassers braun verfärbt. 'Das herunterlaufende
Wasser bildet auf der Wand einen feinen pflanzlichen Film, eine Art natürlicher
Zeichnung.'[ 23 ] Jaques Herzog
erläuterte diese Idee in einem Interview: 'Ein oder zwei Tage nach
dem Regen läuft immer noch Wasser langsam die Fassade hinab, fast
wie in einem 24h Video von Douglas Gordon... Und wenn es trocknet, wird
es modrig, aber es ist noch schön.'[ 24 ] Bei dem Studio für Remy Zaugg in Mulhouse-Pfastatt
(Herzog & deMeuron 1995/1997) wird das Regenwasser auf der Dachfläche
gesammelt und ist durch die großen, horizontalen Oberlichter sichtbar.
Die Luftverunreinigungen von einer benachbarten Industrieanlage verfärben
das Wasser und damit auch das Oberlicht. Das Gebäude wird zu einem
Indikator der Umweltbedingungen.
Prozesse, die bisher als negativ angesehen wurden, weil sie die Reinheit
der Architektur (zer-)störten, werden hier zum Ausgangspunkt eines
Konzepts - sei es ein Bewuchs mit Algen und Moosen, die Ablagerung von
Industrieabgasen oder die Kondensation von Luftfeuchtigkeit, wie bei einem
Projekt des Berliner Architekten Jürgen Mayer Hermann. Dieser konzipierte
für ein privates Wohnhaus ein Kondensationsfenster, dessen Scheibe
bei der hohen Temperatur und Luftfeuchtigkeit des Innenraums häufig
beschlägt und damit einen Sichtschutz bildet, der im Inneren eine
Intimität erzeugt.[ 25 ]
Andere Arbeiten sehen eine Besiedlung des Gebäudes durch Pflanzen
oder Tiere vor. Jean Nouvels H-Projekt in Seoul (Museum und International
Community Center, 1996/ 97) wird von einer künstlichen Felslandschaft
gebildet, in deren mit Dränagen und Bodenbelüftung präparierten
Erdmulden sich über die Zeit die Pinienvegetation der umgebenden
Landschaft ausbreiten soll. Die Geröllwände des kalifornischen
Weinguts von Herzog & de Meuron bietet Vögeln und Insekten Nistplätze
und Unterschlupf und wird somit zu einer lebenden Wand, zu einem Biotop.
All diese
Projekte verändern sich durch natürliche Prozesse wie Ablagerung,
Bewuchs und Besiedlung, die sich einer unmittelbaren Kontrolle des Architekten
wie der Nutzer entziehen. Damit gewinnen diese Arbeiten eine Autonomie
gegenüber dem Autor, sie erlangen quasi ein Eigenleben.
Eine solche 'Lebendigkeit' eines Werkes ist heute nicht mehr auf die Einbeziehung
'natürlicher ' Prozesse angewiesen. Mit dem Aufkommen der Debatte
um 'Artifical Life' vollzieht sich in den Computerwissenschaften eine
Wende zu Artekfaten, die Qualitäten des Lebendigen wie Fortpflanzung,
Mutation, Evolution aufweisen.
Seit Ende der 80er Jahre experimentiert der ehemalige Zoologe Tom Ray
mit Computerprogrammen, die sich selbst fortpflanzen, mutieren und auch
absterben. Er setzte auf seinem Computer 'Kulturen' von Computerviren
an, die in einem evolutionären Prozeß selbstätig Formen
von Sexualität und Parasitentum hervorbrachten. Dieses Konzept will
er zu einer 'Digitalen Landwirtschaft' weiterentwickeln, um auf evolutionärem
Wege neue Computerprogramme zu 'züchten'.[
26 ] Seit den 60er Jahren verfolgen Wissenschaftler die Idee künstlicher
Evolution, aus der bereits erste kommerzielle Anwendungen wie z.B. lernfähige,
sich selbst optimierende Programme [
27 ] oder intelligente Softwareagenten[
28 ] hervorgegangen sind. Schon früh zeigte sich, daß gewisse
mathematische Probleme nicht durch lineare Berechnungen in angemessener
Zeit zu lösen sind, sondern eher durch die Generierung eines großen
Schwarms unterschiedlicher Lösungsmöglichkeiten, die getestet
und selektiert werden.
In der Computerwissenschaften vollzieht sich damit ein Paradigmenwechel
von linearen Kausalketten zu komplexen Strukturen, vom Konstruieren zur
selbsttätigen Evolution. Diese These liegt auch dem bereits erwähnten
Buch 'Out of Control' zu grunde, die dessen Autor Kevin Kelly folgendermaßen
zusammenfaßt: 'Die Welt des Gemachten wird bald wie die Welt des
Geborenen sein: autonom, anpassungsfähig und kreativ, aber konsequenter
Weise auch außerhalb unserer Kontrolle.'[
29 ]
Darüber, wie die Biotechnologien unser Dasein verändern, hat
der Philosoph Vilem Flusser bereits 1988 spekuliert: 'Sie ist die Kunst,
Lebendes künstlich zu machen, und Künstliches lebend zu machen.
Kunstwerke herzustellen, die sich erhalten und vermehren, und womöglich
weitere lebende Kunstwerke erzeugen. Eine ganz neue Welt von künstlichen
Lebewesen und lebenden Kunstwerken ist im Entstehen. (...). Es liegt im
Wesen der Sache, daß die Biotechnik in den 'Inhalt' und die 'Form'
des Lebens eingreifen wird, und daher ein Leben herstellen wird, von dem
wir uns bisher nicht träumen lassen. (...) Damit würde die Kunst
tatsächlich 'schöpferisch', nämlich lebensspendend werden,
und nicht nur metaphorisch.'[ 30 ]
Diese Entwicklung stellt unser Selbstverständnis radikal in Frage.
Sie erfordert - so Flusser - ein völliges Umdenken in der Politik,
der Ethik, der Wissenschaft und der Religion: 'Ich bin überzeugt,
daß wir alle Kategorien werden umdenken, wenn nicht aufzugeben haben.
Es geht dabei keinesfalls um einen Rückfall ins faschistoide biologische
Denken der blutigen jüngsten Vergangenheit, weil ja Biologie nicht
mehr als das unveränderliche Gegeben, sondern im Gegenteil als das
zu gestaltende Gesehen wird.'[ 31
]
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Fussnoten :
[ 1 ] Haus Rucker & Co, ????,
S. 132
[ 2 ] Joseph Rosa: Albert Frey,
Architekt. Zürich 1995, S. 119f.
[ 3 ] Le Corbusier, Oeuvre complète
1938-46, Zürich 1946, S.140f.
[ 4 ] Rem Koolhaas: Delirious New
York, New York 1994, S. 82ff
[ 5 ] Center Parcs Katalog 97/98
der Center Parcs GmbH, Köln
[ 6 ] Welt am Sonntag 25.6.96
[ 7 ] Heinz-Günter Vester: Authenzität, in: Heinz Hahn,
H. Jürgen Kagelmann (Hrsg.): Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie,
München 1993, S. 123f
[ 8 ] In: Artificial Natur. Katalog
zur gleichnahmigen Ausstellung. Deste Foundation for Contemporary Art,
Athen 1990
[ 9 ] FAZ, 6.1.1993, S. N4
[ 10 ] Kevin Kelly: Das Ende der
Kontrolle, Bollmann 1997, S: 249ff
[ 11 ] Kevin Kelly, a.a.O., S.7f
[ 12 ] Jacque Herzog/ deMeuron
im Gespräch mit Alejandro Zaera, El Croquis 60, 1994, S.8
[ 13 ] Jacques Herzog im Gespräch
mit Jeffrey Kipnis, El Croquis 84, 1997, S.11ff
[ 14 ]siehe auch Charles Jencks
Begriff der Landschaftsgebäude bzw. Architektur als artikulierte
Landschaft, in: Die Architektur des springenden Universums, Arch+ 141,
Aachen 1998, S. 103ff.
[ 15 ] Rem Koolhaas/ O.M.A.: Erläuterungstext
zum H-Projekt (Seoul), Conceptual Design Booklet, 1996. Der Innenraum
des H-Projekt ist in anaolger Weise als künstliche Topographie organisiert.
[ 16 ] Siehe auch den Begriff des Glatten Raums bei Gilles Deleuze,
Felix Guattari: Mille plateaux, Les Editions de Minuit, Paris 1980
[ 17 ] siehe Patrick Werner, Land
Art USA, München 1992
[ 18 ] Robert Smithson: The collected Writings, Berkeley/ London
1996, 100ff, 174 ff
[ 19 ] Michel Foucault: Andere
Räume, in: Aisthesis, Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen
Ästhetik, Leipzig 1990, S. 39
[ 20 ] siehe Arch+ 96/97, Aachen
1988, S. 64ff.
[ 21 ] in: Rosalind Krauss, Yve-Alain
Bois: L'inform (formless). A User's Guide. New York 1997, S. 18
[ 22 ] siehe Anna Klingmann, Philipp
Oswalt: Formlosigkeit, Arch+ 139/149, Aachen 1998
[ 23 ] Arch+ 129/130, 1995 S.
26ff
[ 24 ] Jacques Herzog im Gespräch
mit Jeffrey Kipnis, in: El Croquis 84, 1997, S.11
[ 25 ] siehe Daidalos Nr. 68,
Berlin 1998, S. 144
[ 26 ] Kevin Kelly, a.a.O., S.391ff,
Tom Ray: Evolution as Artist, in: C.Sommer, L.Mignonneau (Hrsg.): Art@Science,
Wien 1998, S. 81ff.
[ 27 ] z.B. das Tabellenkalkulationsprogramm
'Evolver' für den Macintosh. Siehe Kevin Kelly, a.a.O., S.401
[ 28 ] Pattie Maes: Agenten. Intelligente
Software, in: Schlüsseltechnologien, Spektrum der Wissenschaft Spezial
4, Heidelberg 1995, S. 38ff
[ 29 ] Kevin Kelly, a.a.O., S.
8ff
[ 30 ] Vilém Flusser: Leben
und Kunst (Für: 'Spuren'. Hamburg). Manuskript, Flusser Archiv, München.
[ 31 ] Vilém Flusser: Leben
und Leben lassen, Spuren Nr. 24, Juli/ August 1988, S. 19ff. |