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Der Mensch
sehnt sich nach Natur als dem Ursprünglichen und Unverfälschten.
Je mehr die Zivilisation voranschreitet, desto stärker prägt
sich diese Sehnsucht aus. Mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert
entwickelte sich die romantische Naturschwärmerei und in den letzten
Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde mit der Ökologiebewegung der
Ruf nach der Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen zu einem
allgemeinen gesellschaftlichen Konsens. Zugleich basieren die Ursprünge
menschlichen Handelns auf dem Wunsch, nicht mehr dem Zufallsspiel der
Natur ausgeliefert zu sein. Kultur geht aus der Überformung der Natur
hervor. Nicht von ungefähr spricht man vom 'Kultivieren' eines Ackerbodens.
Das deutsche Wort Kultur entstammt dem lateinischen Wort 'cultura', das
sowohl Landbau wie Pflege des Körpers und Geistes meint. Der Philosoph
Vilém Flusser beschreibt diesen Zusammenhang anhand der Geste des
Pflanzens: 'Pflanzen heißt, Löcher zu Graben, um die Natur
zu zwingen, widernatürlich (kulturell) zu werden. Die Grundeinstellung
der Geste des Pflanzens ist, das Unvorhergesehene notwendig zu machen.
Natürlich ist im Verlauf der letzten Jahrtausende das Pflanzen technischer
geworden, weil ja der theoretische Abstand dazu immer zunahm. Aber im
wesentlichen ist dies alles in der ursprünglichen neolithischen Geste
des Pflanzens enthalten, nämlich in dem Entschluß, die Natur
in ihrer eigenen Gesetzlichkeit gegen die Natur selbst zu wenden. Dank
der Geste des Pflanzens also lebt der Mensch seit dem Neolithikum in einer
künstlichen Welt.'[ 1 ]
Der Mensch
schafft sich eine eigene Welt, mit Gesetzen, die er selber bestimmen und
kontrollieren kann. In unserer Lebenswelt wird mehr und mehr 'Natur' durch
'Kultur' ersetzt. Aufgrund des Fortschreitens dieses Prozesses hat eine
Umkehrung stattgefunden: War früher die Kultur der Gegenentwurf zur
Natur und eine Befreiung des Menschen vom Zufallsspiel der Natur, so ist
heute die Idee der Natur der Gegenentwurf zur Kultur, eine Befreiung des
Menschen aus dem von ihm selbst geschaffenen Zwängen. Doch da Natur
nicht mehr etwas Gegebenes, sondern etwas Gemachtes ist, wird der vermeintliche
Ausbruch aus den Zwängen der Kultur zur Utopie. Das, was wir heute
gemeinhin 'Natur' nennen, ist größtenteils Kultur, ist vom
Menschen kontrolliert und konstruiert.
Agrar-
und Tourismusindustrie, Rohstoff- und Energiegewinnung, Flussregulierungen
und Infrastrukturen haben die Landschaften tiefgreifend überformt,
und zugleich sind auf Abbruchhalden und den Brachen der Großstädte
die artenreichsten Biotope entstanden. Während sich diese schon über
Jahrtausende andauernde Transformation weiter fortsetzt, stehen wir heute
an einem Epochenwechsel, der unser Verständnis von 'Kultur' und 'Natur'
grundlegend ändert. Maßgebend dafür sind zwei neue Schlüsseltechnologien:
die Biotechnologie und die neuere Entwicklung der Computertechnik unter
den Stichworten 'Künstliche Intelligenz' und 'Künstliche Evolution'.
Die fortschreitende
Entschlüsselung der Konstruktionsprinzipien des Lebendigen macht
es dem Menschen möglich, in den Bauplan von Lebewesen gezielt einzugreifen,
vorhandene Lebewesen nach eigenen Vorstellungen zu verändern und
- zumindest theoretisch - neue Lebewesen zu konzipieren. 1982 gelang es
erstmals, ein menschliches Hormon von gentechnisch manipulierten Bakterien
herstellen zu lassen; 1990 wurde erstmals ein schwerkranker Mensch durch
Eingriffe in seine Gensubstanz erfolgreich behandelt. Der genetische Code
des Menschen ist fast vollständig entschlüsselt. Die heutige
Biotechnologie ermöglicht es, durch mikrobische, tierische oder pflanzliche
Zellen eine Vielzahl von Substanzen zu gewinnen, herzustellen, zu transformieren
und abzubauen[ 2 ] . Mikroben gewinnen aus Erzvorkommen Rohstoffe wie Kupfer,
Zink oder Uran; Bakterien reinigen verseuchte Böden oder produzieren
biologisch abbaubare Kunststoffe. Gentechnisch manipulierte Pflanzen produzieren
Schmierstoffe für Maschinen oder auch menschliche Antikörper
und Impfstoffe.
Gleichzeitig
erhalten technische Konstruktionen des Menschen zunehmend Eigenschaften,
die bisher dem Lebendigen vorbehalten waren. Dazu gehören Selbstreparatur,
Selbststeuerung, Lernfähigkeit und Selbstreproduktion. Seit den sechziger
Jahren arbeiten Informatiker mit 'genetischen Algorithmen' und 'künstlicher
Evolution'. Seit Ende der achtziger Jahre experimentiert der ehemalige
Zoologe Tom Ray mit Computerprogrammen, die sich selbst fortpflanzen,
mutieren und auch absterben. Er setzte auf seinem Computer 'Kulturen'
von Computerviren an, die in einem evolutionären Prozess selbsttätig
Formen von Sexualität und Parasitentum hervorbrachten. Ray verfolgt
die Idee einer 'Digitalen Landwirtschaft', um auf evolutionärem Wege
neue Computerprogramme zu 'züchten'.[ 3 ] In den Computerwissenschaften vollzieht sich somit ein
Paradigmenwechel von linearen Kausalketten zu komplexen Strukturen, vom
Konstruieren zur selbstständigen Evolution.
Durch diese
Entwicklungen verschwimmen die Grenzen zwischen 'Natürlichem' und
'Künstlichem'. Beide Sphären beginnen miteinander zu verschmelzen.
In der Medizin etwa fängt man an, mit elektronischen Bauteilen Teile
des Nervensystems zu ersetzen. Das früheste Beispiel dafür war
der Herzschrittmacher. Inzwischen wurden auch elektronische Sensoren entwickelt,
die Wahrnehmungsorgane des Menschen ersetzen. So können ehemals taube
Menschen durch die Implantation von elektronischen Ohren in ihr Nervensystem
wieder hören. Aus Mangel an Spenderorganen werden Methoden zur Züchtung
künstlicher Organe entwickelt. Bei diesem 'tissue engineering' wird
eine Tragkonstruktion aus biologisch abbaubarem Kunststoff quasi mit Zellen
besät, die sich vermehren und zusammenschließen, bis sie das
Formteil fast gänzlich ausfüllen. Schließlich wird der
Kunststoff abgebaut und das lebende Gewebe bleibt zurück .[
4 ] In der Computertechnik operiert man zunehmend mit organischen
Substanzen, die zum Beispiel als 'Biosensoren' in elektronische Geräte
eingebaut werden. 1994 entwickelte der Amerikaner Leo Adelmann den ersten
DNA-Computer, der mit Hilfe der Aminosäuresequenzen der Erbsubstanz
bestimme Typen mathematischer Probleme schneller lösen kann als irgendein
konventioneller Computer. Natur wird künstlich-technisch, Technik
wird lebendig. Die unmittelbare Verknüpfung des Lebendigen mit der
technischen Konstruktion, einst eine Phantasie der Science Fiction Filmen
mit ihren Cyborgs, ist Realität geworden.
Diese Synthese
vollzieht sich nicht nur auf der Ebene des Lebewesens, sondern auch in
deren Zusammenspiel im Ökosystem. Mit dem Aufkommen der Raumfahrt
nach dem Zweiten Weltkrieg wendet sich die Wissenschaft der Ökologie
von einer analytischen zu einer projektiven Arbeitsweise. Der Wunsch,
Lebewesen außerhalb der Biosphäre der Erde für kurze Zeiträume
Lebensmöglichkeiten zu schaffen, erfordert den Entwurf temporärer
Ökosysteme für veränderte Rahmenbedingungen. Aus diesen
ersten Ansätzen entstand die Wissenschaft von der 'Industriellen
Ökologie', deren Ziel es ist, die vom Menschen generierten Stoff-
und Energieströme in die natürlichen Kreisläufe einzufügen.
Dabei geht es nicht um eine möglichst naturnahe Produktion, sondern
um die Idee, technische Zivilisation und Natur in ein Gesamtsystem zu
integrieren.[ 5 ]
Ein einfaches
Beispiel hierfür sind die Gewächshauskulturen, bei den Blumen,
Tomaten oder andere Gemüse ohne Bodensubstrat in einer rein chemischen
Nährlösung unter künstlicher Beleuchtung und Klimatisierung
gezüchtet werden. Diese Ökosysteme sind von den externen Zyklen
der Tages- und Jahreszeit entkoppelt, was unter anderem erlaubt, den Wechsel
des Tag-Nacht-rhythmus der Pflanzen und damit ihr Wachstum zu verdoppeln.
Neben der
Agrarindustrie hat sich die Tourismusbranche zu einem wichtigen 'Naturproduzenten'
entwickelt. So wurden in den letzten Jahrzehnten eine Unzahl von Wellenbädern,
Indoor-Skipisten und Kletterhallen errichtet, um eine von Standort und
Jahreszeit unabhängige Ausübung landschaftsbezogener Sportarten
zu ermöglichen. Die künstlichen Landschaften sind nicht nur
sicherer und komfortabler als ihre natürlichen Vorbilder. Sie sind
auch veränderbar: So kann etwa in Kletterhallen die Neigung der Wände
hydraulisch variiert und durch die Veränderung der Paneelkonfiguration
eine Vielzahl unterschiedlicher Kletterrouten generiert werden. Derartige
künstliche Landschaften werden in Europa jährlich von Millionen
Menschen aufgesucht, die vielfach gar nicht mehr interessiert sind, ursprüngliche
Naturräume aufzusuchen, sondern die Intensitätssteigerung der
Simulakren bevorzugen.
In der
Nähe von Ballungszentren werden große Glasbauten errichtet,
in denen Kurzurlauber einige Tage simulierte Südsee erleben können.
Der holländische Anbieter Center Parcs betreibt inzwischen 13 solcher
Ferienzentren, die von über drei Millionen Gästen jährlich
aufgesucht werden. Auf kleinstem Raum finden sich verschiedenste Landschaften,
Attraktionen und Ereignisse - Dschungel, Felsen, Wildwasserbahn, Kletterwand,
Meer mit Sandstrand und Palmen, Lagunen und Korallenriffs ebenso wie Skipisten
zum Snowboradfahren, Schiffwracks, türkische Dampfbäder und
Whirlpools. Die Künstlichkeit ermöglicht die Verknüpfung
von Natur und Komfort, von Abenteuer und Sicherheit.[
6 ]
Die künstliche
Natur des Center Parcs ist von der Autobahn aus schnell zu erreichen,
wetterunabhängig, komfortabel und einfach konsumierbar. Zugleich
ist sie komprimiert und intensiviert: Center Parcs scheinen damit der
äußeren Natur überlegen zu sein. An die Stelle von Authentizität
und Ursprünglichkeit tritt der Wunsch nach maximaler Erlebnisintensität.
Die Tourismusforschung hat festgestellt, dass sich die Erwartungshaltung
der Konsumenten verändert und sich ein neuer Typus des Touristen
entwickelt hat. Der sogenannte 'Post-Tourist' ist nicht mehr auf der Suche
nach Authentizität, sondern versteht sich als selbstbewusster Teilnehmer
an einem Spiel, bei dem künstliche Welten wie Las Vegas, Disney World
oder die postmoderne Shopping Mall attraktiver sein können als vermeintlich
authentische Orte und Landschaften.
So konstatierte
der Ausstellungsmacher Jeffrey Deitch anlässlich einer Ausstellung
über künstliche Natur: 'Heute, wo sich die Naturwissenschaften
der Erschaffung künstlichen Lebens widmen, und Computer virtuelle
Realitäten erzeugen, und wo es mehr um Image als um Substanz geht,
ist die Suche nach Wahrheit vielleicht obsolet geworden. Es gibt keine
absolute Realität mehr, aber die Möglichkeit von multiplen Realitäten,
jede von diesen so 'real' oder künstlich wie die anderen. Das Ende
der Moderne trifft nicht nur zusammen mit dem Ende der 'Natur', sondern
auch mit dem Ende der Wahrheit.'[ 7
]
Wenn wir
uns bewusst werden, dass Natur nicht mehr etwas Gegebenes ist, sondern
etwas Gemachtes, dann hat dies einerseits einen immens befreienden Charakter.
Wir können uns alternative Naturen erdenken. Andererseits verlieren
wir mit dieser Erkenntnis den Boden unter den Füßen, weil es
keine Gewissheiten mehr gibt. Es gibt nicht mehr das Authentische, das
Selbstverständliche, das Natürliche. Dies erfordert nach Ansicht
von Vilém Flusser ein völliges Umdenken in der Politik, der
Ethik, der Wissenschaft und der Religion: 'Ich bin überzeugt, daß
wir alle Kategorien werden umdenken, wenn nicht aufzugeben haben. Es geht
dabei keinesfalls um einen Rückfall ins faschistoide biologische
Denken der blutigen jüngsten Vergangenheit, weil ja Biologie nicht
mehr als das unveränderliche Gegebene, sondern im Gegenteil als das
zu Gestaltende gesehen wird.'[ 8 ]
Die Ideale
vom Ewigen und Absoluten, von Abgrenzung und Kontrolle stehen in Frage.
Die Artefakte gewinnen ein Eigenleben. Anstelle des Ingenieurs, Künstlers
oder Autors tritt die selbstregulierende Evolution. So resümiert
der amerikanische Publizist Kevin Kelley die jüngsten Entwicklungen
von Biotechnologie und Computertechnik in seinem Buch 'Out of Control':
'Die Welt des Gemachten wird bald wie die Welt des Geborenen sein: autonom,
anpassungsfähig und kreativ, aber konsequenter Weise auch außerhalb
unserer Kontrolle.'[ 9 ]
Die Fusion
von Technik und Natur markiert die Abwendung vom mechanischen Zeitalter:
Die Fusion von Biotechnologie und Informatik stellt nicht nur das Exakte,
Standardisierte und Homogene in Frage, sondern ebenso das Kalkulierbare
und Vorhersehbare. Sie entdeckt das Amorphe, Lebendige und Unberechenbare,
das autonom Evolvierende. Es kommt zu einer Ausweitung des programmatischen,
thematischen wie formalen Kanons, der heute ebenso durch technische Konstruktionen
wie durch 'natürliche' Substanzen realisiert werden kann. Das Denken
in linearen Kausalketten wird abgelöst vom Netzdenken, das Konstruieren
durch das Evolvieren und die künstliche Evolution. Anstelle von Abgrenzung
und Trennung tritt Integration und Verknüpfung, anstelle des Wahren
das Mögliche, anstelle von Ursprünglichkeit Intensität,
anstelle von Beherrschung Intervention.
Wir stehen
am Anfang einer kulturellen, politischen wie ethischen Umwälzung,
die den Lebensalltag eines jeden von uns radikal verändern wird.
'Wir können uns an nichts mehr halten: weder an Dinge noch an uns
selber,' schreibt Flusser. 'Alle Erkenntnis und alle Werte sind Projektionen
aus einem vorübergehenden Konsensus und Freiheit besteht darin, am
Ausarbeiten des Konsensus und seinem Projizieren teilzunehmen. In flüchtigen
Momenten der Einsicht beginnen wir uns aus Untertänigkeit ins Entwerfen
aufzurichten, in vollem Bewußtsein der Tatsache, wie unbequem, gefährlich
und wenig versprechend das Abenteuer ist, auf das wir uns einlassen müssen.'[
10 ] Der niederländische Pavillon thematisiert die Künstlichkeit
von Natur. Damit verweist er einerseits auf die tiefgreifenden Veränderung,
in der wir uns befinden. Zugleich experimentiert er mit ihren Möglichkeiten
und Implikationen, zeigt mögliche Szenarien auf. Er will dazu beitragen,
dass das Entwerfen von Natur nicht Spezialisten überlassen bleibt,
sondern zu einem gesellschaftlichen Projekt wird.
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Fussnoten :
[ 1 ] Vilém Flusser: Gesten,
Versuch einer Phänomenologie, Bensheim/ Düsseldorf 1991, S.
171
[ 2 ] siehe John E. Smith, Biotechnology,
Cambridge 1996, S. 2
[ 3 ] Kevin Kelley, a.a.O., S.391ff,
Tom Ray: Evolution as Artist, in: C.Sommer, L.Mignonneau (Hg.): Art@Science,
Wien 1998, S. 81ff.
[ 4 ] R. Langer und J. Vacanti:
Künstlich gebildete Organe, in: Spektrum der Wissenschaft: Spezial
4, Schlüsseltechnologien, Heidelberg 1995, S. 80ff
[ 5 ] Kevin Kelly: Das Ende der
Kontrolle, Bollmann 1997, S. 249ff
[ 6 ] Center Parcs Katalog 97/98
der Center Parcs GmbH, Köln
[ 7 ] In: Artificial Nature, Katalog
zur gleichnamigen Ausstellung. Deste Foundation for Contemporary Art,
Athen 1990
[ 8 ] Vilém Flusser: Leben
und Leben lassen, in: Spuren Nr. 24, Juli/ August 1988, S. 19ff.
[ 9 ] Kevin Kelly, a.a.O., S. 8ff
[ 10 ] Vilém Flusser: Vom
Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, hg. v. Stefan Bollmann und Edith Flusser.
Bensheim/ Düsseldorf, S. 24ff |