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Der Stadtumbau der Gegenwart steht vor einer ähnlich großen
Aufgabe wie der Städtebau der siebziger Jahre. Damals wurden heruntergewirtschaftete
Gründerzeitviertel abgerissen, um neue Wohnviertel vor allem des
sozialen Wohnungsbaus zu errichten. Heute stehen wir vor der Situation,
wiederum ganze Straßenzüge oder auch leerstehende Stadtviertel
im modernen Plattenbau und aus der Gründerzeit abzureißen -
allerdings nicht mit der Perspektive, sie durch Neubauten zu ersetzen,
sondern als Strategie der Marktbereinigung im Wohnungsmarkt.
Internationale Bauausstellungen
Achtziger Jahre: IBA Berlin
Jene Kahlschlagsanierungen
provozierten Anfang der siebziger Jahre die vom Deutschen Städtetag
ausgerufene Parole 'Rettet unsere Städte jetzt!'. Sie leitete ein
Umdenken im Städtebau ein, da die Folgen der Abrißsanierung
derart gravierend für die Stadtstrukturen waren, daß die Gefahr
ihrer Zerstörung bestand. Seitdem wird über den Erhalt und auch
die Rekonstruktion der 'Europäischen Stadt' debattiert.
Hier setzte die Internationale Bauausstellung im Berlin der achtziger
Jahre an. Ziel der IBA Berlin war die Rekonstruktion innerstädtischer
Gründerzeitviertel, mit der die übliche Abriß-Sanierungspraxis
aufgehalten und umgekehrt wurde ('Behutsame Stadterneuerung'). Zudem wurde
mit neuen Bauformen des sozialen Wohnens in der Innenstadt experimentiert.
Die baulichen Experimente der IBA Berlin verallgemeinerten sich in den
achtziger Jahren zu der in allen Städten praktizierten Sanierung
von gründerzeitlichen Stadtstrukturen, die durch massive Investitutionen
erhalten und als städtischer Wohnraum wieder angeeignet werden konnten:
Die achtziger Jahre waren das erste Jahrzehnt der Nachkriegszeit, das
durch die Rückkehr von Bewohnern in die Innenstadt gekennzeichnet
war. Gleichzeitig
sind für die achtziger Jahren jedoch auch einschneidende Prozesse
der Deindustrialisierung (fortgesetzte Abwanderungen von Industrien) und
neue, großmaßstäbliche Zentrenbildungen im Dienstleistungs-
und vor allem im Konsumbereich zu konstatieren (Konzentration des Einzelhandels).
Die Folgen für die Stadtstruktur waren einschneidend: Die Konzentration
des Wachstums in der Stadtentwicklung auf einzelne große städtebauliche
Projekte der Zentrenbildung von Dienstleistung und Konsum verstärkte
die Fragmentierung des Stadtraumes in unverbundene Einheiten - während
andere Gebiete im Stadtraum von Investitutionen vernachlässigt wurden
oder gar brach fielen (Industriequartiere).
Neunziger Jahre: IBA Emscher Park
Auf diese
Situation reagierte die Internationale Bauausstellung Emscher Park im
Ruhrgebiet mit der wegweisenden Strategie des erhaltenden Umbaus des wesentlich
aus dem 19. Jahrhundert stammenden Bestandes von Fabriken und industriellen
Infrastrukturen, die technologisch auf neuestem Stand umgerüstet
und für neue Nutzungen wieder angeeignet wurden. Unter der Parole
'Städtebau ohne Wachstum' verallgemeinerten sich diese Experimente
der IBA Emscher in den neunziger Jahren über das Ruhrgebiet hinaus
zur attraktiven Strategie der Umwertung und Wiederaneignung altindustrieller
Infrastrukturen, in die investiert wurde und die somit wieder in den städtischen
Verwertungsprozess und in die Stadt- und Kulturlandschaften integriert
wurden.
Globalisierung, soziale Differenzierungprozesse und die sich alltäglich
durchsetzende Telematisierung von Information und Kommunikation führten
jedoch in den neunziger Jahren gleichzeitig zu starken Suburbanisierungstendenzen
(Stadtregionen) und zur überregionalen Wanderung von Arbeitskräften
und Kapital (Mobilität). Die Auswirkungen auf die - vor allem ostdeutschen
- Städte sind massive Schrumpfungsprozesse (Leerstand von Stadtrandsiedlungen
und Gründerzeitviertel), Verinselung von Wachstumsfragmenten (Zentrenbildung
vor allem am Stadtrand), schrumpfende Stadtkerne (Musealisierung) und
bestandsgefährdete Stadtteile in den postindustriellen Stadt-Landschaften
(Peripherien). Am Horizont steht eine posturbane Stadt neuen Typs, der
die europäische Stadtform verabschiedet: die perforierte Patchwork-Stadt
aus heterogenen Fragmenten geschrumpfter und verinselter Stadtviertel
mit landschaftlich unstrukturierten Verbindungen.
2010: IBA STADT
Auf diese
Situation reagiert die Internationale Bauausstellung Stadtumbau Sachsen-Anhalt
2010 [ 1 ]. Der gegenwärtige
Strukturbruch in der Stadtentwicklung erfordert ein grundlegendes Umdenken,
einen Paradigmawechsel in der Gestaltung der Stadt. Die IBA STADT interpretiert
den Umbauprozeß grundsätzlich nicht als Dilemma, das nur einen
geordneten Rückzug aus vorhandenen Beständen zuläßt,
sondern als Chance zur Transformation von Städtebau und Stadtgestaltung.
'Weniger
ist mehr' lautet die Parole: Der Zwang zur Konzentration auf 'wesentliche'
Komponenten der Stadt schafft klare städtebauliche und nutzungsstrukturelle
Profile jeder einzelnen Stadt als Voraussetzung ihrer weiteren Entwicklung
- der Rückbau zwingt dazu, die Stadtfragmente auf ihre reduzierten
'Kern'-Qualitäten wie Wohnen oder Arbeiten, Konsum oder Kultur zu
überprüfen.
Im Prozeß der Schrumpfung bietet die Typologie der Städteden
Ausgangspunkt für das neuartige Zusammenfügen einzelner Quartiere,
Städte und ihrer Regionen. Raster der Typologie sind Themen, Ausstattungen
und Spezialisierungen, aus ihnen resultiert ein jeweils profiliertes 'Bild'
der St - wie zum Bespiel 'Wissenschaftsstadt'(Dessau), 'Weltkulturerbestadt'
(Quedlinburg, Wittenberg), 'Chemiestadt' (Bitterfeld/Wolfen), 'Freizeitstadt',
'Kulturstadt' (Halle) usw.
Typisch profilierte Städte sind die Grundlage für die Qualifizierung
von Stadtteilen. 'Stadt', 'Zentrum' und 'Peripherie' sind dabei neu zu
denken: Der Grundriß der (ostdeutschen) Städte folgt nicht
mehr dem Muster der kompakten 'europäischen' Stadtstruktur - außer
in einigen innerstädtischen Bereichen. Die 'perforierte Stadt' zerfällt
in einzelne Stadtfragmente (klassizistische Reste, Gründerzeitquartier,
moderne Siedlung, Industrie- und Einfamilienhausgebiete, Konsum- und Dienstleistungszentren
etc.), die städtebaulich, räumlich-funktional und sozial-kulturell
qualifiziert werden müssen: Was leisten die einzelnen Quartiere für
die Strukturbildung der Städte? Wie ist profilierte Strukturbildung
der Stadt mit inneren Peripherien und ohne Wachstum möglich?
Die sozialkulturelle Profilierung der Städte kann von außereuropäischen
Modellen lernen: Wie agieren Individuen raumökonomisch z.B. in den
Gemeinschaften des nordamerikanischen Stadtraumes - also in den tendenziell
zu Ostdeutschland ähnlichen Raumnutzungspraktiken der dezentralisierten
Stadt? Sind 'Cool Britannia'-Modelle (kulturökonomische Raumpioniere
z.B. in London: Young Entrepreneurs in Kunst, Kultur und Design) übertragbar?
Städte der 'Dritten Welt' funktionieren ohne Planung und mit einem
hohem Maß an informellen Strukturen: Wie viel Zivilisierung ist
durch neoliberale, d.h. selbstgesteuerte Marktregulierung (informelle
lokale Arbeit und Märkte) möglich und wünschbar? Wie viel
Autonomie ist den Nutzern/Akteuren im Umbau zuzutrauen und zu gewähren?
Internationale Erfahrungen mit informellen Strukturen und Selbstregulierungen
sind hier herbeizuziehen. Dazu sind die hiesigen traditionellen Sanierungsstrategien
und Förderprogramme ebenso zu überprüfen wie planungsrechtliche
und finanzierungstechnische Regelungen, die den gegenwärtigen Stadtumbau
bestimmen.
Internationale Erfahrungen mit Substandards in Wohn- und Raumausstattungen
liegen vor - als Reservoir für zukünftige Low-Cost-Nutzungen
(z.B. im Plattenbau). Neben den in Ostdeutschland stark normalisierten
Standards modernistischer Lebensformen sind urbane Vorstellungen von kleinräumlichen
Dichten und flexiblen Mischungen zu überprüfen: Hohe Einwohnerdichte
und sozialkulturelle Mischungen sind alltägliche Grenzfälle
für die urbane Toleranz der homogenen sozialen Gruppen in schrumpfenden
Quartieren.
Schrumpfung planen?
Traditionell
geht Planung von einem Wachstum aus, bei dem planerische Eingriffe auf
massiven Investitionen basieren. In Regionen mit Schrumpfung jedoch gibt
es kaum Investitionen:. Die unter Wachstumsbedingungen 'automatisierten'
Beziehungen zwischen Einwohnerentwicklung, Arbeitsplatzangebot und Flächenbedarf
sind - unter den ostdeutschen Bedingungen der doppelten Transformation
'BRD' und 'Globalisierung' - unterbrochen und können an ein und demselben
Ort nicht wieder auf traditionelle Weise verknüpft werden. Wie kann
Planung hier ansetzen, wie kann sie wirksam werden?
Planung von Schrumpfung basiert auf bestehenden Ressourcen statt auf Investitionen.
Am einfachsten lässt sich dieser Gegensatz mit dem Vergleich von
Motor- und Segelboot erklären. Traditionelle Planung ist mit einem
Motorboot vergleichbar. Mit geringer Rücksicht auf bestehende Wetterverhältnisse
kann das Motorboot aufgrund künstlicher Energiezufuhr (Investition)
bewegt und zu einem beliebigen Ziel gesteuert werden. Ein Segelboot hingegen
benötigt keine Energiezufuhr, da es sich mit Hilfe vorhandener Ressourcen
(Wind) fortbewegt. Die Steuerung des Bootes muss eng auf die Windverhältnisse
abgestimmt werden. Dann ist es möglich, ein bestimmtes Ziel zu erreichen.
Heutige
Stadtplanung kann nicht den Trend der Stadtentwicklung verändern.
Stadtplanung kann aber Prozesse modifizieren und qualifizieren. Die Rolle
des Planers ist es, die stillliegenden Ressourcen zugänglich zu machen
und durch die Herstellung von Verknüpfungen eine Dynamik zu entfachen:
Wie können Leerstand und Bewohner miteinander verknüpft werden,
wie Abriss und Neubau, wie Infrastruktur und Brachflächen usw.? Der
Planer wird zum Ermöglicher. Er initiiert Prozesse, die sich aus
eigener Energie weiter entfalten. Mit einem Minimum an Intervention kann
so ein Maximum an Wirkung erzielt werden.
Potentiale ostdeutscher Städte
Die ostdeutschen
Städte als empirische Felder für Umbauprojekte weisen umfangreiche
Potentiale auf, an denen experimentelle Umbau-Strategien ansetzen können.
Preiswerte Wohn- und Gewerberäume
In Experimenten
mit sich überlagernden privaten und öffentlichen Nutzungen kann
kleinräumig 'Stadt' hergestellt werden (Verschränkung von Arbeiten
und Wohnen: z.B. kulturelle Entrepreneurs als Plattenpioniere oder studentisches
Wohnen und Arbeiten in leerstehenden Bauten); Existenzgründungen
aller Art finden hier ihren Raum für flexible, auch temporäre
Zwischen- und Umnutzungen.
Wohnen in der Innenstadt
Niedrigeres
Bodenpreisniveau und innerstädtische Baulandpotentiale befördern
die Rückkehr der Bewohner in die Stadt der kurzen Wege; die Mobilisierung
geeigneter Grundstücke unterstützt die innerstädtische
Wohneigentumsbildung, die Verknüpfung von Sanierung und Eigentumsbildung
zielt auf den nutzerorientierten Bedarf. Experimente mit der Aufwertung
städtischer Räume und mit der Reintegration von Einkaufszentren
zielen auf die Stärkung von Kernen (EventCity).
Innerstädtische Landschaften
Die aufgelockerte
Bebauung und das großzügiges Wohnumfeld erlauben kurze Wege
ins Grüne und in die vielfältige Landschaft - von wilden Brachen
über Parks zu traditionellen Kulturlandschaften. Experimente mit
gestalterischen Innovationen in Leerräumen, Brachen und Freiflächen
befördern Aneignung und Privatisierung durch Bewohner und Nutzer.
Hochwertige Ausstattungs-Standards
Die erst
kürzlich erfolgten, umfassend geförderten Modernisierungen in
den Dienstleistungs-, Konsum und Infrastrukturbereichen (Hotels, Restaurants,
Einkaufzentren, Sportanlagen; Universitäten, Fachhochschule, Rathäuser;
Verkehrs- und Telekommunikationsnetze, Stadttechnik usw.) erlauben und
befördern Experimente mit telematischen Schnittstellen von virtuellen
und städtischen Räumen (TeleCity) und mobilen Infrastrukturen
in peripheren und strukturschwachen Räumen.
Konsensorientiertes Konfliktniveau
Das geringe
Niveau von sozialer Segregation und eine gemeinschaftsorientiertere Kommunalpolitik
führen zu einem gemeinsam geteilten Krisenbewußtsein, das Interessenkonflikte
zugunsten des Ausgleichs von Gegensätzen minimiert. Experimente bürgerschaftlicher
Mitwirkung und eigenverantwortlicher Projekte befördern die Aussicht,
die Bewohner zum Bleiben zu animieren oder neue Akteure anzulocken.
Vielfältige Förderprogramme und Finanzierungsmöglichkeiten
Städtebauförderung,
'Soziale Stadt', Stadtumbauprogramm Ost, URBAN 21 sowie Arbeits- und andere
Fördermittel entfalten - gebündelt - Anschubkräfte für
experimentelle Umbauprojekte. Für Schlüsselvorhaben und Starterprojekte
können bestehende Regelungen des Planungs- und Bauordnungsrechts
modifiziert werden. Innovative Stadt-Marketingstrategien führen öffentliche
und private Aktivitäten zusammen...
Städtebauliche Werkzeuge
Welche
städtebaulichen Handlungsmöglichkeiten ergeben sich daraus für
schrumpfende Städte - als Alternativen zu den herrschenden Modellen
von 'Abwarten/Liegenlassen' oder Abreißen als Vernichtung von Wohnraumüberschüssen?
Wie können bestehende Ressourcen aktiviert werden? Ein erster Werkzeugkasten
mit sechs Werkzeugen zeigt grundlegende Handlungsoptionen auf [
2 ]. Die ersten vier Werkzeuge - Extensivieren, Abreißen, Umschichten,
Einfrieren - gehen von der Schrumpfung als Gegebenheit aus und zeigen
Wege, wie dieser Prozeß qualifiziert werden kann. Die letzten beiden
Werkzeuge 'Binden' und 'Stimulieren' beeinflussen hingegen Schrumpfung
und Wachstum als parallel laufende Prozesse selbst.
Werkzeug Extensivieren
Dieses
Werkzeug beruht auf der Idee, bestehende Aktivitäten über mehr
Raum auszubreiten und dadurch brachgefallene Räume erneut zu besetzen,
mit Nutzungen ungewöhnlich geringer Dichte und Intensität. Durch
diese 'Verdünnung' entfalten sich die Programme auf neue Weise und
generieren auch neue Aktivitäten.
Freiräume extensivieren: Neue Formen extensiver Nutzung aktivieren
innerstädtische Brachflächen, die wieder in den alltäglich
genutzten Stadtraum integriert werden und einen neuen räumlichen
Zusammenhang zu den stark fragmentierten und perforierten Stadtgebieten
bilden. Zu den extensiven Freiflächennutzungen gehören unter
anderem: privat gepflegte, teilweise öffentlich zugängliche
Flurwärtergrundstücke - Privatpersonen bekommen den Luxus größerer
innerstädtischen Freiflächen unentgeltlich zur Verfügung
gestellt, wenn sie sich verpflichten, diese zu pflegen und zeitweilig
der Öffentlichkeit zur Verfügung zustellen; agrarische Freiräume
(etwa Sonnenblumenfelder, Wiesen, Kornfelder usw.) werden durch eine Anreicherung
mit Ausstattungselementen zu extensiven öffentlichen Parks: Picknickfelder,
Imbissstände, Labyrinthe, Kinderbauernhof, Abenteuerspielplatz, Selbstpflückplantagen,
Pferdekoppel usw... So entsteht ein neuer Typus städtischen Freiraums
- ein Hybrid aus Agrarlandschaft und urbanen Nutzungen.
Gebäude extensivieren: Der vorhandene Leerstand wird unentgeltlich,
d.h. allein zu den Betriebskosten, den Bewohnern zur Verfügung gestellt.
Um die Vermieter nicht durch Billigkonkurrenz zusätzlich zu belasten,
erfolgt die Bereitstellung nur, wenn bereits eine Wohnung zu regulären
Konditionen gemietet ist bzw. sich im Eigentum der Nutzer befindet. Der
zusätzliche Raum erlaubt die Ausdehnung vorhandener Nutzungen auf
mehr Raum bzw. die Entwicklung neuer Nutzungen. In den typischerweise
leerstehenden Erdgeschosswohnungen kann zum Beispiel Kleingewerbe als
Zusatzerwerb oder als Existenzgründung Platz finden, ebenso soziales
Engagement für die Nachbarschaft, ob als Angebot an Kinder, Jugendliche,
Alte oder an die Allgemeinheit. Die ebenfalls oft leerstehenden Obergeschosse
eignen sich insbesondere als Hobbyräume, Gästewohnungen oder
für Gemeinschaftseinrichtungen der Bewohnern eines Hauses. In gleicher
Weise werden die wohnungsnahen Freiflächen den Bewohner zur privaten
Nutzung überlassen - ob als Gärten, zur Gemüse- und Kleintierzucht
oder auch als Arbeitsmöglichkeit im Freien, Caféterrasse etc..
Auf diese Weise werden brachliegende Räume wieder einer aktiven Nutzung
zugeführt. Bisher eher anonyme Strukturen entwickeln klar erkennbare
Zeichen der Aneignung und bilden deutlich unterschiedliche Seiten aus,
gewinnen strassenseitig eher öffentlichen, rückseitig eher privaten
Charakter.
Eine Vermittlungsagentur mit Sitz in der Nachbarschaft erlaubt einen unbürokratischen
Zugang zu Räumlichkeiten auch in kleinen Größeneinheiten
und Zeitabschnitten. Ein solches Büro kann durch die Kommune finanziert
werden und mehrere Eigentümer vertreten. Kleine bauliche Änderungen
wie die Entfernung einzelner Bauteile - etwa von Fassadenelementen oder
die Schaffung von Raumdurchbrüchen im Inneren sowie die Hinzufügung
von 'Möbeln' wie Treppen, Terrassen und Rampen - erleichtern neue
Nutzungsarten in den einst monofunktionalen Bauten. Aus homogenen Quartieren
werden lebendige Stadtquartiere mit einer Vielzahl von Nutzungen. Informellen
Ökonomien können den arbeitslosen Bewohnern neue Perspektiven
eröffnen. Durch die Verknüpfung der Ressource Raum (Leerstand)
und Zeit (Arbeitslosigkeit) entwickelt sich Eigeninitiative und eine Ökonomie
von unten.
Infrastruktur extensivieren: Durch die Verringerung der Bevölkerung
können gerade in Klein- und Mittelstädten sowie im ländlichen
Raum wichtige Infrastrukturen und urbane Funktionen nicht mehr aufrecht
erhalten werden. An die Stelle permanenter Einrichtungen können hier
temporäre Angebote auf Basis einer mobilen Infrastruktur treten.
Diese richten sich besonders an die weniger mobilen Teile der Bevölkerung
wie Kinder, Jugendliche und alte Menschen. Hierbei ist weniger an die
Grundbedürfnisse als an kulturelle Angebote und Sondernutzungen gedacht.
Die mobilen Einrichtungen treten nicht nur an die Stelle wegfallender
Programme, sondern können vor allem auch mit wenig Aufwand aktuelle
Programme bieten. Neben mobilen Elementen bilden telematische Einrichtungen,
d.h. Internetportale in Kombination mit Lieferservice und Computerausbildung
sowie temporäre Events die Basis eines 'Urbanismus ohne Substanz'
- Urbanism light. Somit wird die Verringerung an Masse mit einer Steigerung
urbaner Lebensqualität verknüpft.
Werkzeug Abreissen
Abriss
ist ein gestalterischer Akt. Die teilweise notwendige Reduzierung des
Gebäudebestandes erlaubt es, neue Qualitäten in den Gebäudebestand
einzuführen. Dies kann sowohl auf der Quartiersebene wie auch am
Einzelgebäude geschehen. Durch Abrisse auf Stadtteilebene werden
neue städtebauliche Strukturen geschaffen. Zum Beispiel werden isolierte
Stadtviertel durch strategische Abrisse mit ihrer Umgebung verknüpft,
homogene Quartiere erhalten Struktur und Gliederung. Teilabrisse in monotonen
Baustrukturen produzieren identifizierbare Gebäudeeinheiten als 'Adressen'
und ermöglichen dabei zugleich neue Wohntypen. Auf beiden Massstabsebenen
führen Teilabrisse zu einer engen Verknüpfung von urbanen Gebäudetypen
mit Freiräumen und verwirklichen damit neue Wohnqualitäten.
Werkzeug Umschichten
Einst intensiv
genutzte innerstädtische Brachen werden durch Neubebauung von geringer
Dichte reaktiviert. Der Trend zu neuen Bautypologien (wie der Wechsel
von der Geschossmietwohnung zum Einfamilienhaus) wird mit Neubebauung
am einstigen Standort realisiert, ohne Verlagerung in neue Stadtviertel.
Damit wird bereits vorhandenes Bauland und Infrastruktur (wie Straßen,
Energieversorgung oder Kitas und Schulen) recycelt und eine sozial Durchmischung
der Stadtviertel erreicht. Die Neubebauung erfolgt in innovativen Bautypologien,
die urbane mit suburbanen bzw. suburbane mit ruralen Qualitäten verbinden.
Vorstellbar sind zum Beispiel Hybride aus Einfamilienhaus und Scheune
oder Hochsitz, Hybride aus Garagen und Kleingärten, Flurwärterhäuser,
also Kleinsthäuser mit großer Grundstücksfläche.
Werkzeug Einfrieren
Trends
können sich mittelfristig umkehren oder ändern. Aus den USA
ist bekannt, dass nach einem Exodus aus den Innenstädten während
der siebziger und der ersten Hälfte der achtziger Jahre eine Wiederbelebung
der Stadtzentren eingesetzt hat. Einstige Brachen und Leerstandsgebiete
können nach Jahrzehnten der Depression wieder aufleben. Spezifische
Standorte mit langfristigen Potentialen oder hohem kulturellen Wert, die
vorübergehend keine Nutzung finden, können durch Sicherung der
Bausubstanz bis zu ihrem zweiten Frühling überwintern. Neben
der bautechnischen Sicherung sind gestalterische Maßnahmen wichtig,
die die eingefroren Bauten zu Hoffnungsträgern des umgebenden Quartiers
machen und auf dieses positiv ausstrahlen. Die Bauten und umgebenden Freiflächen
werden außen mit aktiven Oberflächen versehen, die sich optisch
verändern und auch genutzt werden können. Vorstellbar sind Elemente
für Streetball oder Klettern, Bewuchs mit Rankpflanzen, Filmprojektionen
oder Materialien mit sich änderndem Reflektionsverhalten.
Werkzeug Binden
Der Wegzug
verringert sich, wenn die Bewohner aktive Gestaltungsmöglichkeiten
erhalten und Wohnqualitäten im Gebäudebestand realisiert werden,
die eine Alternative zu Einfamilienhäusern bieten. Den Mietern sind
eigentumsähnliche Eingriffsrechte in Baustruktur und Freiraum einzuräumen,
etwa zur Sanierung, Modernisierung und zum Umbau von Wohnungen oder zur
Nutzung und Gestaltung der Außenanlagen. Die Mitgestaltung von Wohnung
und Wohnumfeld führt zu einer starken Identifikation und Bindung
an den Wohnort. Hierzu kann auch die Bildung von Bewohnereigentum beitragen
- neben klassischem Einzeleigentum vor allem Vergesellschaftungsformen
wie Genossenschaften oder Bürgerstadt-Aktiengesellschaften. Gezielte
bauliche Eingriffe in den Bestand sowie begrenzte bauliche Ergänzungen
schaffen eigenheimähnliche Qualitäten sowie neue Wohntypen für
spezifische Zielgruppen. Hierzu zählen einerseits die Schaffung von
zweigeschossigen Wohnräumen, individuellen Wohnungszugängen,
Garagen und den Wohnungen zugeordneten Gärten, andererseits die Realisierung
spezifischer Qualitäten wie Penthäuser, auskragende oder mehrgeschossige
Innenräume und überdimensionierte Balkone. Die baulichen Ergänzungen
erfolgen als Injektionen und Plug-Ins.
Werkzeug Stimulieren
Wenn es
unter den gegebenen Rahmenbedingungen kein Wachstum mehr gibt, kann durch
die Änderung von Regeln neues Wachstum stimuliert werden. Angesichts
der zunehmenden Angleichung von Staats-, Rechts- und Wirtschaftssystemen
im vereinten Europa und des Zeitalters der Globalisierung besteht ein
Bedarf an Nischen mit besonderen Regeln für spezifische Lebensstile.
Denkbar sind regional begrenzte Zonen mit Regelwerken, die ansonsten herrschende
Regeln aufheben oder ergänzen, um besondere Nutzungscluster zu stimulieren:
ein Global Village als Freetrade-Zone; eine High-Risk-Area mit freiem
Glücksspiel, Aufhebung von Geschwindigkeitsbegrenzungen und anderen
Sicherheitsregeln; ein Ökodorf mit Verbot von individuellem PKW-Verkehr,
Brennstoffverbrauch und Chemikalieneinsatz; ein Nostalgiedorf mit radikalem
Denkmalschutz, dem Verbot moderner Industrie und Architektur oder eine
Freistadt 'Christiania', als Gebiet ohne jegliche Form von Grundeigentum.
Jede dieser Inseln zieht Akteure an, welche die Areale rekolonisieren
und neue Programme initiieren.
Im nationalen und europäischen Massstab stellt sich in diesem Kontext
auch die Frage nach der Einwanderungspolitik: Soll das spezifisch europäische
Reglement eines Zuwanderungsverbotes aufrecht erhalten werden, oder sind
angesichts der in ganz Europa schrumpfenden und alternden Bevölkerung
Einwanderungspolitiken zu revidieren? In klassischen Einwanderungsländern
wie USA oder Brasilien haben Immigranten neue wirtschaftliche, gesellschaftliche
und kulturelle Entwicklungen stimuliert. Wir würde sich eine andere
Zuwanderungspolitik auf Europa auswirken? Wo würden sich Einwanderer
niederlassen? Traditionell siedeln sich Einwanderer eher in städtischen
Agglomerationen an, dort zumeist im vermieteten Geschosswohnungsbestand
und nicht in Eigenheimen. Zugleich kann man davon ausgehen, dass es, anders
als in der Nachkriegszeit, weniger um den dauerhaften Zustrom von gering
qualifizierten, sondern vielmehr um die - evtl. nur temporäre - Einwanderung
von hochqualifizierten Arbeitskräften geht.
Werkzeug Szenarien
Solche
Werkzeuge zeigen konkrete Handlungsmöglichkeiten in Projekten auf.
Für konkrete Standorte sind mit Hilfe von Analysen der lokalen Gegebenheiten
Szenarien zu entwickeln, bei denen je nach Anforderung und Möglichkeit
mehrere Werkzeuge miteinander kombiniert werden.
Stadtstruktur und Leitbild
Die Städte
in Ostdeutschland wiesen bis 1989 ein kompaktes Siedlungsbild auf: einerseits
historische Stadtkerne und Stadtteile mit hoher Bebauungsdichte, andererseits
ebenfalls kompakte Großsiedlungen des industriellen Massenwohnungsbaus.
Die einzelnen Entwicklungsphasen waren deutlich abgegrenzt, mit städtebaulichen
Ensembles von großer Homogenität und klaren Konturen. Seit
1989 hat sich eine doppelte Dispersion der Siedlungsstruktur vollzogen:
durch die Abnahme der Nutzungsdichte im Bebauungsbestand und das Aufkommen
von Neubesiedlungen mit weit geringerer Dichte. Die überkommenen
Stadtstrukturen erodieren, ihre Konturen lösen sich auf. Dies stellt
nicht nur das klassisch 'europäische' Stadtverständnis in Frage,
sondern gefährdet auch bestehende städtische Funktionen und
Qualitäten. Im Kontext heutiger gesellschaftlicher Rahmenbedingungen
wird sich dieser Prozeß fortsetzen, auch wenn er durch planerische
Maßnahmen modifiziert werden kann.
Wie sieht eine qualitätsvolle Stadt von geringer Dichte aus? Die
neue Stadt wird ein Hybrid sein von extensivem Landschaftsraum (Prärie)
und Stadt als kompakter Siedlungsform. Sie zeichnet sich durch eine kleinräumliche
Durchmischung unterschiedlicher Bebauungs- und Freiraumtypen aus. Auf
kleinem Raum finden sich mehrgeschossige Mietwohnhäuser neben neuartigen
Eigenheimen, durchdrungen von agrarisch geprägten Freiräumen,
die mit urbanen Elementen angereichert sind. Der hybride Stadtraum führt
zu einer Transformation der Bebauungstypologien: Wohnungen in Gründerzeit-
und Plattenbauten erhalten individuelle Zugänge, private Gärten
und Erweiterungen mit Räumen für Arbeit, Freizeit und soziale
Aktivitäten; Neubauten entstehen als Mischform von agrarischen und
suburbanen bzw. suburbanen und urbanen Typen - etwa als Kombination von
Scheune, Datscha und Landsitz mit Einfamilienhäusern.
Es entsteht eine Angebotsstadt, in der die Bewohner zwischen verschiedenen
neuen und alten Wohnformen und Raumtypen wählen können. Als
eine Stadt der Ränder gibt es eine Vielzahl von Übergängen
zwischen dichter Bebauung, Freiräumen und extensiv besiedelten Arealen.
In der Abfolge von hohen und niedrigen Bauten, von dichten, dünn
besiedelten und unbebauten Gebieten entstehen kontrast- und spannungsreiche
Räume.
Die Stadt wird zu einem dynamischen System, in dem immer wieder Areale
brach fallen, rekolonisiert und intensiviert werden. Während einige
Programme sich zurückziehen und sich räumlich auf Kerne konzentrieren,
dehnen sich andere aus und besetzen leerstehende Räume. Es entsteht
eine urbane Dreifelderwirtschaft, in der Brachen nicht Zeichen des Verlustes,
sondern Zonen des Zukünftigen sind. Die Bewohner werden hierbei zu
urbanen Pionieren, die leerstehende Räume kolonisieren, neue Programme
initiieren und die Stadt aktiv mitgestalten. Das große Raumangebot
erlaubt neue Nutzungsformen, die sich frei entfalten können. Die
'Präriestadt' ist eine Stadt des Experiments, die offen ist für
das Neue und das Andere.
Das Experimentelle, das alle Internationalen Bauausstellungen teilen,
ist besonders wichtig für den Umbau Ost, da hier mehrere strukturelle
Problemlagen zusammentreffen (Gesellschafts- und Bevölkerungspolitik,
nationale Einigungs- und regionale Entwicklungspolitik etc.), aus denen
partielle Blockierungen von überdeterminierten Problemen resultieren.
Angesichts dieser Situation hat das Experimentieren im Rahmen der Sonderform
'Internationale Bauausstellung' einen Aspekt von Utopie: Es ist möglich,
Blockierungen zu durchbrechen und zu wegweisenden Lösungen zu kommen.
Internationale Bauausstellungen sind 'urbane Transformations-Labors',
Räume für Experimente und der Hoffnung, daß es Lösungen
gibt, die in eine andere Zukunft weisen.
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