Philipp Oswalt & Klaus Overmeyer & Walter Prigge | 2001
 
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   Experiment und Utopie im Stadtumbau Ostdeutschlands

Der Stadtumbau der Gegenwart steht vor einer ähnlich großen Aufgabe wie der Städtebau der siebziger Jahre. Damals wurden heruntergewirtschaftete Gründerzeitviertel abgerissen, um neue Wohnviertel vor allem des sozialen Wohnungsbaus zu errichten. Heute stehen wir vor der Situation, wiederum ganze Straßenzüge oder auch leerstehende Stadtviertel im modernen Plattenbau und aus der Gründerzeit abzureißen - allerdings nicht mit der Perspektive, sie durch Neubauten zu ersetzen, sondern als Strategie der Marktbereinigung im Wohnungsmarkt.

Internationale Bauausstellungen

Achtziger Jahre: IBA Berlin

Jene Kahlschlagsanierungen provozierten Anfang der siebziger Jahre die vom Deutschen Städtetag ausgerufene Parole 'Rettet unsere Städte jetzt!'. Sie leitete ein Umdenken im Städtebau ein, da die Folgen der Abrißsanierung derart gravierend für die Stadtstrukturen waren, daß die Gefahr ihrer Zerstörung bestand. Seitdem wird über den Erhalt und auch die Rekonstruktion der 'Europäischen Stadt' debattiert.

Hier setzte die Internationale Bauausstellung im Berlin der achtziger Jahre an. Ziel der IBA Berlin war die Rekonstruktion innerstädtischer Gründerzeitviertel, mit der die übliche Abriß-Sanierungspraxis aufgehalten und umgekehrt wurde ('Behutsame Stadterneuerung'). Zudem wurde mit neuen Bauformen des sozialen Wohnens in der Innenstadt experimentiert. Die baulichen Experimente der IBA Berlin verallgemeinerten sich in den achtziger Jahren zu der in allen Städten praktizierten Sanierung von gründerzeitlichen Stadtstrukturen, die durch massive Investitutionen erhalten und als städtischer Wohnraum wieder angeeignet werden konnten: Die achtziger Jahre waren das erste Jahrzehnt der Nachkriegszeit, das durch die Rückkehr von Bewohnern in die Innenstadt gekennzeichnet war.

Gleichzeitig sind für die achtziger Jahren jedoch auch einschneidende Prozesse der Deindustrialisierung (fortgesetzte Abwanderungen von Industrien) und neue, großmaßstäbliche Zentrenbildungen im Dienstleistungs- und vor allem im Konsumbereich zu konstatieren (Konzentration des Einzelhandels). Die Folgen für die Stadtstruktur waren einschneidend: Die Konzentration des Wachstums in der Stadtentwicklung auf einzelne große städtebauliche Projekte der Zentrenbildung von Dienstleistung und Konsum verstärkte die Fragmentierung des Stadtraumes in unverbundene Einheiten - während andere Gebiete im Stadtraum von Investitutionen vernachlässigt wurden oder gar brach fielen (Industriequartiere).

Neunziger Jahre: IBA Emscher Park

Auf diese Situation reagierte die Internationale Bauausstellung Emscher Park im Ruhrgebiet mit der wegweisenden Strategie des erhaltenden Umbaus des wesentlich aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bestandes von Fabriken und industriellen Infrastrukturen, die technologisch auf neuestem Stand umgerüstet und für neue Nutzungen wieder angeeignet wurden. Unter der Parole 'Städtebau ohne Wachstum' verallgemeinerten sich diese Experimente der IBA Emscher in den neunziger Jahren über das Ruhrgebiet hinaus zur attraktiven Strategie der Umwertung und Wiederaneignung altindustrieller Infrastrukturen, in die investiert wurde und die somit wieder in den städtischen Verwertungsprozess und in die Stadt- und Kulturlandschaften integriert wurden.

Globalisierung, soziale Differenzierungprozesse und die sich alltäglich durchsetzende Telematisierung von Information und Kommunikation führten jedoch in den neunziger Jahren gleichzeitig zu starken Suburbanisierungstendenzen (Stadtregionen) und zur überregionalen Wanderung von Arbeitskräften und Kapital (Mobilität). Die Auswirkungen auf die - vor allem ostdeutschen - Städte sind massive Schrumpfungsprozesse (Leerstand von Stadtrandsiedlungen und Gründerzeitviertel), Verinselung von Wachstumsfragmenten (Zentrenbildung vor allem am Stadtrand), schrumpfende Stadtkerne (Musealisierung) und bestandsgefährdete Stadtteile in den postindustriellen Stadt-Landschaften (Peripherien). Am Horizont steht eine posturbane Stadt neuen Typs, der die europäische Stadtform verabschiedet: die perforierte Patchwork-Stadt aus heterogenen Fragmenten geschrumpfter und verinselter Stadtviertel mit landschaftlich unstrukturierten Verbindungen.

2010: IBA STADT

Auf diese Situation reagiert die Internationale Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 [ 1 ]. Der gegenwärtige Strukturbruch in der Stadtentwicklung erfordert ein grundlegendes Umdenken, einen Paradigmawechsel in der Gestaltung der Stadt. Die IBA STADT interpretiert den Umbauprozeß grundsätzlich nicht als Dilemma, das nur einen geordneten Rückzug aus vorhandenen Beständen zuläßt, sondern als Chance zur Transformation von Städtebau und Stadtgestaltung.

'Weniger ist mehr' lautet die Parole: Der Zwang zur Konzentration auf 'wesentliche' Komponenten der Stadt schafft klare städtebauliche und nutzungsstrukturelle Profile jeder einzelnen Stadt als Voraussetzung ihrer weiteren Entwicklung - der Rückbau zwingt dazu, die Stadtfragmente auf ihre reduzierten 'Kern'-Qualitäten wie Wohnen oder Arbeiten, Konsum oder Kultur zu überprüfen.

Im Prozeß der Schrumpfung bietet die Typologie der Städteden Ausgangspunkt für das neuartige Zusammenfügen einzelner Quartiere, Städte und ihrer Regionen. Raster der Typologie sind Themen, Ausstattungen und Spezialisierungen, aus ihnen resultiert ein jeweils profiliertes 'Bild' der St - wie zum Bespiel 'Wissenschaftsstadt'(Dessau), 'Weltkulturerbestadt' (Quedlinburg, Wittenberg), 'Chemiestadt' (Bitterfeld/Wolfen), 'Freizeitstadt', 'Kulturstadt' (Halle) usw.

Typisch profilierte Städte sind die Grundlage für die Qualifizierung von Stadtteilen. 'Stadt', 'Zentrum' und 'Peripherie' sind dabei neu zu denken: Der Grundriß der (ostdeutschen) Städte folgt nicht mehr dem Muster der kompakten 'europäischen' Stadtstruktur - außer in einigen innerstädtischen Bereichen. Die 'perforierte Stadt' zerfällt in einzelne Stadtfragmente (klassizistische Reste, Gründerzeitquartier, moderne Siedlung, Industrie- und Einfamilienhausgebiete, Konsum- und Dienstleistungszentren etc.), die städtebaulich, räumlich-funktional und sozial-kulturell qualifiziert werden müssen: Was leisten die einzelnen Quartiere für die Strukturbildung der Städte? Wie ist profilierte Strukturbildung der Stadt mit inneren Peripherien und ohne Wachstum möglich?

Die sozialkulturelle Profilierung der Städte kann von außereuropäischen Modellen lernen: Wie agieren Individuen raumökonomisch z.B. in den Gemeinschaften des nordamerikanischen Stadtraumes - also in den tendenziell zu Ostdeutschland ähnlichen Raumnutzungspraktiken der dezentralisierten Stadt? Sind 'Cool Britannia'-Modelle (kulturökonomische Raumpioniere z.B. in London: Young Entrepreneurs in Kunst, Kultur und Design) übertragbar? Städte der 'Dritten Welt' funktionieren ohne Planung und mit einem hohem Maß an informellen Strukturen: Wie viel Zivilisierung ist durch neoliberale, d.h. selbstgesteuerte Marktregulierung (informelle lokale Arbeit und Märkte) möglich und wünschbar? Wie viel Autonomie ist den Nutzern/Akteuren im Umbau zuzutrauen und zu gewähren? Internationale Erfahrungen mit informellen Strukturen und Selbstregulierungen sind hier herbeizuziehen. Dazu sind die hiesigen traditionellen Sanierungsstrategien und Förderprogramme ebenso zu überprüfen wie planungsrechtliche und finanzierungstechnische Regelungen, die den gegenwärtigen Stadtumbau bestimmen.

Internationale Erfahrungen mit Substandards in Wohn- und Raumausstattungen liegen vor - als Reservoir für zukünftige Low-Cost-Nutzungen (z.B. im Plattenbau). Neben den in Ostdeutschland stark normalisierten Standards modernistischer Lebensformen sind urbane Vorstellungen von kleinräumlichen Dichten und flexiblen Mischungen zu überprüfen: Hohe Einwohnerdichte und sozialkulturelle Mischungen sind alltägliche Grenzfälle für die urbane Toleranz der homogenen sozialen Gruppen in schrumpfenden Quartieren.

Schrumpfung planen?

Traditionell geht Planung von einem Wachstum aus, bei dem planerische Eingriffe auf massiven Investitionen basieren. In Regionen mit Schrumpfung jedoch gibt es kaum Investitionen:. Die unter Wachstumsbedingungen 'automatisierten' Beziehungen zwischen Einwohnerentwicklung, Arbeitsplatzangebot und Flächenbedarf sind - unter den ostdeutschen Bedingungen der doppelten Transformation 'BRD' und 'Globalisierung' - unterbrochen und können an ein und demselben Ort nicht wieder auf traditionelle Weise verknüpft werden. Wie kann Planung hier ansetzen, wie kann sie wirksam werden?

Planung von Schrumpfung basiert auf bestehenden Ressourcen statt auf Investitionen. Am einfachsten lässt sich dieser Gegensatz mit dem Vergleich von Motor- und Segelboot erklären. Traditionelle Planung ist mit einem Motorboot vergleichbar. Mit geringer Rücksicht auf bestehende Wetterverhältnisse kann das Motorboot aufgrund künstlicher Energiezufuhr (Investition) bewegt und zu einem beliebigen Ziel gesteuert werden. Ein Segelboot hingegen benötigt keine Energiezufuhr, da es sich mit Hilfe vorhandener Ressourcen (Wind) fortbewegt. Die Steuerung des Bootes muss eng auf die Windverhältnisse abgestimmt werden. Dann ist es möglich, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Heutige Stadtplanung kann nicht den Trend der Stadtentwicklung verändern. Stadtplanung kann aber Prozesse modifizieren und qualifizieren. Die Rolle des Planers ist es, die stillliegenden Ressourcen zugänglich zu machen und durch die Herstellung von Verknüpfungen eine Dynamik zu entfachen: Wie können Leerstand und Bewohner miteinander verknüpft werden, wie Abriss und Neubau, wie Infrastruktur und Brachflächen usw.? Der Planer wird zum Ermöglicher. Er initiiert Prozesse, die sich aus eigener Energie weiter entfalten. Mit einem Minimum an Intervention kann so ein Maximum an Wirkung erzielt werden.

Potentiale ostdeutscher Städte

Die ostdeutschen Städte als empirische Felder für Umbauprojekte weisen umfangreiche Potentiale auf, an denen experimentelle Umbau-Strategien ansetzen können.

Preiswerte Wohn- und Gewerberäume

In Experimenten mit sich überlagernden privaten und öffentlichen Nutzungen kann kleinräumig 'Stadt' hergestellt werden (Verschränkung von Arbeiten und Wohnen: z.B. kulturelle Entrepreneurs als Plattenpioniere oder studentisches Wohnen und Arbeiten in leerstehenden Bauten); Existenzgründungen aller Art finden hier ihren Raum für flexible, auch temporäre Zwischen- und Umnutzungen.

Wohnen in der Innenstadt

Niedrigeres Bodenpreisniveau und innerstädtische Baulandpotentiale befördern die Rückkehr der Bewohner in die Stadt der kurzen Wege; die Mobilisierung geeigneter Grundstücke unterstützt die innerstädtische Wohneigentumsbildung, die Verknüpfung von Sanierung und Eigentumsbildung zielt auf den nutzerorientierten Bedarf. Experimente mit der Aufwertung städtischer Räume und mit der Reintegration von Einkaufszentren zielen auf die Stärkung von Kernen (EventCity).

Innerstädtische Landschaften

Die aufgelockerte Bebauung und das großzügiges Wohnumfeld erlauben kurze Wege ins Grüne und in die vielfältige Landschaft - von wilden Brachen über Parks zu traditionellen Kulturlandschaften. Experimente mit gestalterischen Innovationen in Leerräumen, Brachen und Freiflächen befördern Aneignung und Privatisierung durch Bewohner und Nutzer.

Hochwertige Ausstattungs-Standards

Die erst kürzlich erfolgten, umfassend geförderten Modernisierungen in den Dienstleistungs-, Konsum und Infrastrukturbereichen (Hotels, Restaurants, Einkaufzentren, Sportanlagen; Universitäten, Fachhochschule, Rathäuser; Verkehrs- und Telekommunikationsnetze, Stadttechnik usw.) erlauben und befördern Experimente mit telematischen Schnittstellen von virtuellen und städtischen Räumen (TeleCity) und mobilen Infrastrukturen in peripheren und strukturschwachen Räumen.

Konsensorientiertes Konfliktniveau

Das geringe Niveau von sozialer Segregation und eine gemeinschaftsorientiertere Kommunalpolitik führen zu einem gemeinsam geteilten Krisenbewußtsein, das Interessenkonflikte zugunsten des Ausgleichs von Gegensätzen minimiert. Experimente bürgerschaftlicher Mitwirkung und eigenverantwortlicher Projekte befördern die Aussicht, die Bewohner zum Bleiben zu animieren oder neue Akteure anzulocken.

Vielfältige Förderprogramme und Finanzierungsmöglichkeiten

Städtebauförderung, 'Soziale Stadt', Stadtumbauprogramm Ost, URBAN 21 sowie Arbeits- und andere Fördermittel entfalten - gebündelt - Anschubkräfte für experimentelle Umbauprojekte. Für Schlüsselvorhaben und Starterprojekte können bestehende Regelungen des Planungs- und Bauordnungsrechts modifiziert werden. Innovative Stadt-Marketingstrategien führen öffentliche und private Aktivitäten zusammen...

Städtebauliche Werkzeuge

Welche städtebaulichen Handlungsmöglichkeiten ergeben sich daraus für schrumpfende Städte - als Alternativen zu den herrschenden Modellen von 'Abwarten/Liegenlassen' oder Abreißen als Vernichtung von Wohnraumüberschüssen? Wie können bestehende Ressourcen aktiviert werden? Ein erster Werkzeugkasten mit sechs Werkzeugen zeigt grundlegende Handlungsoptionen auf [ 2 ]. Die ersten vier Werkzeuge - Extensivieren, Abreißen, Umschichten, Einfrieren - gehen von der Schrumpfung als Gegebenheit aus und zeigen Wege, wie dieser Prozeß qualifiziert werden kann. Die letzten beiden Werkzeuge 'Binden' und 'Stimulieren' beeinflussen hingegen Schrumpfung und Wachstum als parallel laufende Prozesse selbst.

Werkzeug Extensivieren

Dieses Werkzeug beruht auf der Idee, bestehende Aktivitäten über mehr Raum auszubreiten und dadurch brachgefallene Räume erneut zu besetzen, mit Nutzungen ungewöhnlich geringer Dichte und Intensität. Durch diese 'Verdünnung' entfalten sich die Programme auf neue Weise und generieren auch neue Aktivitäten.

Freiräume extensivieren: Neue Formen extensiver Nutzung aktivieren innerstädtische Brachflächen, die wieder in den alltäglich genutzten Stadtraum integriert werden und einen neuen räumlichen Zusammenhang zu den stark fragmentierten und perforierten Stadtgebieten bilden. Zu den extensiven Freiflächennutzungen gehören unter anderem: privat gepflegte, teilweise öffentlich zugängliche Flurwärtergrundstücke - Privatpersonen bekommen den Luxus größerer innerstädtischen Freiflächen unentgeltlich zur Verfügung gestellt, wenn sie sich verpflichten, diese zu pflegen und zeitweilig der Öffentlichkeit zur Verfügung zustellen; agrarische Freiräume (etwa Sonnenblumenfelder, Wiesen, Kornfelder usw.) werden durch eine Anreicherung mit Ausstattungselementen zu extensiven öffentlichen Parks: Picknickfelder, Imbissstände, Labyrinthe, Kinderbauernhof, Abenteuerspielplatz, Selbstpflückplantagen, Pferdekoppel usw... So entsteht ein neuer Typus städtischen Freiraums - ein Hybrid aus Agrarlandschaft und urbanen Nutzungen.

Gebäude extensivieren: Der vorhandene Leerstand wird unentgeltlich, d.h. allein zu den Betriebskosten, den Bewohnern zur Verfügung gestellt. Um die Vermieter nicht durch Billigkonkurrenz zusätzlich zu belasten, erfolgt die Bereitstellung nur, wenn bereits eine Wohnung zu regulären Konditionen gemietet ist bzw. sich im Eigentum der Nutzer befindet. Der zusätzliche Raum erlaubt die Ausdehnung vorhandener Nutzungen auf mehr Raum bzw. die Entwicklung neuer Nutzungen. In den typischerweise leerstehenden Erdgeschosswohnungen kann zum Beispiel Kleingewerbe als Zusatzerwerb oder als Existenzgründung Platz finden, ebenso soziales Engagement für die Nachbarschaft, ob als Angebot an Kinder, Jugendliche, Alte oder an die Allgemeinheit. Die ebenfalls oft leerstehenden Obergeschosse eignen sich insbesondere als Hobbyräume, Gästewohnungen oder für Gemeinschaftseinrichtungen der Bewohnern eines Hauses. In gleicher Weise werden die wohnungsnahen Freiflächen den Bewohner zur privaten Nutzung überlassen - ob als Gärten, zur Gemüse- und Kleintierzucht oder auch als Arbeitsmöglichkeit im Freien, Caféterrasse etc.. Auf diese Weise werden brachliegende Räume wieder einer aktiven Nutzung zugeführt. Bisher eher anonyme Strukturen entwickeln klar erkennbare Zeichen der Aneignung und bilden deutlich unterschiedliche Seiten aus, gewinnen strassenseitig eher öffentlichen, rückseitig eher privaten Charakter.

Eine Vermittlungsagentur mit Sitz in der Nachbarschaft erlaubt einen unbürokratischen Zugang zu Räumlichkeiten auch in kleinen Größeneinheiten und Zeitabschnitten. Ein solches Büro kann durch die Kommune finanziert werden und mehrere Eigentümer vertreten. Kleine bauliche Änderungen wie die Entfernung einzelner Bauteile - etwa von Fassadenelementen oder die Schaffung von Raumdurchbrüchen im Inneren sowie die Hinzufügung von 'Möbeln' wie Treppen, Terrassen und Rampen - erleichtern neue Nutzungsarten in den einst monofunktionalen Bauten. Aus homogenen Quartieren werden lebendige Stadtquartiere mit einer Vielzahl von Nutzungen. Informellen Ökonomien können den arbeitslosen Bewohnern neue Perspektiven eröffnen. Durch die Verknüpfung der Ressource Raum (Leerstand) und Zeit (Arbeitslosigkeit) entwickelt sich Eigeninitiative und eine Ökonomie von unten.

Infrastruktur extensivieren: Durch die Verringerung der Bevölkerung können gerade in Klein- und Mittelstädten sowie im ländlichen Raum wichtige Infrastrukturen und urbane Funktionen nicht mehr aufrecht erhalten werden. An die Stelle permanenter Einrichtungen können hier temporäre Angebote auf Basis einer mobilen Infrastruktur treten. Diese richten sich besonders an die weniger mobilen Teile der Bevölkerung wie Kinder, Jugendliche und alte Menschen. Hierbei ist weniger an die Grundbedürfnisse als an kulturelle Angebote und Sondernutzungen gedacht. Die mobilen Einrichtungen treten nicht nur an die Stelle wegfallender Programme, sondern können vor allem auch mit wenig Aufwand aktuelle Programme bieten. Neben mobilen Elementen bilden telematische Einrichtungen, d.h. Internetportale in Kombination mit Lieferservice und Computerausbildung sowie temporäre Events die Basis eines 'Urbanismus ohne Substanz' - Urbanism light. Somit wird die Verringerung an Masse mit einer Steigerung urbaner Lebensqualität verknüpft.

Werkzeug Abreissen

Abriss ist ein gestalterischer Akt. Die teilweise notwendige Reduzierung des Gebäudebestandes erlaubt es, neue Qualitäten in den Gebäudebestand einzuführen. Dies kann sowohl auf der Quartiersebene wie auch am Einzelgebäude geschehen. Durch Abrisse auf Stadtteilebene werden neue städtebauliche Strukturen geschaffen. Zum Beispiel werden isolierte Stadtviertel durch strategische Abrisse mit ihrer Umgebung verknüpft, homogene Quartiere erhalten Struktur und Gliederung. Teilabrisse in monotonen Baustrukturen produzieren identifizierbare Gebäudeeinheiten als 'Adressen' und ermöglichen dabei zugleich neue Wohntypen. Auf beiden Massstabsebenen führen Teilabrisse zu einer engen Verknüpfung von urbanen Gebäudetypen mit Freiräumen und verwirklichen damit neue Wohnqualitäten.

Werkzeug Umschichten

Einst intensiv genutzte innerstädtische Brachen werden durch Neubebauung von geringer Dichte reaktiviert. Der Trend zu neuen Bautypologien (wie der Wechsel von der Geschossmietwohnung zum Einfamilienhaus) wird mit Neubebauung am einstigen Standort realisiert, ohne Verlagerung in neue Stadtviertel. Damit wird bereits vorhandenes Bauland und Infrastruktur (wie Straßen, Energieversorgung oder Kitas und Schulen) recycelt und eine sozial Durchmischung der Stadtviertel erreicht. Die Neubebauung erfolgt in innovativen Bautypologien, die urbane mit suburbanen bzw. suburbane mit ruralen Qualitäten verbinden. Vorstellbar sind zum Beispiel Hybride aus Einfamilienhaus und Scheune oder Hochsitz, Hybride aus Garagen und Kleingärten, Flurwärterhäuser, also Kleinsthäuser mit großer Grundstücksfläche.

Werkzeug Einfrieren

Trends können sich mittelfristig umkehren oder ändern. Aus den USA ist bekannt, dass nach einem Exodus aus den Innenstädten während der siebziger und der ersten Hälfte der achtziger Jahre eine Wiederbelebung der Stadtzentren eingesetzt hat. Einstige Brachen und Leerstandsgebiete können nach Jahrzehnten der Depression wieder aufleben. Spezifische Standorte mit langfristigen Potentialen oder hohem kulturellen Wert, die vorübergehend keine Nutzung finden, können durch Sicherung der Bausubstanz bis zu ihrem zweiten Frühling überwintern. Neben der bautechnischen Sicherung sind gestalterische Maßnahmen wichtig, die die eingefroren Bauten zu Hoffnungsträgern des umgebenden Quartiers machen und auf dieses positiv ausstrahlen. Die Bauten und umgebenden Freiflächen werden außen mit aktiven Oberflächen versehen, die sich optisch verändern und auch genutzt werden können. Vorstellbar sind Elemente für Streetball oder Klettern, Bewuchs mit Rankpflanzen, Filmprojektionen oder Materialien mit sich änderndem Reflektionsverhalten.

Werkzeug Binden

Der Wegzug verringert sich, wenn die Bewohner aktive Gestaltungsmöglichkeiten erhalten und Wohnqualitäten im Gebäudebestand realisiert werden, die eine Alternative zu Einfamilienhäusern bieten. Den Mietern sind eigentumsähnliche Eingriffsrechte in Baustruktur und Freiraum einzuräumen, etwa zur Sanierung, Modernisierung und zum Umbau von Wohnungen oder zur Nutzung und Gestaltung der Außenanlagen. Die Mitgestaltung von Wohnung und Wohnumfeld führt zu einer starken Identifikation und Bindung an den Wohnort. Hierzu kann auch die Bildung von Bewohnereigentum beitragen - neben klassischem Einzeleigentum vor allem Vergesellschaftungsformen wie Genossenschaften oder Bürgerstadt-Aktiengesellschaften. Gezielte bauliche Eingriffe in den Bestand sowie begrenzte bauliche Ergänzungen schaffen eigenheimähnliche Qualitäten sowie neue Wohntypen für spezifische Zielgruppen. Hierzu zählen einerseits die Schaffung von zweigeschossigen Wohnräumen, individuellen Wohnungszugängen, Garagen und den Wohnungen zugeordneten Gärten, andererseits die Realisierung spezifischer Qualitäten wie Penthäuser, auskragende oder mehrgeschossige Innenräume und überdimensionierte Balkone. Die baulichen Ergänzungen erfolgen als Injektionen und Plug-Ins.

Werkzeug Stimulieren

Wenn es unter den gegebenen Rahmenbedingungen kein Wachstum mehr gibt, kann durch die Änderung von Regeln neues Wachstum stimuliert werden. Angesichts der zunehmenden Angleichung von Staats-, Rechts- und Wirtschaftssystemen im vereinten Europa und des Zeitalters der Globalisierung besteht ein Bedarf an Nischen mit besonderen Regeln für spezifische Lebensstile. Denkbar sind regional begrenzte Zonen mit Regelwerken, die ansonsten herrschende Regeln aufheben oder ergänzen, um besondere Nutzungscluster zu stimulieren: ein Global Village als Freetrade-Zone; eine High-Risk-Area mit freiem Glücksspiel, Aufhebung von Geschwindigkeitsbegrenzungen und anderen Sicherheitsregeln; ein Ökodorf mit Verbot von individuellem PKW-Verkehr, Brennstoffverbrauch und Chemikalieneinsatz; ein Nostalgiedorf mit radikalem Denkmalschutz, dem Verbot moderner Industrie und Architektur oder eine Freistadt 'Christiania', als Gebiet ohne jegliche Form von Grundeigentum. Jede dieser Inseln zieht Akteure an, welche die Areale rekolonisieren und neue Programme initiieren.

Im nationalen und europäischen Massstab stellt sich in diesem Kontext auch die Frage nach der Einwanderungspolitik: Soll das spezifisch europäische Reglement eines Zuwanderungsverbotes aufrecht erhalten werden, oder sind angesichts der in ganz Europa schrumpfenden und alternden Bevölkerung Einwanderungspolitiken zu revidieren? In klassischen Einwanderungsländern wie USA oder Brasilien haben Immigranten neue wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen stimuliert. Wir würde sich eine andere Zuwanderungspolitik auf Europa auswirken? Wo würden sich Einwanderer niederlassen? Traditionell siedeln sich Einwanderer eher in städtischen Agglomerationen an, dort zumeist im vermieteten Geschosswohnungsbestand und nicht in Eigenheimen. Zugleich kann man davon ausgehen, dass es, anders als in der Nachkriegszeit, weniger um den dauerhaften Zustrom von gering qualifizierten, sondern vielmehr um die - evtl. nur temporäre - Einwanderung von hochqualifizierten Arbeitskräften geht.

Werkzeug Szenarien

Solche Werkzeuge zeigen konkrete Handlungsmöglichkeiten in Projekten auf. Für konkrete Standorte sind mit Hilfe von Analysen der lokalen Gegebenheiten Szenarien zu entwickeln, bei denen je nach Anforderung und Möglichkeit mehrere Werkzeuge miteinander kombiniert werden.

Stadtstruktur und Leitbild

Die Städte in Ostdeutschland wiesen bis 1989 ein kompaktes Siedlungsbild auf: einerseits historische Stadtkerne und Stadtteile mit hoher Bebauungsdichte, andererseits ebenfalls kompakte Großsiedlungen des industriellen Massenwohnungsbaus. Die einzelnen Entwicklungsphasen waren deutlich abgegrenzt, mit städtebaulichen Ensembles von großer Homogenität und klaren Konturen. Seit 1989 hat sich eine doppelte Dispersion der Siedlungsstruktur vollzogen: durch die Abnahme der Nutzungsdichte im Bebauungsbestand und das Aufkommen von Neubesiedlungen mit weit geringerer Dichte. Die überkommenen Stadtstrukturen erodieren, ihre Konturen lösen sich auf. Dies stellt nicht nur das klassisch 'europäische' Stadtverständnis in Frage, sondern gefährdet auch bestehende städtische Funktionen und Qualitäten. Im Kontext heutiger gesellschaftlicher Rahmenbedingungen wird sich dieser Prozeß fortsetzen, auch wenn er durch planerische Maßnahmen modifiziert werden kann.

Wie sieht eine qualitätsvolle Stadt von geringer Dichte aus? Die neue Stadt wird ein Hybrid sein von extensivem Landschaftsraum (Prärie) und Stadt als kompakter Siedlungsform. Sie zeichnet sich durch eine kleinräumliche Durchmischung unterschiedlicher Bebauungs- und Freiraumtypen aus. Auf kleinem Raum finden sich mehrgeschossige Mietwohnhäuser neben neuartigen Eigenheimen, durchdrungen von agrarisch geprägten Freiräumen, die mit urbanen Elementen angereichert sind. Der hybride Stadtraum führt zu einer Transformation der Bebauungstypologien: Wohnungen in Gründerzeit- und Plattenbauten erhalten individuelle Zugänge, private Gärten und Erweiterungen mit Räumen für Arbeit, Freizeit und soziale Aktivitäten; Neubauten entstehen als Mischform von agrarischen und suburbanen bzw. suburbanen und urbanen Typen - etwa als Kombination von Scheune, Datscha und Landsitz mit Einfamilienhäusern.

Es entsteht eine Angebotsstadt, in der die Bewohner zwischen verschiedenen neuen und alten Wohnformen und Raumtypen wählen können. Als eine Stadt der Ränder gibt es eine Vielzahl von Übergängen zwischen dichter Bebauung, Freiräumen und extensiv besiedelten Arealen. In der Abfolge von hohen und niedrigen Bauten, von dichten, dünn besiedelten und unbebauten Gebieten entstehen kontrast- und spannungsreiche Räume.

Die Stadt wird zu einem dynamischen System, in dem immer wieder Areale brach fallen, rekolonisiert und intensiviert werden. Während einige Programme sich zurückziehen und sich räumlich auf Kerne konzentrieren, dehnen sich andere aus und besetzen leerstehende Räume. Es entsteht eine urbane Dreifelderwirtschaft, in der Brachen nicht Zeichen des Verlustes, sondern Zonen des Zukünftigen sind. Die Bewohner werden hierbei zu urbanen Pionieren, die leerstehende Räume kolonisieren, neue Programme initiieren und die Stadt aktiv mitgestalten. Das große Raumangebot erlaubt neue Nutzungsformen, die sich frei entfalten können. Die 'Präriestadt' ist eine Stadt des Experiments, die offen ist für das Neue und das Andere.

Das Experimentelle, das alle Internationalen Bauausstellungen teilen, ist besonders wichtig für den Umbau Ost, da hier mehrere strukturelle Problemlagen zusammentreffen (Gesellschafts- und Bevölkerungspolitik, nationale Einigungs- und regionale Entwicklungspolitik etc.), aus denen partielle Blockierungen von überdeterminierten Problemen resultieren. Angesichts dieser Situation hat das Experimentieren im Rahmen der Sonderform 'Internationale Bauausstellung' einen Aspekt von Utopie: Es ist möglich, Blockierungen zu durchbrechen und zu wegweisenden Lösungen zu kommen. Internationale Bauausstellungen sind 'urbane Transformations-Labors', Räume für Experimente und der Hoffnung, daß es Lösungen gibt, die in eine andere Zukunft weisen.


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Fussnoten :
[ 1 ] Die Internationale Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt 2010 wird nach Absicht der Landesregierung von der Stiftung Bauhaus Dessau organisiert ('IBA STADT '), im März 2002 ihre Arbeit aufnehmen und etwa 15 bis 20 Projekte des experimentellen Stadtumbaus in Sachsen-Anhalt bis 2010 verwirklichen.
[ 2 ]vgl. ausführlicher die Studie von P. Oswalt und K. Overmeyer für die Stiftung Bauhaus Dessau (2001) 'Weniger ist mehr'
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