Philipp Oswalt | 2001
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'Formlosigkeit' & 'automatischer Urbanismus'

In der Ausgabe 04 von Zone 7 erschien eine Kritik von Dieter Hoffmann-Axthelm an meinem Buch 'Berlin_Stadt ohne Form' sowie eine Antwort auf diesen Artikel von Werner Sewing. Der eine spricht dabei von 'infantilem Gemaule', der andere von 'Nachhutgefechten', mithin plakativen Begriffen, um die Arbeit als überflüssig oder lästig zu deklarieren. Dieter Hoffmann-Axthelm schlägt gleich mehrere Bücher vor, die ich statt dem geschriebenen hätte schreiben sollen. Und beide Texte zeichnen sich vor allem darin aus, die eigentlichen Thesen des Buches zu umgehen und stattdessen veraltete Argumentationsmuster hervorzukramen, um mir vorzuhalten: Formalismus, Abfeiern des Chaos, Ignoranz des Sozialen.
Ein Teil der Kritik richtet sich gegen die Begriffe vom 'Formlosigkeit' und 'automatischer Urbanismus'. Wie sind diese zu verstehen?
'Formlos' ist ein paradoxer Begriff. Natürlich hat alles, was existiert, eine Form. Doch der Begriff des Formlosen meint nicht die völlige Abwesenheit von Form, sondern die Nicht-Intentionalität von Form. Bezogen auf Berlin meint es, das die Stadt als physisches Gebilde relativ wenig von Stadtplanung im eigentlichen Sinne geprägt ist, sondern in ungewöhnlichem Maße von den Nebenwirkungen anderer Prozesse -militärischen, politischen, ökonomischen oder technologischen (These 1). Dies ist natürlich auch in anderen Städten der Fall, doch durch seine spezifische Geschichte ist Berlin ein besonders deutlicher Prototyp, und damit ein dankbares Studienobjekt.
Und hierauf bezieht sich auch der Begriff des Automatischen Urbanismus: Das Buch plädiert nicht - im Gegensatz zur Unterstellung von Dieter Hoffmann-Axthelm - für den Verzicht auf Stadtplanung, sondern für eine andere Stadtplanung. Der 'automatische Urbanismus' ist kein stadtplanerisches Konzept, sondern ein Modell zur Beschreibung real stattfindender Stadtentwicklung, mithin eine Bestandsaufnahme. Die These vom automatischen Urbanismus (These 2) meint zudem, dass die nicht-intendierten Prozesse der Stadtentwicklung kein willkürliches Chaos erzeugen, sondern dass sich in der Formlosigkeit sehr wohl spezifische Phänomene, Muster und Strukturen herausarbeiten lassen. Darauf baut These 3 des Buches auf, die postuliert, dass unintendierte Stadtentwicklung nicht a priori gut oder schlecht ist. In den neun Essays wird versucht, die potentiellen Qualitäten jeweils eines identifizierten Phänomens in Hinsicht auf Form, Struktur, Gebrauch und Bedeutung herauszuarbeiten.
Wird damit Städtebau überflüssig? Das Konzept von Planung ist - schon seit Jahrzehnten - in eine Krise geraten ist. Mit der Architekturbewegung der klassischen Moderne entstand Anfang des 20. Jh. das Konzept einer modernen Stadtplanung mit dem Wunsch, für alle Gesellschaftsschichten gute Lebensverhältnisse sicherzustellen. Die städtebauliche Zielsetzung war mit einer sozialistischen Gesellschaftsvorstellung verknüpft. Nach zunächst moderat-reformerischen Ansätzen radikalisierten sich die Ideen in den 30er Jahren zu Konzepten einer totalen Planung, wie etwa Corbusiers Entwürfe für eine Stadt von 3 Millionen Einwohnern oder Ludwig Hilberseimers Planungen für den völligen Neubau von Washington und Chicago. Man meinte, nach rationalen Prinzipien eine gute Stadt vom Großen bis zum Kleinen durchplanen zu können, in einer zeitlosen und damit ewigen Form und in der Gesamtheit der Stadt.
Auch wenn dieses Planungsverständnis bald innerhalb der modernen Bewegung deutlich kritisiert wurde, setzte sich ein solches in den Nachkriegsjahrzehnten allgemein durch und dominierte bis in die siebziger Jahre. Mit der Kritik der Moderne fiel in den späten 80er Jahren die Abkehr von sozialgesellschaftlichen Politikmodellen zusammen. Im Zeitalter des Neoliberalismus zielt Politik nicht mehr auf den Ausgleich zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen und der Sicherstellung einer gleichwertigen Raumentwicklung, sondern Ziel ist die Stimulierung privater Investitionen. Damit zielt Stadtplanung mehr auf Standortpolitik, Stadtmarketing und damit der Schaffung guter Investitionsbedingungen. Eine solche Planungspolitik hat nurmehr die kapitalstarken, zahlungsfähigen Bevölkerungsschichten im Auge. Typisch ist für sie die Public-Private-Partnership.
Sie manifestiert sich räumlich in einem 'Inselurbanismus': investitionsrelevante Standorte werden als 'Projekte' geplant, die dazwischenliegenden Territorien verschwinden aus dem öffentlichen Bewußtsein. Beispielhaft für den Inselurbanismus sind in Berlin Projekte wie der Potsdamer Platz, Alexanderplatz, Adlershof oder auch die Wohnparks in der Peripherie wie Karow Nord oder Potsdam Kirchsteigfeld. Selbst das Planwerk Innenstadt stellt eine solche Insel dar - die der für das Stadtimage wie finanzstarken Investitionen wichtige 'Downtown'. Es entstehen Enklaven, in denen alles bis hin zum letzten perfiden Detail geplant ist, etwa der Beeinflussung des Kaufverhaltens durch Farben, Musik oder den Bodenbelag. Typisch für diese Planungsinseln sind auch die Privatisierung der quasi-öffentlichen Räume und deren elektronische Überwachung. Die Territorien dazwischen, etwa der äußere Mietshausgürtel, die Siedlungen der zwanziger bis 80er Jahre, oder auch die disperse Neuansiedlungen seit den 90er Jahren im Umland bleiben außen vor. Ist dies die einzig denkbare Konsequenz eines Scheitern der 'Totalen Planung'? Sind wir nicht mehr in der Lage, gesamträumlich zu denken und zu agieren?
Dies wäre fatal. In den letzten zehn Jahren sind unter anderem 100.000 Einfamilienhäuser im Berliner Umland entstanden - ohne übergeordnete planerische Konzepte, die diesen Prozess qualifizieren, während man seit Jahren über das lächerliche Planwerk streitet. Also während einerseits das Hauptbaugeschehen ungeplant erfolgt, versucht man verzweifelt, für eine ideologisch herbeigesehnte, aber an bestehenden Bedürfnissen vorbeigehende Stadtentwicklung Investoren zu finden. Vergeblich, da es tendenziell ein Überschuss an Mietwohnungen und einen Mangel an Eigenheimen gibt, die Berliner Bevölkerung tendenziell schrumpft und die vorgesehenen Wohnbaustandorte unattraktiv sind, da zumeist stark immisionsbelastet. Der Weg des Inselurbanismus zieht aus dem Scheitern der totalen Planung die Konsequenz des Rückzugs in der Fläche: Nur noch kleine Bereiche der Stadt planen, dies jedoch mit zunehmender Perfektion. Der Rest wird seiner Eigendynamik überlassen.
Was wäre die Alternative hierzu? Den Blick auf das Gesamtterritorium der Stadt zu bewahren, aber dabei anzuerkennen, dass man nur begrenzt Einfluss nehmen kann. Ein exemplarisches Beispiel für eine solche Strategie der begrenzten Kontrolle finden sich in der Berliner Planungsgeschichte. Die Freiraumplanung für die Berliner Region, vom Zweckverband Großberlin 1915 begonnen und vom Stadtbaurat Martin Wagner in den 20er Jahren fortgeführt, ist Beispiel einer solchen großräumlichen begrenzten Intervention: Mit dem Kauf des Grunewald, des Tegler, Spandauer, Grünauer und Köpenicker Forsst durch die Kommunen wurden diese dauerhaft als Grünräume gesichert und von Bebauung freigehalten - wohl die intelligenteste und erfolgreichste stadtplanerische Maßnahme der letzten 100 Jahre in Berlin. Die Stadtplanungspraxis in Barcelona in den 80er und 90er Jahren ist ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Die Planungen für Olympia wurden als Chance genutzt, durch strategische Eingriffe die Stadt als Ganzes weiterzuentwickeln. Anstatt inselhaft ein olympisches Dorf anzulegen, wurden die neuen Programme auf mehrer Stadtteile verteilt, wobei vor allem Problemgebiete bedacht wurden, um diese aufzuwerten. Zugleich wurde eine neue gesamtstädtische Infrastruktur und ein Flickenteppich von Grünräumen angelegt. Nach erfolgreicher Umsetzung wurde dieser Planungsansatz in die Region ausgeweitet.
Auch O.M.A.'s bekannter Entwurf für Mélun-Senart ist ein Modell einer begrenzten Planung - für die Neuplanung einer Stadt. Eine schwache Planung, die die Tatsache zur Kenntnis nimmt, dass wir Stadtentwicklung nicht völlig kontrollieren können. Die den 'automatischen Urbanismus' unserer freiheitlichen Gesellschaft akzeptiert und durch gezielte Eingriffe versucht, Qualitäten zu erzeugen oder sicherzustellen. Wer ein solches Konzept einer begrenzten Kontrolle - wie Hoffmann Axthelm - als Kapitulation vor dem Chaos bezeichnet und auf dem Inselurbanismus des Berliner Planwerks beharrt, scheint die reale Stadtentwicklung in Berlin und anderswo nicht zur Kenntnis nehmen zu wollen oder zu können.
Ein Generationswechsel tut dringend not. Es ist ermüdend, immer wieder mit den gleichen alten Klischees konfrontiert zu werden. Es ist eine totgelaufene, unfruchtbare Diskussion. Endlich wackeln in Berlin die politischen Seilschaften des alten Westberlins (wenn auch leider nur vorübergehend); hoffen wir, dass die architektonischen Seilschaften auch bald wackeln. Bis heute ist die Berliner Baupolitik und Architekturdiskussion von der Westberliner Clique der 70er und 80er Jahre bestimmt - ob als Politiker, Architekten, Theoretiker oder Kritiker. Eine Generation, die selten über den Tellerrand der Berliner Mauer hinausgeschaut hat und die nicht in der Lage zu sein scheint, sich selbst zu erneuern oder einer schon bereits präsenten jüngeren Generation, die - vielfach von Erfahrungen im Ausland geprägt - einen offeneren Geist vertritt, den ihr zustehen Platz einzuräumen. Daher täte ein Stadtbaurat von außen, ob z.B. aus München, Zürich, Wien, oder Barcelona, der Stadt gut.

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Philipp Oswalt

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Quelle : http://www.oswalt.de/de/text/txt/urbanautom_p.html